6700483-1963_26_20.jpg
Digital In Arbeit

DIE ALTE STADT UND DAS MEER

Werbung
Werbung
Werbung

Der moderne Fremdenverkehr liebt es, im Zuge seiner Massenbesuche Länder und Städte nicht nur von dem dadurch gebotenen Gesichtswinkel zu sehen — er schafft es unausweichlich, fallweise ganz bestimmte Züge und Eigenheiten der aufgesuchten und bewunderten Örtlichkeiten und Gegenden herauszuheben und sozusagen zu Wesenheiten zu verdinglichen. Nicht etwa nur deshalb, weil es sich dabei um Sehenswürdigkeiten, um „land-marks“ handelt. Weit mehr wohl, weil sich ein sorgfältig Katalogisiertes und Etikettiertes zu gefälligen Schabionen zusammenballen läßt, die sich, dem Tempo unserer Zeit angemessen, programmgemäß und schön gebündelt, en masse und wohlfeil darbieten lassen. Was Wunder, wenn die vielbesungene Lagunenstadt Venedig, die „Königin der Meere“, an sich schon ein Kuriosum sui generis, gerade heute dies Schicksal teilen muß: als konditorsüße, meerumwobene „piece de resistance“ aller Hochzeitsreisenden von einst serviert zu werden. Nur wenigen Kennern und Liebhabern offenbart sich noch das Venedig, wie es nicht im Baedeker steht, sozusagen schon in vierter Dimension, angesichts des außergewöhnlich Empfundenen und Gesehenen im Eigenerleben Venedigs. Was nicht hindert, daß dem wohlinformierten Vernehmen nach, aus dem Munde alteingesessener Fremdenführer der Stadt, es vorkommen soll, daß ganze Reisegesellschaften, besonders amerikanischer Provenienz, zweimal hintereinander die obligate Tour um den Markusplatz samt Dogenpalais und Markuskirche geführt worden sein sollen, ohne sich der Duplizität der Fälle augenscheinlich bewußt zu werden — obwohl sie das vom Auge Erfaßte und vom Munde ihres Führers Vernommene fein säuberlich zu Papier gebrach* hatten.

In den letzten Jahren des vergangenen Weltkrieges nun geschah es, daß Venedig wie noch nie sich seiner selbst bewußt zu weiden in die Lage kam — aus vielerlei Gründen. Zum ersten: Dank der gebotenen Verdunkelung — der unmittelbar am Festland hinter Venedig gelegene Industrie- und Ölhafen Porto Marghera war ein häufiges Ziel heftigster. Fliegerangriffe, die Venedig in den Grundfesten zu erschüttern drohten —, entfiel jedwede künstliche Illuminierung, die die spielerisch verzierten „palazzi“ und zahlreichen Kirchen mit dem Gewirre der engen und engsten „calli“ oft allzu roh und scharf konturiert aus dem Dunkel ins grelle Licht des Alltags zerrt — ein Problem, das heute noch die Stadtväter Venedigs beschäftigt. Selbst die wechselvolle Komparserie der Venedig-Besucher leidet darunter, wie R. M. Rilke einmal sich äußerte: „...die Fremden sind doch überhand, und wehe wenn man abends über den Markusplatz kommt und sie alle angeleuchtet findet von den Glühlampen der Illuminierung. Dieser stupide Superlativ von Licht vertreibt die letzten Züge aus ihren Gesichtern ...“

Ganz anders im Zeichen der Kriegsfinsternis. Trotz des künstlichen Lichtmangels war es selbst im engsten „calli“-Labyrinth niemals völlig dunkel. Über dem Dächergewirr mit seinen verschnörkelten Gesimsen und Altanen, schien sich so etwas wie ein zarter Schimmer aus den Lagunen zu verbreiten, der selbst in den winterlichen Nebelnächten nie ganz versiegte. Selbst aus den weitverzweigten Kanälen .ergab sich, als wollte das nasse Element mit seinem leisen Gemurmel das fehlende Licht zur Orientierung des Menschen ersetzen. In den flächten des Mondlichts und der Sterne vollends erlebte Venedig eine Art Auferstehung zu seiner einstigen Pracht und seinem Glänze. Und seltsam — nicht Kitschiges wurde den vielen baulichen Reliefs und dekorativen Skulpturen, die sich dem Fußgänger, hier wie nirgendwo anders

in seinem ausschließlichen Recht, von Gasse zu Gasse, von „campo“ zu „campo“ unaufdringlich darbieten, zugemutet. Ganz im Gegenteil — sie kamen erst recht zu vollster natürlicher Geltung, so daß man schier von einer Entdeckerfreude zur nächsten zu gehen empfand, als hätte man die Lagunenstadt noch nie zuvor so recht gesehen.

Freilich — dazu kamen auch recht ungewohnte Dinge. Von einem Bogenfenster des Procuratien-Palastes wehte das Banner der ominösen SS-Standarte, die dort ihr Hauptquartier bezogen. Zwei knappe Jahre später hing am selben Platz der „Union Jack“ der Alliierten Militärregierung. Und nicht wenigen in Venedig Lebenden der damaligen irreal wirkenden Monate mag es widerfahren sein, über den Markusplatz von einem Gestapomann ins SS-Quartier eskortiert zu werden: selbst dies schien dem Erleidenden nicht glaubhaft real zu sein.

Venedig war unter anderem zum Sitz zahlreicher Ministerien der faschistischen Regierung von Salö geworden, darunter des besonders regsamen Propagandaministeriums. In der ehemaligen Benediktinerabtei Abbazia S. Gregorio, nächst der Kuppelkirche S. Maria della Salute, hatte sich das „Deutsche Kulturinstitut“ häuslich niedergelassen. Selbst die deutsche Botschaft von Salö hatte im Grand Hotel am Canale Grande eine Zweigniederlassung eröffnet, um zweckdienliche Kontakte besser pflegen zu können. Unnötig zu sagen, daß die Urlaubsbetreuung der Landser es sich zum Ziele gesetzt hatte, jeder in Italien Eingesetzte müsse einmal Venedig erlebt haben — es wimmelte somit von deutschen Uniformen aller Arten und Grade. Ein eigenes, von Werner von Schulenber.g verfaßtes und von Oberstleutnant Gehring herausgegebenes Büchlein mit farbigen Illustrationen von A. Kolnberger sollte als Führer durch die Lagunenstadt dienen. Und wahrlich, in Venedig ließ sich der wüste Krieg vergessen, das Leben schien in allem und jedem seinen gewohnten Gang zu nehmen — wären nicht die Fliegerangriffe am nahen Festland gewesen. Gewiß — diese Oase inmitten des Weltbrandes und das Zusammentreffen vielerlei miteinander verschlungener Interessen und Menschen verschiedenster Kondition tauchten das romantisch-sentimentale Venedig in eine zwielichtige Atmosphäre heterogenster Elemente, einschließlich offenkundiger und geheimer Agenten von hüben und drüben. In den großen Hotels der Lagunenstadt kam es mithin oftmals zu peinlich-grotesken Zusammentreffen von Menschen verschiedenster Gesinnung und Einstellung aus allen Lagern. Es nahm aber meist kein tragisches Ende. Selbst die einladend finstere Calli und Kanäle, mit ihren verschwiegenen Brückenbogen, waren nicht stumme Zeugen gewaltsamer Unterdrückung unliebsamer Elemente. Oder vermochte der ewige, rätselhafte Zauber Venedigs gerade in jener Aus-nahmssituation auch dies Geschehen zu verharmlosen, als wäre nichts vorgefallen?

Venedig, jenes zuinnerst lebende Venedig mit seiner Vielfalt von Gassen und Gäßchen, Plätzen („campi“), seinen „rii“ genannten Kanälen, seinen „fondamenta'-Bezirken und entlegenen .Ufern, wo jedes zweire Haus ein Palazzo von der Hand eines illustren Baumeisters zu sein vorgibt, ja ist. wird immer geheimnisumwittert, außergewöhnlich anmuten, selbst für jemand, der gewohnheitsmäßig darin lebt und sich hier auch auskennt. So rief von Platen, kaum in Venedig angekommen, voller Bangnis aus: „Wie werd' ich je dies große Rätsel fassen?“ Und dennoch, es läßt sich Venedigs innerstes Lebensgesetz, das es zu einer

großen Einheit werden läßt, erahnen. Venedigs Lebenselement ist aas Wasser, das Meer. Seine ganze Geschichte beweist es zur Genüge. Zur Zeit der Hunnenbedrängnis war es, daß Flüchtende aus Aquileja über Grado und Torcello auf den Lagunen des späteren Venedigs landeten. Und zu seiner Glanzzeit vermochte die „Serenissima“, als Seehafen-Handelsstadt ein zweites Brügge, ihre Seemacht im Kampf gegen die Türken merklich auszubauen: unter dem greisen Dogen Enrico Dandolo, Zeitgenosse Kaiser Heinrichs VI., gelang es ihr, das ferne Konstantinopel zu erobern (1204). Damit waren die Länder am Ägäischen Meer, mehrere griechische Inseln, allen voran Kreta, venezianisch. Zur Regierungszeit des Dogen Tommaso Mocenigo, zur Zeit des Konzils von Konstanz also, waren angefangen von der Mündung des Po, über die nördliche Küste des Adriatischen Meeres bis nach dem fernen Korfu sämtliche Küstengebiete, mit Ausnahme Tiiests, dem Markuslöwen botmäßig. Erst mit dem Aufkommen der Rivalin Genua und der Eroberung Konstantinopels durch den Islam begann allmählich der Abstieg. Als dann Kolumbus über Spanien Amerika entdeckte und Vasco da Gama den Seeweg nach Indien fand, gab es in Venedig Verzweiflung und Trauer: Damals weinten die Venezianer auf dem weiten Markusplatz, und ein Konkurs folgte dem anderen. Das Venedig von heute aber ist mehr denn je wieder auf dem Damm, selbst als mittelbare Rivalin des gegenüberliegenden Triest und Fiume: Es bildet mit diesen beiden Adriahäfen das traditionelle „Dreieck der Adria“. Der Ausbau des Po-Kanals zum Lago Maggiore dürfte Venedigs Industriehafen Porto Marghera zu nachhaltigem Aufschwung verhelfen. 1

Nicht auszudenken wäre daher die oftmals diskutierte Absicht, Venedig dem Festlande gleichzumachen, seine 150 Kanäle, die 100 Inselchen umschließen, trockenzulegen und die 400 Brücken abzubrechen. Statt dessen Autostraßen und eine Untergrundbahn obendrein! Was Wunder, wenn die „gutgesinnten“ Venezianer gegen derlei Projekte Sturm laufen. Bereits zur Zeit des „Futuristen“ Marinetti und des Dichters d'Annunzio spukte es von ähnlichen und noch radikaleren Plänen, um aus Venedig eine moderne Industrie- und Hafenstadt zu machen. Bereits die Verbindung der Bahnhofsgegend Venedigs mit der „terraferma“ bei Mestre durch eine Bahn- und Autobrücke hatte genug Staub aufgewirbelt, als befürchte man, ein „tabu“ gebrochen und freventlich-lästerlich den Lebensnerv Venedigs unterbunden, statt ihn zur Erweiterung und Hebung der Stadt „verbunden“ zu haben. Venedigs Lebensgeheimnis, sein Lebensgrund zugleich ist und bleibt das flüssige Element. Es macht, daß die Lagunenstadt sich nicht rationell erfassen, begreifen läßt: Alles durchdringt jenes Imponderable der Phantasie, vielgestaltig-ruhelos wie das Meer, das nie stagniert, auch wenn es im Zeichen des bleiernen „scirocco“ tot dazuliegen scheint.

Es gibt eine Vielheit von „Venedig“, die jeder einzelne für sich, jeweils anders zu den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, oft nur im Ablauf weniger Stunden und im Räume der gleichen Calli und Campi, immer aufs neue zu entdecken ermuntert wird. Allein schon der Baustil von Venedigs Wohn- und Prachtbauten ist von einer geradezu maßlosen Überschwenglichkeit und Vielfältigkeit der Ornamente. Die Stadt des „Sette-cento“ katexoehen ist baulich alles andere als dem Geiste des Rokoko verschrieben. Vielmehr amalgamieren sich hier alle anderen Zeitstile zu jener typisch venezianischen Maßwerkgotik, fälschlich als „byzantinisch“ angesprochen, das auch nur eine Komponente bildet. So herrscht, neben der geschlossenen Harmonie palladiesker Kuppelbauten, mit ihren Porticos. das filigrane Spitzenmuster der Rund- und Spitzbogenfenster und zierliche Maßwerkbalkone vor, wo sich romanisches, byzantinisches, gotisches Kulturgut, ja selbst Elemente der Renaissance und des Barocks in Schönheit die Hände reichen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung