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Dichterlesung am Bauernmarkt

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In dem kleinen, vornehm gehaltenen, von neuzeitlichen Bildern oder Handzeichnungen behangenen Kunstsalon des Buchhändlers Hugo Heller auf dem Bauernmarkt hatte ich bereits mehrere Dichter vorlesen hören. Hier lasen fast alle, jungen Dichter Wiens, außer mir, der vergeblich auf eine Einladung des Buchhändlers wartete; aber sie erfolgte niemals. Eines Tages hieß es, daß auch Rainer Maria Rilke an dieser Stätte erscheinen werde, und bald bestätigte die Zeitung die große Nachricht. Also würden wir den Dichter persönlich sehen, hören, vielleicht kennenlernen dürfen. Der Buchhändler erzählte, daß Rilke noch ungedruckte Gedichte aus einem im Entstehen begriffenen Buch vorlesen wolle. Leider zweifle er, ob eine Eintrittskarte für mich erübrigbar sein werde. Aber ich wußte, daß nichts mich von meiner Anwesenheit abhalten würde.

Rilkes Antlitz war damals so gut wie unbekannt. Bloß das von Oscar Zwint-scher gemalte, befremdenderweise bärtige Bildnis war in Kunstzeitschriften reproduziert worden. Es enttäuschte mich, obwohl es in einem gewissen Einklang mit dem „Stundenbuch“ und dem Erlebnis Rußlands zu stehen schien. Auch mochte der Freund der Worpsweder Maler ähnlich vorgestellt werden, wie ich Gerhart-Hauptmanns Gabriel Schilling auf der Bühne verkörpert sah. Der Weitwendigkeit, Gebefreudigkeit, Großherzigkeit seiner Diktion erwies sich ein solches Angesicht nicht ungemäß: dennoch fühlte, hoffte, wünschte ich, daß es anders beschaffen sein müsse.

An dem angekündigten Abend war ich durch die Buchhandlung in den rückwärts gelegenen Saal gegangen. Ich besaß keine Karte, aber mein inständiges Bitten erwirkte mir die Zulassung. Schon war der Raum erfüllt von elegant gewan-deten Damen und Herren, von denen ich damals niemand kannte. Rudolf Kaßners lächelndes Gesicht allein ist mir erinnerlich. Auf seinen Krücken bewegte er sich aus einem Vorraum gegen die Eingangstüre: von dieser Art des Ganges, die ihn nie behindert, ja selbst weite Reisen ihm nicht verwehrt hat, muß die besondere Dimensionalität in sein Wesen und seine Züge gekommen sein, die so sehr viel zu der Bedeutung seiner, Ergründungen beiträgt. In seinem Gesicht ist etwas von den. vielen Flächen eines Kristalls: man kann es ebensowenig mit einem einzigen Blick umfassen wie seinen Stil; man kann seiner als einer Gesamtheit ebensowenig ganz inne werden wie seines scharfen, gleichwohl nach innen tran-szendierenden Geistes.

Das Flüstern der Gespräche, das Hin-und Widergehen, Begegnen und Begrüßen steigerte mir die Erwartung. Ob irgend jemand außer mir so sehr klopfenden Herzens das Erscheinen des Dichters erharrte? Alfred Grünewald gewiß, den ich aber nicht bemerkte. Wann endlich trat der hervor, der allein hier galt? Da erlosch das weiße Licht der Decke und der Wände. In den verdunkelten Raum, in dem alles Leben in Schweigen sank, schwebte niedrig ein smaragdener Schein. Eine kleine Tür wurde aufgetan. Ein nicht sehr großer, schmaler, jugendlich aussehender, bärtiger, überaus vornehm gekleideter Herr schritt zu dem kleinen Tisch unter dem grünen Licht, wartete eine Pause lang, warf dann das Haupt zurück und brach auch bereits in Gesang aus. Es waren Verse, die er sang. Allein nur einige Sekunden lang hielt die Musik an — dann sprangen die weißen Lampen hervor, grell den Saal über-hellend, und erschreckt sahen wir den Dichter, den ein Unwohlsein angewandelt haben mußte, gegen die Türe zurückweichen.

Mitten im Gedicht hatte ihn ein Nasenbluten überfallen und zum Abbruch gezwungen. Dies war nun sehr peinlich, da niemand so leicht aus einer erhöhten Sphäre in die entgegengesetzte gebracht werden kann wie der Österreicher. Aber so groß war die Verehrung für den Dichter, daß kaum hier und dort ein Lächeln sich vorwägte. Man genoß immerhin die Gelegenheit zur Konversation, bis nach etwa einer halben Stunde der Gong anschlug, das weiße Licht erlosch, das grüne erwachte und, als hätte sich nichts Beeinträchtigendes ereignet, die runde, volle Stimme in ihren Gesang heimkehrte.

Es war aber nicht Gesang, vielmehr ein singendes Sprechen. Wie nach einem alten Melos ertönten Verse in Vokalen, in Silben, die zuweilen voneinander getrennt wurden, wie in Liedern. Ein feierliches Skandieren, darin wie in früher Liturgik ein monodisches Element vorwaltete, ließ den flutenden Ursprung ihrer Konzeptionen erkennen. Es war eben jene Musik, die Goethe „Wanderers Sturmlied“ eingegeben, die Schiller als die allen seinen lyrischen Hervorbringungen vorhertönende erwähnte, die Bettina vernahm, da sie den in seinem Turm singenden Hölderlin belauschte. Und doch war es nicht Musik, sondern ein Dionysisches, Orphisches, Pythisches, aus dem Geist des Wortes dem Seher geboren wird. Noch nie hatte ich Gedichte so vortragen hören. Obwohl die Weise, sie heraufzurufen, der meinen ähnlich war, hätte ich nie gewagt, sie derart zu äußern. So sang ich meine Strophen auf meinen Spaziergängen oder im abgeriegelten Zimmer: vor andern hätte ich das Geheimnis des Urquells nicht preisgegeben.

Aber was konnte Berückenderes vernommen werden als solche wahrhaft gebundene und doch stömende Rede? Prags weit ausgewölbtes Deutsch, das immer in ein Singen übergeht, klang darin mit. Die Abschiedsworte der Libussa in Grillparzers Schauspiel mochten so gesprochen werden. Beseligt lauschte ich den Weissagungen, die aus dem grünen Licht zu schweben schienen. Kaum sah ich die handgeschriebenen Blätter, die der Dichter nun vor sich hielt. Es waren die Manuskripte der noch unveröffentlichten „Neuen Gedichte“...

Weiter tönte Orpheus' Stimme, Bilder spiegelnd in ihrer Wölbung, in ihrem Abgrund. Rede wechselte mit Gesang. Hören hallte Gesang nach. Gesang wurde höhere Stille, die plötzlich lautes Klatschen von Händen zerbrach. Ich schaute auf, begriff, daß die wunderbare Vorlesung, beendigt sei, und hingerissen, begeistert, stimmte ich in die Dankbezei-gung aller der Ergriffenen um mich her mit der Leidenschaft bewundernder Jugend ein.

Aus einem Traum waren wir in das Leben zurückerwacht. In weißem Licht lag der Raum voll beglückter Menschen. Der Dichter stand an seinem Pult, ein noch junger, exquisit gekleideter, freundlich blickender Herr, der eigentlich wie ein Knabe aussah, obwohl ein dünner, seltsam eckig geschnittener, farbloser Schnurrbart die Oberlippe in fast chinesischer Art verhängte. Sein braunes Haar war wie meines emporgebürstet, seine Stirn rein, sein Auge staunend groß, blau überfüllt; sein Mund, ungewöhnlich breit und rot, widersprach dem sanften gläubigen Auge, das gern die Wahrheit des Mundes verleugnet hätte. Umlagert von Freunden, von Dankenden, von Neugierigen, spendete er jedem seinen Gegen-dank durch ein Wort, ein Lächeln, den Druck seiner Hand. Er schien selbst von Freude bewegt. Der Wunsch, mich ihm vorzustellen, überwand meine Schüchternheit, und so schloß ich mich der langen Reihe derer an, die darauf warteten, dem Dichter zu sagen, wer sie seien und was er ihnen gegeben. Ich war der letzte der Dankenden, und wie jedem gab er mir seine Erkenntlichkeit so bescheiden kund, daß ich mich der Rührung darüber nur durch rasche Verabschiedung erwehren konnte. Da er mir die Hand reichte und die Hoffnung auf eine Wiederbegegnung aussprach, gewahrte ich das große silberne russische Kreuz über seiner hochschließenden Weste. Es durchfunkelte mich. Der Dichter des „Stundenbuchs“, nicht der Mensch Rainer Maria Rilke, grüßte mich in diesem Zeichen. Ich verneigte mich tief und trat in meine Dunkelheit zurück. Zu dem gemeinsamen Abendessen, davon ich, durch die Menschen gehend, sprechen hörte, hatte mich der Buchhändler nicht aufgefordert.

Einige Tage später hielt Rilke eine Vorlesung über Rodin in dem Saal der

Landwirtschaftlichen Gesellschaft in der Schauflergasse. Meine Schwester und ich hatten uns Karten gekauft, fanden aber nur mehr Platz an der Türe, ein so zahlreiches Auditorium war diesmal erschienen. Käthes Erinnerung, daß Rilke aus eben dieser Tür gekommen und an uns vorbei durch das Publikum gegangen sei, ist nicht mehr die meine. In einer Entferntheit, die mir weder erlaubte, ihn genau zu sehen noch zusammenhängend zu hören, verdämmert mir, wie in einer Glorie, seine damalige Gestalt. Was er vortrug, war der zweite Essay seines Rodin-ßuches, und obwohl mich manches seiner wunderbaren Bilder so berührte, daß ich meine Schwester ansah, fühlte ich mich nicht so ganz verwandelt wie an dem Abend der Gedichte. Aber genügte es nicht, in seiner Sphäre befangen zu sein? Das Entrückende seiner Gegenwart, das jede der späteren Begegnungen erneuerte, erhob uns, unabhängig von dem Gegenstand des Vorträges. Wo er weilte, wurde die Erde den Menschen eben als ein Stern wieder bewußt.

Als er geendigt hatte und der feierliche Eindruck seines Wesens den Beifall zunächst abhielt, beging er, der damals (1907) ja noch jung war, einen Fehler. Er fragte das Publikum, ob es nunmehr einen Begriff von Rodins Kunst gewonnen habe. Diese Frage beeinträchtigte die Wirkung seiner Gabe. Das Schweigen, das vorhin das der Ergriffenheit gewesen war, wurde zu dem der Verlegenheit. Niemand wagte zu antworten — was auch hätte man zu sagen vermocht? Lächelnd wiederholte er seine Erkundung, und da die Stille weiter unfruchtbar blieb, drohte ihm die Gefahr, ein drittes Mal fragen zu müssen. Diese peinliche Lage rettete der Schriftsteller und Anwalt Dr. Robert Scheu: „Ja, wir wissen jetzt“, rief er laut aus, „wer Rodin war, und wir danken Ihnen, Herr Rilke, für Ihre Erläuterung.“ Danach brach der längst fällig gewesene Applaus mit einer Herzlichkeit ans, die das ungelegene Nachspiel vergessen machte. Schmal, blaß, das Haupt gesenkt, stand der Dichter da, noch vor uns, noch in Wien, noch auf Erden. Das Glück seiner Gegenwart und Zeitgenossenschaft wurde mir, der sich oft wünschte, Hölderlin gesehen zu haben, begeisternd bewußt. Uber die vielen Köpfe vor mir hinweg zu spähen suchend, blickte ich, solange ich konnte, in sein schon sich entziehendes Antlitz, bis es verging.

(Aul der Autobiographie Felix Brauns „Das Licht der Welt“ mit Bewilligung der Thomas-Morus-Presse, im Verlag Herder, Wien.)

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