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Deutschland in der Kelter

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Wer Deutschland heute sieht, staunt über die Fortschritte, die es auf dem Wege zu seiner politischen und wirtschaftlichen Souveränität in so raschem Tempo zurückzulegen vermochte; er empfindet dann bei der Lektüre der deutschen Presse, peinlich betroffen, den Kontrast zwischen diesen Erfolgen und der Atmosphäre des Mißtrauens, der Mißgunst, tendenziösen Kritik, von der Deutschlands erfolgreicher Kanzler sich umgeben sieht. Der unbefangene Beobachter wird feststellen, daß sich seit 1948 ungeheuer viel geändert hat, daß der Wiederaufbau manchenorts die optimistischesten Voraussagen überholt und die zahlreichen düsteren widerlegt hat. Denn wer etwa vermerkt, daß „noch immer“ soundsoviel Prozent der Städte in Trümmern liegen und so viel Millionen Wohnungen fehlen, der denkt wahrscheinlich nicht daran, daß er noch 1948 gewiß noch unter denen war, die erklärten oder es ohne Einschränkung glaubten, daß der Wiederaufbau mindestens 25 Jahre dauern und daß wir in 30 Jahren noch lange nicht genug Wohnungen haben werden. Freilich, wer hinter^ die Kulissen blickt, wer die Fülle der Gaststätten, Kinos, Vergnügungsparks, Zeitschriften, vor allem freilich von Illustrierten und Magazinen, sieht, das ganze Milieu von breit aufgetragener bürgerlicher Behäbigkeit und oft von kapitalistischem Protzentum, der wird eine Kehrseite der Medaille und Chiffren entdecken, die man entziffern muß, wenn man das Geheimnis des deutschen Nihilismus, der gefährlichen Kontraste zwischen Erfolgen und Unzufriedenheit, Wiederaufstieg zur Großmacht und Stek-kenbleiben in einem vorgestrigen Nationalismus, zwischen Adenauers staatsmännischer Größe und der politischen Kleingeisterei enträtseln will.

Gemeint ist hier nicht der Gegensatz der sozialen Gruppen, von dem in der sozialistischen und der Gewerkschaftspropaganda viel gesprochen und geschrieben wird. Die auf die Steuergesetze der Alliierten zurückgehende Finanzpolitik läßt einen normalen Wohlstand nicht entstehen, ohne verhindern zu können, daß eine Schichte von Wäh-rungsgewinnem und Zwischenhändlern und sehr glücklichen Großunternehmern entstanden ist. Eine objektive Kritik muß aber auch mit Bedauern feststellen, daß auch die Gewerkschaften kaum etwas dazu getan haben, zur Einsicht in die Zwangslage eines besiegten und halbierten Landes zu erziehen, das exportieren oder verhungern muß. TAfenn die oberen Zehntausend Millionen verschleudern und verschieben, so fehlt es doch auch in den breiten Massen am Willen zum Sparen. Alles fordert, alles droht, niemand will verzichten, alle halten den Staat für einen Wunderquell, aus dem der Finanzminister Milliarden strömen läßt, ohne daß man sich je zu kümmern braucht, welche Wasser diesen Brunnen speisen. Immer öfter begegnet man in der publizistischen Kritik, wo sie noch den Mut zur Wahrheit hat, dem harten Wort von den „Interessentenhaufen, die behaupten, eine Nation zu ein*. Damit halten wir bei dem eigentlichen Problem, das nur für oberflächliche Kritik ein Problem der Klassengegensätze, der Einkommen und der Verteilung des Sozialprodukts ist. Vielmehr besteht in diesen Bereichen Unordnung, weil die geistige und sittliche Verfassung der Nation zerrüttet ist.

Auf die odiose und falschgestellte Frage, ob die Deutschen von heute überhaupt eine Nation sind, antworten die meisten, daß wir selbstverständlich keine Nation seien, weil man unser Land geteilt habe. Erst die Wiederherstellung der deutschen Einheit könne aus Deutschland wieder einen echten Staat und aus den Deutschen eine wirkliche Nation machen. Das ist natürlich eine Fehldiagnose. Bei psychoanalytischer Befragung würden sich bald die echten Traumata und Komplexe herausstellen. Ein Versehrter, der mit der Amputation seines Beines seelisch nicht fertig wird, ist nicht deshalb ein „halber Mensch“, weil ihm ein Bein fehlt, sondern weil er den körperlichen Verlust seelisch nicht überwunden hat, vielleicht sogar deshalb, weil er ganz andere Defekte mit dem Schmerz um die körperliche Verkrüppelung d^ckt. Richtig ist, daß heute allzu viele für ihren Staat nichts übrig haben, sie kennen das Wort Patriotismus in seiner alten Bedeutung kaum, da sie kein außenpolitisches Ziel sehen, das der ganzen Nation gemeinsam wäre, Wissen überhaupt nicht recht, ob die Schadenfreude über Mißerfolge des Westens ihnen'wichtiger ist als der reale Schaden, den sie selbst dabei erleiden. Neutralität, Rapallo- und Tauroggenpolitik, Einheit um jeden Preis, Einheit bis zur Oder - Neiße-Linie oder bis zur Memel, Europa oder Revanche an Frankreich, Kampf um die Saar oder Kampf um die Ostprovinzen, nationale Armee, Europaarmee mit Gleichberechtigung, Fremdenlegion, gar keine oder eine Rote Armee — das alles geht wirr durcheinander. Auf Bahnhöfen, bei Massenveranstaltungen, an den Straßenecken: Stutzer, die sich amerikanisch geben, russisch drapierte Gestalten,- Sachsen mit Gemsbarthüten und Preußen in Lederhosen, Jünglinge, die Jean Barrault kopieren, und Halbwüchsige, die Cowboys mimen — keine Form, kein Stil, kein Bekenntnis zur Armut, zur Vergangenheit oder zu etwas Neuem, sondern zuviel wahlloses Nachäffen fremder Sitten. Man hat vom Rumbatanzen und Gummikauen bis zum Sektierertum und dem unverbindlichen weltanschaulichen Eklektizismus sehr rasch eine Masse Amerikanis-men übernommen. Von der braunen Zeit her behielt man den rauhen Ton, die betonte Unhöflichkeit, die Frivolität der HJ in Gefühlsdingen. Man pfeift auf alle Ideale, auf Liebe, Opfermut, Ritterlichkeit. Dafür Rekorde, Zigaretten (und zwar nur amerikanische), Sexualität, etwas Schwarzhandel, Schmuggel und nazistisch - kommunistische Geheimbündelei. V

Das ist nun gewiß nicht gültig für alle Deutschen oder alle jungen Deutschen, aber doch das Profil einer die Szenerie beherrschenden Schicht. Was anders denkt, fühlt und formen möchte, kommt nicht genügend durch, zum Teil deshalb, weil es sich — wie zum Beispiel die katholische Jugend — auf lebensferne Inseln zurückzieht.

Nach dem ersten Weltkrieg hatte Deutschland seine sehr diffizile Form ebenfalls verloren. In dem Chaos der Inflation behaupteten sich zwei Formtendenzen: der feldgraue Frontkämpfer und der Typus aus der Jugendbewegung. Sie verschmolzen dann leider zum Soldaten der braunen Revolution. Dem Chaos von 1951 fehlen selbst jene Reste an Form. Was noch Stil hat und ihn auf vollendete Art repräsentiert — Adenauer etwa —, scheint einer versunkenen und erst wieder zu erkämpfenden Welt anzugehören, einsamer Zeuge dessen, was wir sein sollen und wieder werden-müssen.

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