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Deutschland — heute

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Qui non vidit Coloniam, non vidit Ger-maniam — wer Köln nicht gesehen, hat Deutschland nicht gesehen — so hieß es einstmals, und über alle Schrecken und Zerstörungen der Kriegsjahre hinweg hat sich dieses Wort seine, nun aber bittere, Wahrheit mit einer geradezu erschütternden Aktualität bewahrt: Wer Deutschlands Ruin ermessen will, muß über die kilometerweiten Trümmerfelder Kölns gegangen sein. Wo einst sich das enge winkelige Häusergewirr der größten aller deutschen Altstädte ausbreitete, dehnen sich heute endlose Ruinenfelder; zahllose mittelalterliche Kirchen und Bürgerhäuser, einstens stolze Zeugen uralter Geschichte, liegen jetzt in Schutt; frühere Straßenzüge sind kaum noch zu erkennen, nur schmale Pfade durchfurchen die riesigen Schutthalden, aus denen schon meterhohes Gebüsch wuchert, als läge die Zeit dieser furchtbaren Zerstörungen schon wieder Jahrzehnte zurück. Der einst die unzähligen Türme der Stadt überragende mächtige Dom — heute selbst mit schweren Wunden geschlagen — ist einsam geworden; zu seinen Füßen breitet sich keine lebensfrohe blühende Stadt mehr aus, und der benachbarte Rhein, einst Inbegriff drängenden Lebens, glänzt mit gleißender leerer Fläche, die nur von den gegen Himmel starrenden riesigen Brückenwracks durchbrochen wird. Immer wieder fragt man sich nach den Wohnstätten und dem eigentlichen Ziel, dem diese wie leblose Schatten durch die Trümmer hastenden Menschen zustreben, bis man sie dann hinter notdürftig mit verbeulten Blechen verstellten Kellerlöchern verschwinden sieht.

Qui vidit Coloniam, vidit Germaniam. Stadt um Stadt in Deutschland bietet heute das gleiche Bild: Zerstörung, und nur ganz wenige blieben von der Kriegsfurie verschont; niemand weiß heute, was einmal aus diesen gigantischen Trümmerstätten emporwachsen wird und wieviele Jahrzehnte vergehen müssen, bis neue Städte auf den Ruinen der alten erstanden sind, wenn überhaupt sie je sich wieder an ihren alten Plätzen erheben werden. Wie hat sich das Bild Deutschlands verändert, und anders als es gemeint war, ist das Wort Hitlers vom Nichtwiedererkennen der deutschen Städte erschreckende Wirklichkeit geworden.

Es ist aber doch schon vieles geschehen, wenn es auch nur, wie es ein deutscher Politiker selbst bezeichnete, ein „Stopfen der Löcher mit Löchern“ ist Wie es nicht anders sein kann, fehlt in diesem emsigen Treiben und Werken das organische Wachstum, und was da ist, zeigt steigende Aufsplitterung, die zuweilen groteske Formen annimmt. So hat in der östlichen Zone beinahe jede größere Stadt eigene Briefmarken; Marken der Stadtpost Apolda zu fünf und sechs Reichspfennig sah man in Leipziger Geschäften mit Preisen bis zu 95 Reichsmark ausgestellt. Erfreuliche Ansätze einer Lebens-erneüerung sind zu erkennen, aber auch Merkmale eines ungesunden geistigen Klimas. Man begegnet nicht wenigen Männern, die sich noch immer nicht von ihren alten Uniformstücken trennen, erkennbar aus einer gewissen inneren Haltung. Viele andere scheinen im Andrang der alltäglichen Lebensnot unempfindlich geworden gegenüber Erörterungen über die Schuldfrage; getrieben von den Sorgen um Arbeit, Brot, Unterkunft und Wärme, wollen sie nichts hören von Schuld und Vergangenheit, man ist nicht betroffen von der Weltgeschichte unr1 will endlich aufhören zu leiden und heraus aus dem Elend, man will leben und nicht nachdenken. Nur in kleineren verantwortungsbewußten Kreisen finden Rufer, die Klarheit in die Gesinnung tragen, verpflichtendes Echo, und Worte etwa, wie sie Karl Jaspers vor Studenten gesprochen, sind Bausteine zu einem künftigen Deutschland:

„ . . . Dazu gehört, daß wir uns nicht berauschen in Gefühlen des Stolzes, der Verzweiflung, der Empörung, des Trotzes der Radie, der Verachtung, sondern daß wir diese Gefühle auf Eis legen und sehen, was wirklich ist. Wir müssen solche Gefühle suspendieren um das Wahre zu erblicken, um liebend in der Welt zu sein.“

Zeitungen und Zeitschriiten sind heute infolge der Papierknappheit begehrte „Mangelware“. Die Auflagen sind durchschnittlich so gering, daß nur wenige Abonnenten auf „Bezugscheine“ ihre Zeitung erhalten. Gegenüber 3300 Zeitungen im Jahre 1933 gab es im April 1946 einschließlich Berlin nur 195 Blätter, davon entfielen allein 143 auf die drei westlichen Zonen; die Zahl ist inzwischen etwas angestiegen, vor allem auch in der östlichen Zone infolge der kürzlich stattgefundenen Wahlen. Vor kurzem haben auf Vorschlag der amerikanischen Militärverwaltung die drei westlichen Zonen ein Abkommen über den freien Austausch von Nachriditen, Zeitungen und Druckschriften innerhalb ihrer Gebiete abgeschlossen; die Einfuhr von Druckwerken aus der östlichen in die amerikanische Zone ist seit Mitte September gesperrt. Neuen Auftrieb erhält das deutsche Geistesleben durch eine in den letzten Monaten schnell ansteigende Zeitschriftenpresse, die allerdings ein noch stark unterschiedliches Niveau aufweist. Über dem Durchschnitt stehendes geistiges Profil zeigen vor allem die eben bei Herder in schönem Gewände neuerschienenen „Stimmen der Zeit“, dann „Die Wandlung“, die bei Lambert Schneider in Heidelberg erscheint, und die von ehemaligen Mitarbeitern der „Frankfurter Zeitung“ in Freiburg i. Br. herausgegebene „Gegenwart“, wenngleich ein durchgehend beherrschender Plan in der Gestaltung dieser letzteren Zeitschrift noch nicht völlig klar sichtbar geworden ist. In Berlin erscheint schon seit längerer Zeit der „Aufbau“ als Organ des in sämtlichen Teilen des Landes tätigen „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Bin Nachahmer des einstigen „Simplizissimus“ (der nun auch im alten Kleid in München wieder zu neuem Leben erweckt wurde) ist der Berliner „Ulenspiegel“, geleitet von Günther Weisenborn, dessen Bühnenstück „Die Illegalen“, das den Kampf der deutschen Widerstandsbewegung schildert, kürzlich uraufgeführt wurde.

Im Schnittpunkt des allgemeinen Interesses stehen soziale, verfassungs- und parteipolitische Probleme. Selbst innerhalb der einzelnen Parteien stoßen die Auffassungen über einen zukünftigen föderalistischen oder zentralen Aufbau Deutschlands aufeinander. Im Süden, wo neuerdings in der von der Pickelhaube befreiten Polizeiuniform die Ablehnung des preußischen Militarismus auch schon äußerlich zum Ausdruck gebracht wird, besonders aber in Bayern, macht sich andauernd ' die starke Los-von-Berlin-Bewegung bemerkbar, die kürzlich ein Berliner Blatt mit einer bissigen Glosse zu paraphrasieren versuchte: Bayern beabsichtige in den übrigen deutschen Ländern diplomatische Vertretungen einzurichten.

Die offizielle Parteipolitik wird meist von Leuten aus der Ära vor 1933 betrieben, auffallend ist — wie auch auf anderen Gebieten — der Ausfall der Jugend innerhalb des politischen Lebens. Es spiegelt sich darin immer deutlicher eine Gefahr des neuen Deutschlands, in zwei einander nicht mehr verstehende Generationen zerklüftet zu werden. Diese kritischen Disharmonien lassen sich besonders deutlich an den Hochschulen beobachten; der Andrang zu diesen nimmt zwar in steigendem Maße von Semester zu Semester zu, so daß man an verschiedenen Universitäten neuerdings die Aufnahme in besonders überfüllte Fächer von speziellen Eignungsprüfungen abhängig machte. . Größere Studentenorganisationen und -verbände gibt es noch nicht, nur engere lokalgebundene Arbeitsgemeinschaften oder Studentenklubs nach westlichen Vorbildern bestehen an einigen Hochschulen, die dann auch periodische Schriften herausgeben, unter denen der Heidelberger „Diogenes“ sich zunehmender Beliebtheit erfreut.

Bei einem nicht unansehnlichen Teil der Studentenschaft jedoch, deren einstige Zugehörigkeit zum Offizierskorps und der HJ man immer noch erkennen kann, zeigt sidi als Fluch und Erbe der Gleichschaltung und Dressur des Dritten Reiches eine geistige

Starrheit; im Gespräch begegnet man oftmals jenem unliebsamen kakschnautzigen Ton, der gegenüber der Bereitschaft zu eigenem Denken die Neigung verrät, lieber nadi gleichsam in Schlagzeilen plakatierten fertigen Meinungen zu greifen. Die Lehrer, teilweise aus der Emigration und freiwilligem Schweigen an ihre alten Plätze zurückgekehrt, haben gegenüber der Arroganz dieser jungen Menschen einen schweren Stand. Von Worten, wie sie Jaspers vor Heidelberger Studenten ausgesprochen, wünscht man, daß sie bald in die Tiefe und Breite dringen.

„Ich verstehe dies Mißtrauen bei jedem jungen Menschen, der in den letzten zwölf Jahren in dieser Umwelt zum Bewußtsein erwacht ist . . . Aber ich bitte Sie: hüten Sie sich vor dem vorzeitigen Sdiluß, von diesen (den Lehrern) würde jetzt das Gegenteil des eben noch Gültigen gelehrt; man rede ja genau so wie vorher, nur umgekehrt; was vorher verherrlicht wurde, das werde jetzt bekämpft; was vorher bekämpft wurde, das werde jetzt verherrlicht. In jedem Falle, gestern wie heute, sei die Lehre politisch erzwungen, also keine eigentliche Wahrheit... Aber ich bitte Sie, im Gang Ihres Studiums sich für die Möglichkeit offenzuhalten, daß es jetzt anders ist, daß es sich jetzt doch wirklich um Wahrheit handle. Der Anspruch geht an Si selbst, daß jeder für sich an seiner Stelle mitwirke, daß Wahrheit offenbar werde.“ Einen breiten Raum im öffentlichen Leben nehmen vor allem die Veranstaltungen der kirchlichen Gemeinschaften ein. Hier ertönt am mächtigsten und mutigsten der Ruf zur sittlichen Erneuerung des Lebens.

Es sei wegen seines besonderen symbolhaften Charakters hieher ein Beispiel gesetzt: Freiburg, das als eine der wenigen deutschen Städte seinem gotischen Münster die ursprüngliche mittelalterliche Umwelt bis in die Tage dieses Krieges hinein bewahren konnte, versammelte durch viele Wochen hindurch täglich Tausende zu eindrucksvollen Passionsspielen vor den Toren seines Münsters, das nun einsam aus der gänzlich zerstörten Altstadt emporragt. An-gesidns des schmerzlichen Kontrastes . der gespenstisch wirkenden Ruinenfelder und Brandstätten und des wie durch ein Wunder unversehrt gebliebenen Münsters erhob sich das erschütternde Spiel zu einem Mahnmal, das den Heimgesuchten mit unvergeßlicher Stimme das Augustinuswort entgegenruft: „Lebt recht und ihr ändert die Zeiten!“

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