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Deutschland, Deutschland...

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X-MAL DEUTSCHLAND. Von Rudolf Walter Leonhardt. Verlag R. Piper & Co., München, 1961. 534 S. Prei 19.80DM.

Beginnen wir mit einer Vorstellun freundlichen Neides: Wir besitzen in Un für Österreich kein Buch, dis dieser Deutschlandbuch von R. W. Leonhard auch nur einigermaßen vergleichbar wän Wie not es uns täte! Warum? Hier setz sich ein Mann mittleren Jahrgangs sachlic und mutig, sorgfältig und überlegen, seh kritisch und liebend mit der Vielfalt voi Phänomenen auseinander, die heute in un um die beiden Deutschland als „deutsch1 angesprochen, denunziert, geehrt, gefürch tet, bewundert, gehaßt — und übersehei werden. Das ist die allerstärkste Leistun] dieses Deutschlandbuches: die Beobach tung und Registrierung der so verschieden artigen Verhältnisse in diesem Deutsch land nach 194$. Nennen wir nur einig! der dreiundsechzig Kapitel, um die Füll der Themen und Probleme anzudeuten „Zehnmal deutsche Presse“; „Kleine So ziologie des Dollpunktes“ („... es gib kein Land der Welt mit soviel innerlicl Verwundeten“): „Bonn — die verfemti Metropole“; „Berlin — die gebrocheni Hauptstadt“; „Auf der Flucht von Deutsch land nach Deutschland“: „Mitteldeutsch land: das rote Sparta“; „Als Professor in Leip-zig“; „Als Professor in Heidelberg“; „Fa-milienbetrieb oder Betriebsfamilie“: „Zehn, bis elfmal Bundesrepublik“; „Die Gret chenfrage auf katholisch“: „Protestmüdei Protestantismus“; „Steht der Geist links?“ „Es gibt keinen deutschen Antisemitismus“, und, als letztes: „Deutschland! Platz in der Welt“.

Lconhardt rahmt seine Untersuchungen Reiseberichte, Beobachtungen und Urteil eingangs durch ein ..Deutsches Sündenregister“ und abschließend durch ein( nachdenkliche Bemerkung ein. Im Sündenregister untersucht er sieben Vorwürfe, die den Deutschen nicht selten gemach) werden. 1. Die Deutschen sind rücksichtslos gegen Schwächere. 2. Die Deutschen haben viel Mitleid mit sich selber und wenig mit anderen; Liebe zur Menschheit, Humanität also, ist ihnen fremd. 3. Di Deutschen sind arrogant, solange sie können; wenn sie es nicht mehr können, schlägt die Arroganz in kriecherische Unterwürfigkeit um. 4. Die Deutschen verherrlichen den Krieg. 5. Die Deutschen leben in Extremen: hirnverbrannter Idealismus oder krassester Materialismus, uniformierte Dumpfheit oder überzüchtete intellektuelle Unverbindlichkeit. 6. Die Deutschen kennen kci*e wirkliche Freiheit — und wollen sie auch gar nicht. 7. Die Deutschen werden nie Demokraten sverden, sondern immer Untertanen bleiben.

Antwort, vielfältige, vielfarbige, reich-Jifferenzierte Antwort auf diese Vorwürfe ribt das Buch. Mitten durch die Schlag-worte und Simplifikationen hindurch führt ts ins Leben, in das Leben in allen schichten, Alters- und Rangklassen, in den mch mental so verschiedenen deutschen tädten, Orten, Landschaften, Ländern, Zonen. Und Leonhardt ichließt seinen kri-isch-liebenden Reisebericht durch die eiden Deutschland wieder mit einem Blick ton außen: „Sind sie denn wirklich iebenswert: die Provinzeuropäer und 4albgroßindustriellen, die in irgendeinem Schweizer Hotel sich selber nur als Mittel->unkt und ,das Personal' nur als etwas Vnzubrüllendes begreifen können? Die ^tohelden, die, dauernd fahrbahnwech-:elnd, rücksichtslos jeden Vorteil wahr-lehmen und sich dabei großartig vorkom-nen? Die Pseudomutigen, die aus geducker Haltung zu überhöhter Arroganz imporwachsen, wo sie sicrier sind, daß hnen niemand auf die Finger klopft? Die elbstgerechten Freiheitsapostel, die sich elber für unfehlbar halten und die wichigste aller menschlichen Freiheiten nie-nandem gönnen wollen; die Freiheit, sich :u irren: Sind sie denn wirklich alle, alle iebenswert? Je nun ...“

In diesem „Je nun“ und seinen drei 'unkten steckt die Essenz, in geradezu nglischem Understatement ver-orgen (Leonhardt hat auch ein Buch e-chrieben: „Siebenundsiebzigmal England“): a, sie sind alle, fast alle, auch liebenswert: als Menschen, die sich schwer und eicht* ihr Geld verdienen, arbeiten, sich ;erreißen und zerreisen, über sich selbst, iber Gott und Welt recht im unklaren ind ...

„Was fürchten wir in Deutschland am neisten? Der Zufriedene: den Krieg; der arrivierte: den Verlust des Erworbenen; ler Jude: den Antisemitismus; der Europäer: den Nationalismus; der kalte Krie--er: Ost-West-Kontakte; der Ost-West-Jeutsche: den kalten Krieg; der Agnosti-cer: den .Meinungstenor der katholischen Cirche'; der fromme Katholik: das Her-•inbrechen eines atheistischen Materiahs-nus; der Engagierte: neutralistische Ten-lenzen; der liberale Demokrat: eine anti-communistische Diktatur; viele Ostdeut-iche: den Militarismus der Bundesrepublik; lie meisten Westdeutschen: die Welt-■robeningspläne des Kommunismus - mit einen Unterschieden. An den russischen Kommunismus haben sie sich gewöhnt, den polnischen finden sie schon beinahe erträglich, aber den deutschen Kommunismus

in der DDR, den hassen sie wie sonst nichts auf der Welt“ (S. 64 f.). Wie viele Dramen und Tragödien stecken allein in diesen hier aufgezählten zwölf Ängsten und Angstgruppen, ja Haßgruppen ... (Wie sieht es in Österreich aus, unter der Decke der „Freundlichkeit“, Gleichgültigkeit, Sattheit?)

Die knappen, aber inhaltsreichen Ausführungen über den deutschen Konfessionalismus, über deutsche Katholiken und Protestanten heute, führen in einige der schwersten Verwundungen ein. „Auf der Oberfläche wird durch Partys und Public relations die Wahrheit vertuscht: daß Katholizismus und Protestantismus heute noch genauso unversöhnliche Gegensätze sind wie im 16. Jahrhundert — und jeden Tag kann die Wahrheit durchbrechen in einer Eruption, bei der mindestens die deutsche Regierungspartei in die Luft ginge“ (S. 374). „Die Leute, auf die es wirklich ankommt, die etwa hundert oder tausend Träger der Macht, sind sich, auch ohne daß das ausgesprochen werden müßte, als zynische Opportunisten einig darüber, daß das Christentum und manche seiner Bräuche und Gebote als Fassade noch immer recht brauchbar sind; sie glauben aber gar nicht wirklich, daß es eine jenseitige Instanz gibt, vor der sie ihr Wirken im Diesseits verantworten müßten, und noch viel weniger glauben sie, daß diese Instanz genauso aussieht, wie sie dem Christen offenbart worden ist.“

In dieser Machtwelt wächst eine Jugend

heran, die Angebote, Reize und Möglichkeiten hat wie nie zuvor eine Jugend in dieser Welt.

„Bei uns werden auch 165 Theater mit zusammen 136.000 Plätzen subventioniert, und doch fiele es sogar einem recht optimistischen Betrachter der jungen deutschen Literatur schwer, einen jüngeren deutschen Dramatiker zu nennen, auf dessen neues Stück wir gespannt warteten ...“ (S. 463).

Eine Seite zuvor stehen die Sätze: „Einer der vier großen amerikanischen Romanciers, und zwar der verbindlichste von ihnen, der so harmlos erscheint, daß er sogar die Lehrpläne deutscher Gymnasien zieren darf, John Steinbeck, sagte öffentlich und im Ausland (!) über seine republikanische Regierung: Sie hat das Dummsein sozusagen gesellschaftsfähig gemacht. Solche Hinweise haben sich die meisten deutschen Schriftsteller bisher entgehen lassen.“

Vieles in diesem Deutschlandbericht erinnert, mahnend, an ähnliche Verhältnisse in Österreich. Vieles, sehr vieles ist aber auch ganz unvergleichbar: zuerst und zuletzt die schwere Verwundung durch die Teilung und Trennung in die „zwei Deutschland“. Wie reich, wie seelisch gesund könnten wir — dieser Reflex stellt sich unmittelbar nach der Lektüre ein — in Österreich sein, wenn wir weniger scheinsatt, weniger falsch-zufrieden und falschunzufrieden, weniger selbstmitlcidig, weniger provinziell und etwas weltoffener wären.

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