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Die Abseitsstehenden

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In diesen Tagen halten die Priester der Erzdiözese Wien Beratungen ab, in denen über die so wichtige Frage gesprochen wird, wie die Mauer, die viele dem Christentum und dem christlichen Leben Entfremdete, Abseitsstehende von der Kirche trennt, diese scheinbar unüberwindliche Mauer, doch durchbrochen werden kann. Das Thema geht nicht nur die Priester, sondern alle ernsten Christen an.

Betrachten wir den Zustand in unserem Lande: Mehr als neunzig Prozent sind katholisch getauft und die meisten bekennen sich auch tätig durch die Kirchensteuer zur katholischen Kirche. Das heißt also; von zehn Österreichern sind neun katholisch. In den Städten, Industrieorten und auch einigen Gegenden auf dem Lande, wie dem Marchfeld, besuchen von je zehn höchstens zwei am Sonntag die Kirche. In den meisten Landgemeinden ist das Verhältnis besser, aber nur in, gewissem Maße, und wenn man tiefer forscht, so stellt sich auch dort nicht selten die Kirche als in der Minderheit stehend da. Es sei aber hier nur von den Verhältnissen in größeren Orten und der Stadt gesprochen.

Wir haben große Massen, die uns irgendwie nahestehen, aber die Richtung der Tendenz geht eher abseits. Wer die religiöse Entwicklung in unserem Lande in den letzten zwei Generationen überblickt, kann trotz einiger Schwankungen darüber nicht im Zweifel sein.

Was sind die Ursachen jener Entfremdung, die man in den großen Massen feststellen kann. Der geschichtliche Weg hat die abendländische Menschheit von den inneren Dingen weg immer mehr nach außen geführt. Neben der Kirche und unabhängig von ihr ist eine neue Welt entstanden, die gekennzeichnet ist durch Fortschritt der Naturwissenschaften, Technisierung und Rationalisierung des ganzen Lebens. Der Mensch wendet sich mit neuer Inbrunst und neuem Glauben dieser Welt zu. Man wehrt sich gegen die als typisch christlich geltende Vorstellung von der Welt als Jammertal, dem ein fernes und ungewisses Jenseits entgegengesetzt wird. Diese Weltgläubigkeit verbindet alle, den Sozialisten, den Faschisten, den amerikanischen Kapitalisten und Rilke.

Um es gleich vorwegzunehmen: die Haltung der Kirche zu dieser Welt ist mit jener Betrachtung nicht abschließend gekennzeichnet. Das ist nur ein, und zwar ein unvollständiger Aspekt. Ihr widerspricht die Heiterkeit, die so viele Heiligenleben, so zum Beispiel auch das eines Franz von Assisi, durchströmt. Und wir haben das Dogma Von der Verklärung der Welt, daß am Ende das Reich Gottes herabkommen wird, und alles, was wert hat, wird bleiben,

selbst und gerade der Leib, die Materie. Von hier aus können wir uns in ein Gespräch einlassen mit dem modernen Menschen. Rilke wußte ebensowenig von dieser Seite des Christentums wie irgendein Marxist.

Was ist für die der Kirche Entfremdeten zu tun? Sollen wir starr an unserem Platz bleiben oder dürfen wir ihnen entgegengehen? Kardinal Suhard von Paris hat es in seinem herrlichen Hirtenschreiben klar gesagt. Jeder kirchliche Integralismus ist ein Unfug. Wir brauchen nichts wesentlich Christliches aufgeben, wenn wir mit’ der modernen Welt in die Auseinandersetzung eintreten. Die Kirche in ihrer geistigen Gestalt hat sich immer in der Auseinandersetzung mit den Strömungen der Zeit geformt. Selbst die Zeitirrtümer gewannen so eine positive Funktion. Welt und Kirche sind miteinander schicksalhaft verbunden.

Jaspers kann wohl als einer der großen Wortführer des modernen Zeitbewußtseins angesprochen werden. Er ist kein Katholik, doch hat er großen Respekt vor den ,,biblischen Religionen“, wie er sich ausdrückt. Dort liege für den Menschen der Weg in die Transzendenz. Sie sind Träger der größten geistigen Erfahrungen der Menschheit. Für die Zukunft sei das alles höchst bedeutungsvoll. Die Kirche hat alles Wesentliche bewahrt, aber es müßte wieder lebendig gemacht werden. Jaspers spricht von einer Notwendigkeit der Wandlung der biblischen Religionen. Das kann nie das Essentiale des Glaubensgutes betreffen, aber wohl ist es klar, daß an die Menschen, die vom Strom der Zeit geführt werden und sich bis jetzt immer mehr von uns fortbewegen, die christliche Wahrheit nicht herangetragen werden kann, wenn’nicht eine „Wandlung“ erfolgt. Nicht die Dogmen allein bestimmen das lebendige Bild der Kirche einer Zeit, sondern der gesamte Komplex christlichen I, e b e n s, wie er in einem sehr verwickelten Spiel der Kräfte in Erscheinung tritt. Was Nietzsche, Rosenberg oder Rilke von der Kirche sahen, war nur Bruchstück und Verzerrung; zu ihrem und unsern unermeßlichen Schaden.

Das erste und Wichtigste, das zur Annäherung an die Abseitsstehenden getan werden kann, ist, daß wir das Christliche möglichst rein und umfassend leben und darstellen. Das zweite ist, daß wir mit jenen, in denen der Zeitgeist am klarsten erwacht ist, ins Gespräch zu kommen versuchen.

Französische Seelsorger, die sich um Gewinnung der abseitsstehenden Massen des Proletariats bemühen, haben das Wort geprägt, daß das Christentum in der proletarischen Welt neu inkarniert werden müsse. Das ist nichts anderes, als was Jaspers meint, wenn er von der Wandlung der biblischen Religionen spricht. Wenn wir dasselbe in einem unzureichenden Bilde sagen wollen, der Körper der Kirche ist das Bleibende, aber das Kleid soll zur Zeit stimmen. Wir können nicht im Bratenrock gehen, wenn ihn die Welt nur mehr aus dem Museum kennt. Es sind manchmal sehr zeitbedingte Meinungen, ja Vorurteile, die ernsten Menschen das Verständnis für die Kirche erschweren.

Ein primitiver Beobachter kann sagen: „Was weiß mein Nachbar rechts, der Beamte soundso, und der Arbeiter von links, von modernen peistesströmungen. Er ist gottlos, weil es ihm bequemer ist.“ So einfach ist die Sache nicht. Alle verbindet ein gemeinsames Weltgefühl. Der Zeitgeist ist keine dichterische Einbildung, sondern Realität., Es gibt so etwas wie einen Mythos, ein Weltgefühl des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn wir das nicht wissen und spüren, dann leben wir eben aus der Zeit. Kardinal Suhard bezeichnet in seinem erleuchteten Hirtenschreiben als erste Aufgabe die der Geistesschaffenden. Das ist unendlich wichtig.

Alle wirklich wirksamen Mittel und Wege zu den ent christlichten Massen zu kommen, bedürfen einer Arbeit und Umstellung auf weite Sicht. Von heute auf morgen läßt sich nichts machen. Wir müssen säen, Gott muß Gedeihen geben, die Ernte wird erst später sein. So muß die ganze Glaubensverkündigung in Schule und Predigt verlebendigt und zeitentsprechend gestaltet werden. Die Theologie, schreibt Suhard, die nicht so abgeschlossen ist wie die Offenbarung, muß aus ihrer Zersplitterung nach Synthese und Realismus trachten, das Wesentliche in den Mittelpunkt zu stellen. Alle Bestrebungen, die Liturgie dem Menschen unserer Zeit nahezubringen, sind fort zu setzen.

Wir leben in einer furchtbaren Weltzeit. Die große Krise wird immer mehr akut. Es ist gar keine Rede davon, daß sie schon ausläuft. Wir sind erst mitten drin. Eine ganze Welt liegt in Geburtswehen. Den innern, geistigen Vorgang begleiten furchtbare äußere Katastrophen. Es geht wie bei einem Fieberkranken in der Krise auf Leben und Tod. Wir glauben an die Möglichkeit einer neuen Kultur. Wir glauben auch daran, daß das Christentum dazu seinen wesentlichen Beitrag leisten wird. Wir haben Chancen, nützen wir sie!

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