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Dichtung als Zeitdokument

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Im Dezember 1942 starb in einem Feldlazarett in Athen ein junger Österreicher, Herbert Hinterleithner, ein Wiener, der kurz zuvor der getreuen Hüterin der Dichtung Rilkes, Katharina Kippenberg, Terzinen aus Griechenland gesandt hatte. Das Antwortschreiben aus Leipzig, in dem Frau Kippenberg den Einsender als jüngsten Autor des Insel-Verlages willkommen hieß, nahm in Wien die Mutter des Dichters zugleich mit der Todesnachricht in Empfang.

Nicht älter als 26 Jahre war er geworden, der von Idealismus erfüllte Philologe Dr. Herbert Hinterleithner, dem als Schüler der Theresianischen Akademie die völkerverbindende Geisteshaltung des Humanismus zum Lebensinhalt geworden war. Er kämpfte gegen erstarrte Formalismen und trat entschlossen für den neuen Menschen ein, für den aus dem Geist wiedergeborenen Menschen, der sich seiner Sendung, seiner Kulturmission bewußt ist.

Otto Mauer, der ästhetisch-kritische Theologe, verglich die Aussagen Hinter-leithners mit den Dichtungen Hölderlins und kleidete dies in die Worte: „Das Schicksal Hölderlins ward dem Dichter in zerrissener, aber immer liebevoller Seele zuteil.“ Unverkennbar lebt auch in dem Gedichtszyklus „Ruheloses Herz in Hellas“ der Geist gotischer Frömmigkeit, auch in Hellas pocht das Herz augustinisch unruhig, vom leidenschaftlichen Willen beseelt, jene Harmonie zu erlangen, die allein den Menschen befähigt, als Geschöpf de; Allmächtigen selbst Schöpfer im Bereich einer durchgeistigten Welt zu werden.

Wer nur einige wenige Verse Hinier-leithners liest, muß ergriffen bekennen, daß er ein Frühvollendeter war. Mitten im ersten Weltkrieg, am 25. November 1916, wurde er geboren, und mitten im zweiter Weltkrieg mußte er, fern der Heimat, sterben... Und noch — noch immer ist Stille um sein Werk, das den Dichtungen weltbekannter Lyriker ebenbürtig ist... ein echt österreichisches Schicksal!

GEFÄSS DES GEISTES. Neue Gedichte von Friedrich W a 11 i s c h. Blätter für zeitgenössische Literatur. Folge 24. A. Lau-mannsche Verlagsdruckerei, Dülmen (Westfalen).

Längst wird Friedrich Wallisch im gesamten deutschen Sprachraum als Romancier, Essayist, Bühnenschriftsteller und Lyriker geschätzt, denn seine dichterischen Aussagen sind Ausdruck einer Persönlichkeit, die mit männlichem Ernst, geistvollen Apercus und Humor das Wesen der Dinge

sich in die letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie versetzt, in jene Epoche, da ei noch eine österreichische Kriegsflotte gal und da unter einer mustergültigen Verwaltung unwegsame Gebiete in Kroatien Bosnien und Dalmatien durch den Bai lebenswichtiger Straßen und Eisenbahner dem Verkehr erschlossen wurden. Voi allem aber zeichnet sich Wallisch durcl Gedankenklarheit, durch Phantasiereichtun und durch die Prägnanz seiner Ausdrucksweise aus. Aus der Wahl der Themen ist zu ersehen, daß dieser Autor sein Wissen um Österreichs Vergangenheit mit einet keineswegs kritiklosen, aber ehrlichen Aufgeschlossenheit gegenüber den Problemen der neuen Zeit vereint.

Als Lyriker erweist Wallisch seine hohe Sprachkultur. Da gibt es nichts Nachempfundenes oder Sentimentales. Seine Gedichte, oft aus persönlichem Erleben gestaltet — wie „Zwiesprache“, „Fragen ins Ferne“ und „Requiem“, um nur einige aus dem vorliegenden Bändchen zu nennen — erschließen uns jene Welt, in die alles Irdische mündet.

ZEICHEN IM SAND. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1962. 357 Seiten. Preis 26 DM.

Als die Gedichte der 1940 nach Schweden geflohenen, jüdisch-deutschen Lyrikerin Nelly Sachs 1961 zu ihrem siebzigsten Geburtstag, gesammelt bei Suhrkamp, herauskamen, schrieb Kurt Pinthus, Nelly Sachs sei „der vorläufig und wahrscheinlich letzte Ausklang deutscher Sprache in jener dreitausendjährigen Ahnenreihe, die mit den Psalmisten und Propheten begann“. Seither wurde die Dichterin, eine Wahlverwandte Else Lasker-Schülers, als vielleicht größte Lyrikerin deutscher Sprache bezeichnet und in dem Bändchen „Nelly Sachs zu Ehren“ von Ingeborg Bachmann, Günther Eich, Ilse Aichinger, Alfred An-dersch, H. M. Enzensberger, Werner Weber und Paul Celan gefeiert und gewürdigt.

Bekommt man nun ihre „Szenischen Dichtungen“, die zwischen 1943 und 1962 entstanden sind, in die Hand, so nimmt auch hier vor allem die chassi-disch-mystische Inbrunst, in der ihre dunkel-sinnlich-bildhafte Sprache tönt, gefangen. Nelly Sachs' traumhafte Spiele, die im alten Kulttheater mit seinen Elementen Wort, Mimus, Musik, Tanz wurzeln, sind Gleichnisse, „Legenden aus Wahrheit“, „Begegnungen mit Gott im Alltagswort“, wie sie selbst sagt. Wiewohl die Dichterin konkrete Angaben zur Aufführung gibt, werden sie kaum auf deT Bühne verwirklicht werden können: expressionistische, surrealistische, abstrakte, filmische Elemente durchdringen einander; das Handlungsgerüst ist ins Geistige verlegt. Themen sind: „Der Marterpfahl Leben“, Sehnsucht, Liebe, Verrat, Verfolgung, Tod:

„Die Welt ist voller Zeichen.

Diagramme im Sand, Tetragramme — vier Buchstaben, die vor Geheimnis lodern.

Bogen-Kreuzlinien.

Dazwischen fliehen Menschen, .jagen Menschen, werden gejagt.“

Ludwig Plakolb

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