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Deutschland—Österreich,in Europa

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Erklärungen von Diplomaten haben oft das Schicksal diplomatischer Erklärungen: in den Tag gesprochen, für den Tag bestimmt, eignet ihnen jenes Tönende und zugleich Verbindlich-Unverbindliche, das vom Morgen nichts weiß und ihm deshalb nicht traut.

Zu den berühmten, sprichwörtlichen Ausnahmen gehören in der Geschichte dieses letzten Jahrfünfts einige Worte Graf Sforzas, des italienischen Außenministers: hinter ihnen steht ein Konzept, ein überlegtes Kalkül, eine Planung, die Vorsicht und Kühnheit verbindet und es wagt, präzise Linien in die Zukunft zu ziehen. So hat mit dem ihm eigenen Recht sachlicher Bedeutung in diesen Tagen der Sforza-Plan „Kleines Europa* die Weltöffentlichkeit aufmerken lassen. Anläßlich des Staatsbesuchs des deutschen Bundeskanzlers und Außenministers Dr. Konrad Adenauer in R o m — es war dies der zweite Staatsbesuch des deutschen Kanzlers, demonstrativ angelegt wie sein erster, der Paris galt — erklärte also der italienische Außenminister vor dem Verband der ausländischen Korrespondenten, man möge nunmehr versuchen, Westdeutschland, Frankreich und Italien zu einem „Kleinen Europa“ zu vereinigen. Frankreich, Italien und Deutschland, die über soviel gemeinsamen Ruhm verfügten und auf soviel Zwietracht in ihrer Vergangenheit zurückblicken, könnten sich' zusammenschließen, um ihren Völkern eine bessere Zukunft zu geben. „Eine derartige Union kann unmöglich eine andere Bedeutung haben als den Wunsch nach einem besseren Zusammenleben und nach einem Aufstieg zu einer Union ganz Europas.“ Verzichten wir hier, im Rahmen dieser Überlegung, Sforzas weltpolitische Ausblicke weiter zu verfolgen: seine direkte Bezugnahme auf England und seine bisherigen Widerstände gegen ein geeintes Kontinentaleuropa (geschickt gewählt der Zeitmoment, Bedacht nehmend auf Englands Schwierigkeiten in Persien, die fatale Burgess-MacLean-Affäre), die indirekte Bezugnahme auf Atlantikpakt und die Pariser Konferenz der Vertreter der „Großen Vier“. Uns mag hier ein Gesichtspunkt genügen, der beim ersten Blick sich schon als ein Angelpunkt auch von Österreichs europäischer Stellung erweist.

Der nüchterne italienische Humanist, Kenner der Geschichte und des Schicksals Europas umreißt mit wenigen Worten die Chance und die Gefährdung aller innereuropäischen Zusammenarbeit heute: .soviel Ruhm ...“, „soviel Zwietracht...“, soviel Verbindendes, soviel Trennendes, soviel Achtung und Liebe und soviel Haß und Entzweiung. Europäischer Realismus bedeutet: diesen beiden Gesichten ins Auge zu sehen — nur wer mit beiden rechnet, darf hoffen, das Trennende zu überwinden, das Gemeinsame neu zu binden. In einer umfassenderen, elastischeren Ordnung, als es bisher einseitig, monopolistisch von diesseits und jenseits der Alpen und des Rheins versucht wurde.

Seltsam, ja befremdend müßte es wirken, wenn der Erbe des „Klein-Europa“ von gestern sich nicht berührt und angesprochen fühlen sollte durch diese Planungen um ein „Klein-Europa“ von heute und morgen. Österreich wird durch dieses Konzept vital berührt: nicht nur, weil überall dort, wo von Europa gesprochen, wo über Europa verhandelt, wo an Europa gehandelt wird, unser Ort, unser Schicksal, unser Lebensinteresse naturgemäß mit zur Debatte und auf dem Spiele stehen, sondern einfach schon deshalb, weil die Namen der Partner sofort in jedem Österreicher eine Fülle von Assoziationen wachrufen: der Dreibund, die Mittelmächte im ersten Weltkrieg, das Bündnis Italien-Ungarn-Österreich in der Zwischenkriegszeit, die Achse Rom-Berlin am Vorabend des zweiten Weltkriegs ... — Assoziationen — nicht bloß als Gefühlskomplexe, als „Erinnerungen“, sondern doch wohl mehr: als Gedächtnis bitterernster Erfahrungen der Nation, der Heimat; Erbe und schwere Last. Hier aber spricht Sforza nun auch direkt uns an: „soviel Ruhm ...“, „soviel Zwietracht.. .*. Das heißt: der Beitrag, den alle anderen Nationen für das eine Europa zu leisten werden haben, gilt auch für uns: Überwindung also des Trennenden, in der Vergangenheit Wurzelnden und Pflege des Verbindenden und Verbindlichen.

Österreichs Beziehungen zu Frankreich sind seit Jahren in steter positiver Entwicklung begriffen — es ist die alte kulturelle Vormacht Europas im Westen, die tausend Bande mit der an der Donau verknüpfen. Österreichs Beziehungen zu Italien, durch Wirtschaft, Kultur und enge Nachbarschaft organisch gegeben, haben auch gelegentliche Belastungen — durch das Südtiroler Problem — nicht in seiner gesunden, herzlichen Entfaltung zu stören vermocht.

Bleibt also „Der dritte Mann“, Deutschland. Dieser weltberühmte Film darf als ein Symbol gelten: in Deutschland erweckte er die Vision eines fern-fremden Wien, eines zwielichtigen, düster-dunklen Österreich, das weiter entrückt schien als etwa Amerika oder irgendein anderes Land diesseits des Eisernen Vorhangs. Die andere Seite der Medaille: für nicht wenige Menschen in Österreich erschien das Nachkriegs-Deutschland seinerseits als „Der dritte Mann“, ein Großraum voller Fragwürdigkeiten, Fährnisse und Gefährlichkeiten. Ein Land, von dem man nicht weiß, wie man sich ihm gegenüber zu verhalten hat. Wächst dort ein Neues,Positives, zu gemeinsamer Arbeit Einladendes, oder ist alles dort — eine Falle?

Die Grundlage dieser gegenseitigen Verfremdung wird sofort sichtbar, wenn wir hüben und drüben ein Gespräch beginnen: die Entfremdung hat einen oft geradezu unglaublichen Höchststand erreicht, der, in der Nähe besehen, zum allergrößten Teil nichts anderes ist als eine erstaunliche Unkenntnis vom Leben des anderen, jenseits der Zonen-, Zoll- und anderen Grenzschranken. Als vor kurzem namhafte Publizisten aus der Deutschen Bundesrepublik als Gäste der österreichischen Bundesregierung in Wien weilten, gestanden sie offenherzig: über Österreich schreibt und spricht man herzlich wenig draußen ... Austriaca non legun-tur (in denkwürdiger Parallele zu dem alten Leitwort: Catholica non leguntur), österreichische Bücher erscheinen nur sehr, sehr selten in den Auslagen deutscher Buchhandlungen — während in Österreich deutsche Verlage seit Jahr und Tag in immer größerem Umfang unsere Schauläden erobern.

Haiti So geht es nicht. Nun könnte also, frisch-fröhlich oder verdrießlich, bedacht oder heißspornig, eindringlich-leise oder überlaut die Rechnerei beginnen: die Aufstellung des „Soll und Haben“, der mit Eifer zu sammelnden Gut- und Minuspunkte — erjagt aus der Bilanz des letzten Jahrfünfts.

Das Ergebnis müßte unbedingt sein: zwei Berge von Querelen, von Klagen und Anklagen und Verteidigungen; die Anspeicherung einer Fülle von Ressentiments; die Jagd nach Argumenten, nach schlagkräftigen Beweismitteln würde, der Logik solcher Streitfälle folgend, sehr bald sowohl zeitlich das letzte Jahrfünft verlassen und in den tausendjährigen Tiefenraum unserer Geschichte hinabsteigen, wie auch, was nicht minder gefährlich ist, die Ebene des Sachlichen verlassen und in die unkontrollierbare, schwer zu beherrschende Dimension des Gefühlsamen und Unbewußt-Unterbewußten einbrechen. Das aber ist es gerade, was wir beide uns heute nicht mehr erlauben dürfen:was Europa, das uns beide für seine größere Wirklichkeit einfordert, nicht mehr gestatten kann, wenn es sich selbst und uns in ihm ernst nimmt.

Die größeren Dinge, und zumal die ganz großen Dinge, gehören durchaus der Kategorie des Einfachen an. Alles Diffizile, Gekünstelte, Verschrobene ist ihnen fremd. Für uns bedeutet das: die Zeit der Nachkriegspsychosen ist vorbei. Vorbei ist die Zeit der hier wie dort oft wenig glücklichen gesetzlichen Versuche, die jüngste Vergangenheit durch administrative, legislative, bürokratische Maßnahmen zu liquidieren“ — nicht verflüssigt und gelöst wurden sie bekanntlich solchermaßen, sondern oft nur erstarrt. Wir haben uns nun, hüben wio drüben, diese Dinge nicht vorzurechnen — das Heute hat für uns beide neue Sorgen genug. Sorgen, Arbeiten, Aufgaben. Von denen manche, gar nicht wenige, der Zusammenarbeit „bedürfen. Der Zusammenarbeit Deutschlands und Österreichs in Europa — unter dem Dach einer europäischen Ordnung, die beiden Partnern die Spielregeln vorschreibt. Diese Einsicht erscheint uns sehr wichtig! Es ist nichts mehr mit dem „Dritten Mann“: weder Deutschland hat sein Österreichbild ins Dunkel-Zwielichtige zu verschatten, noch hat Österreich Deutschland, die „incertitudes allemandes“, .die deutschen Ungewißheiten“, zu fürchten. Denn: beide werden nicht mehr allein nach ihren eigenen Massen gemessen — beide unterstehen dem Gesetz einer größeren Ordnung, der Weltordnung Europas und janer Freiheit, die allein unserer Existenz Sinn gibt.

Wenn wir diese Tatsache richtig verstehen, dann bedeutet sie für das neue Verhältnis Österreichs zu Deutschland und von Deutschland zu Österreich eine ungemein glückliche Entlastung — an uns liegt es, sie wirtschaftlich, kulturell, politisch auszuwerten. Österreich und Deutschland begegnen sich nämlich dann nicht mehr im Schatten der Schuld und der Geschichte, im Gefälle eines deutschen Uberpotentials von Kräften, die Österreich zu übermachten drohen, sondern treffen sich auf der klaren Ebene täglicher Geschäfte, im Tausch von Gütern, in Gabe und Gegengabe geistiger, wissenschaftlicher Werte und künstlerischer Werke. Wenn die Begegnung auf dieser Ebene stattfindet, dann kann und muß man in sachlicher Arbeit, unverstört durch Partei-, Presse- und andere Querversuche, darangehen, jene umfangreichen Probleme gemeinsam aufzuarbeiten, die im politischen Sektor etwa deutsches Eigentum“ heißen, im kulturellen durch ein deutsch-österreichisches Kulturaustauschabkommen angedeutet sind.

All das ist möglich, wenn Deutschland und Osterreich sich, jedes Land als eine in sich geschlossene Einheit, in Europa integrieren. Jede Verzerrung, jede Verspannung der Beziehungen wird durch dieses europäische Maß gerichtet. Deshalb blicken heute so viele Augen nach Rom, nach Paris, überall dorthin, wo an Europa gearbeitet, gebaut wird — dort überall wird mitentschieden über die neue Möglichkeit: die neue Begegnung Deutschlands mit Österreich, die nicht stattfinden kann im Zwielicht des Gefühls, politischer Träumereien und gefährlicher Ambitionen, sondern einzig und allein auf der Plattform Europas. Dort, wo heute gute Europäer in allen der Freiheit zugeneigten Ländern unverwirrt durch tausend Widerstände um eine echte Union ringen.

Deutschland — in Europa, Österreich — in Europa — was bedarf es dann noch anderer Embleme, Fahnen, Fackeln, Farben? Die Arbeiter, die das Tägliche leisten, werden sich schneller, als man gedacht, finden.

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