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DIE BEIDEN PASSIONEN

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PASSIO DOMINI JESU CHRISTI secun-dum .. . secundum ... Da wir das Wort wagen, der Film könne bisweilen so etwas wie ein fünfter Evangelist sein (Univ.-Prof. Rehrl wagte ähnliches auf der letzten Weihnachtsseelsorgertagung des österreichischen Klerus, wenn er vom „neuen Ewigen Licht“ sprach), sind wir uns auch klar, welche Vorbehalte dies erfordert. Es war nicht immer der Heilige Geist dabei, und das Ziel des Films war nur äußerst selten ein dogmatisches und apologetisches...

Immerhin läßt sich einiges Erfreuliches feststellen:

1. Mit den 32 Christusfilmen und Passionen (eine 33. ist geplant), die sich bis heute nachweisen lassen, ist dieses Thema eindeutig das meistbehandelte in der ganzen Geschichte des Films.

2. Schon zwei Jahre nach der „Geburt“ des Films, 1897, sind vier Passionen auf dem Plan, drei weitere 1898, eine 1899, also noch acht vor der Jahrhundertwende! Kein Stoff beherrscht also auch so, früh den Film.

3. In einigem Abstand folgt Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orleans. Bis heute 15mal verfilmt, davon das erste Mal schon 1898, das zweite Mal 1900, das letzte Mal 1956/57.

SO IST ES NUN FREILICH NICHT, daß wir den roten Faden zweier so bedeutender (und Dutzender anderer) religiöser Filmstoffe der Apologetik gleich als neuen Gottesbeweis anzubieten hätten. Er hat nämlich auch sehr natürliche, beinahe ernüchternde Gründe: frühe kommerzielle Spekulation auf jenen sagenhaften Generalnenner der internationalen Konsumentenseele, aus der bald darnach Hollywood ein fixes marktpsychologisches System entwickelt hat — es ist bis hju/jibertroffen.

AUCH NOCH EIN ANDERES PROBLEM taucht auf. Der 1953 verstorbene Ernst Iros schreibt in seinem 193 8 veröffentlichten Buch „Wesen und Dramaturgie des Films“ (2. Auflage 1957):

„Mit der geschichtlichen Darstellung eines religiösen Glaubens kann diejenige seines Stifters nur dann verbunden sein, wenn man von dem geheiligten Jesus Christus absieht. Der Gläubige fühlt und erlebt Christus in der Sphäre des Irdisch-Entrückten, des Uebersinnlichen. Wenn die geheiligte Gestalt in leiblich-stofflicher Nähe vor den Zuschauer tritt, so wird das Spirituelle zum Materiellen erniedrigt. Deshalb widerstrebt die Passion der Bühnen- und erst recht der Filmdarstellung. Nur die Schlichtheit des primitiv-bäuerlichen Weihespiels vermag die große Distanz einigermaßen zu überbrücken, denn es nähert sich einer kirchlichen Handlung an. Sobald sich bei dieser Darstellung aber künstlerische Ambitionen geltend machen würden, müßte das Spiel entweiht werden.“

Dazu die Stimme des bedeutenden süddeutschen Kritikers Gunter Kroll:

„Die filmische Darstellung des Lebens Jesu — ich halte sie für unmöglich. Und wäre sie dennoch möglich (bisher gelang sie nie), dann wohl nur auf zweierlei Art, entweder naiv und laienspielhaft wie in Oberammergau oder mit der höchsten Kunst, die der Film zu geben vermag — indirekt, sichtbar nur als Auswirkung und Umweltreaktion, und ohne den Versuch, Christus zu photographieren.“

Die Filmgeschichte hat sich, wie gleich zu sehen sein wird, an dieses Urteil nicht gehalten. Trotzdem will es gehört sein — besonders in unseren Tagen, da sich gereifter Filmverstand und anspruchsvollere Maßstäbe im religiösen Empfinden zu strengerem Urteil verbinden.

Es gibt aber auch moderne Lösungen.

DIE ERSTE PASSION DES FILMS ist verlorengegangen. Sie datiert 1897 und stammt von einem Manne namens Kirchner, genannt Lear. Er war ein vielseitiger Mann, drehte pikante Zötchen und fromme Traktätchen und starb schon vor 1900. Mehr wissen wir von der 2. Passion aus demselben Jahr. Georges Hatot drehte sie unter Louis Lumiere; sie war schon 220 Meter lang und enthielt 13 Szenen, von der Anbetung der Könige bis zur Auferstehung. Gleichfalls ins Jahr 1897 fällt die Verfilmung der Passionsspiele von Horitz im Böhmerwald durch den Lumiere-Mann Hurd für Amerika. Mit einem italienischen Film Luigi Topis (die Christusrolle spielte ein Zauberkünstler!) schließt das „Jahr 1“ des religiösen Films. Gaumont folgt 1898, im gleichen Jahr zwei Amerikaner. Noch vor der Jahrhundertwende springt die dritte französische Großfirma ein: die Starfilm Georges Melies'. Und schließlich die vierte: Pathe, 1902 bis 1904, die bisher größte und nach-wirkendste, 4 Episoden und 39 Szenen von Ferdinand Zecca und Lucien Nonguet.

Ihr folgen: 10. die Passionsspiele von Nancy im Auftrage der Bonne Presse 1905, 11. eine Verfilmung von „Oberammergau“ durch Ludwig Deutsch 1905, 12. eine neue Gaumont-Version durch Victoria Jasset 1906, 13. eine neue Pathe-Passion Andreanis 1907, 14. und 15. zwei neue Franzosen 1909 bis 1911, 16. ein früher Dokumentarfilm aus dem Heiligen Land von dem Amerikaner Olcott 1912, 17. „In hoc signo vinces“ des Italieners Oxilio 1913, 18. „Christus“ seines Landsmannes Alberto Pasquali 1915.

Nur drei Episoden (Nr. 19, 20 und 21) bringt die erste Kriegs- und Nachkriegszeit, darunter die „Passion Christi“, das dritte Stück des großartigen Episodenfilms von Griffiths „Intolerance“ (Amerika, 1916).

MERKWÜRDIG IST ES, daß die Blüte des Stummfilms mit ihrer, glanzvollen Parade von künstlerischen Persönlichkeiten in allen Filmzonen religiös nicht ergiebig ist. Sie hat ganze zwei, in ihrer Art allerdings gewichtige Passionen anzubieten.

Da ist Robert Wienes, des Caligari-Regisseurs, „INRI“, 1923, vielleicht die erste moderne künstlerische Passionsinszenierung überhaupt. Wir erinnern uns noch: Gregory Chmara war Christus, Werner Krauß Pilatus, Henny Porten die Muttergottes und Asta Nielsen Maria Magdalena. Cecille de Milles „König der Könige“. 1927 (in unserer Zählung Nr 23), war weniger künstlerisch, dafür aber unerhört populär; er ist buchstäblich um die Welt gereist. Sein wunder Punkt ist bekannt: der weiche angelsächselnde Christus H. B. Warners; dafür gab es den scharf geprägten Pilatus Victor Varconis und die denkwürdige Besetzung von Kaiphas und Judas durch Schildkraut Vater und Sohn.

EIN GANZ NEUES PROBLEM, die „Christusscheu“ (Charles Ford) gebiert der Tonfilm. Vorsichtig tastet die neue Dramaturgie neue Möglichkeiten ab: in Abel Gances Prolog zu „Das Ende der Welt“, 1931, in einem mexikanischen Magdalenafilm und Duviviers „Golgotha“ mit Harry Baur als Pilatus, Robert Vignan als Christus und Jean Gabin als Judas (Nr. 24, 25, 26). *

DANN BEGINNT DAS EXPERIMENT. Zuerst der Dokumentarfilm: Marcel Gibauds „Leben Jesu“, Ernst Marischkas „Matthäuspassion“ und der spanische „Christo“ (Nr. 27, 28, 29); eine englische Laienspielverfilmung durch den Deutschen Walter Rilla (Nr. 30). Schließlich die vielversprechenden Lösungsversuche zweier Filme aus jüngster Zeit: Sjöbergs „Barabbas“ und die Verfilmung von Kazantzakis „Der wiedergekreuzigte Christus“, der eine die hochpoetische Legende vom Menschen, der vom Kreuzschatten und von der Glorie getroffen wird, der andere die menschliche Passion als Parallele der Göttlichen. „Barabbas“ erfüllt überdies weitestgehend Gunter Krells Forderung nach der indirekten Darstellung Christi: durch Aufnahmen aus respektvoller Entfernung, von Lichtausstrahlung und Korpusteilen. Wichtiger erscheint mir, daß Christus in diesem Film „immer da ist“, in besonderem Sinn — für Barabbas und für uns.

MIT INTERESSE, ABER AUCH MIT SORGE sehen wir einem Hollywoodprojekt entgegen, das unter dem Titel „Die größte Geschichte aller Zeiten“ das Leben Jesu darstellen soll — in Technicolor und mit einem wirklichen Mönch als Christusdarsteller. Es wäre die 33. Fassung. *

DIE FILMHOMOGENITÄT UND DIE DYNAMIK des Johanna-von-OrleansStoffes sind mit den Händen zu greifen. Dies in erster Linie — und dann'erst die literarisch-romantische Schiller-Ueberlieferung und die spezifisch französische sakralnationalistische Tradition sind offenbar die ersten Auftriebe für die häufige Verfilmung gewesen. In der zweiten Hälfte des Filmzeitalters aber — die Zäsur bildet ziemlich genau Dreyers Film 1928 — entdeckt man sozusagen unter der Oberfläche, verstehe: den flatternden Fahnen, blitzenden Schwertern und prasselnden Flammen des Scheiterhaufens auch noch anderes: den Menschen zwischen Gott und der in bestimmten Dingen irrtumsfähigen Kirche, zwischen erster und letzter Instanz. Folgerichtig sprechen auch die Titel der ersten Hälfte von Exekution, Kämpfen und Wundern, in der Neuzeit dagegen überwiegen: Der Prozeß, die Passion, das Mädchen, die Heilige, die Lerche: nicht die Nachtigall. ..

Wie die Passion Christi im Film, ist auch die Geschichte der Jeanne-d'Arc-Filme nicht frei von Flecken. Rationalistische und nationalistische Tendenzen einerseits, anderseits ein bisweilen peinlich spürbares erotisches Liebäugeln mit der Jungfrau im Soldatenkleid erweisen sich würdig der „Literatur“, vom heute gottlob fast vergessenen schmachvollen Pamphlet Voltaires bis zu Bernard Shaws bei allem menschlichen Mitgefühl doch auch zynischen Zwischentönen. *

TROTZDEM: EINE IMPOSANTE BILANZ. Den glänzenden Aufmarsch eröffnet das Mutterland der Heiligen mit seinen-drei Paradefirmen: Lumiere 1898, Startilm 1900 und Pathe 1903. Der letzte der großen Vier, Gaumont, fehlt. Kurioses Zwischenspiel: für 1905 ist uns ein — Lustspiel des Deutschen Max Skladanowsky belegt! 1908 folgen die vierte französische Fassung durch Albert Capellani, 1908 und 1913 zwei italienische, 1916 Cecille de Milles „Joan the Woman“, 1928 die fünfte französische Version durch Marco de Gastyne mit Simone Genevoix.

Im gleichen Jahre 1928 geschieht das Wunder im Wunder: des Dänen Carl Dreyer erwähnter „Schreiben“ und „Malen“ wird im Russischen durch dasselbe Vokabel ausgedrückt. Hier ein Exempcl, die Unterschrift eines — Stars! Mehr: einer Persönlichkeit — Yul B r y n n e rs, der in diesen Tagen mit seiner Partnerin Deborah Kerr und dem Regisseur Auatole Litvak an der österreichischungarischen Grenze „The Journey“ („Die Reise“) dreht. Ungewöhnlich . seine Herkunft (auf Sachalin) und Laufbahn. Bisher sechs Filme, darunter „Der König und ich“ und „Die große Liebe der Anastasia“. Träumt von großen Regietaten. Gibt sich natürlich, elegant, weltgewandt. Das Menschliche, die Marotte an ihm: das Spiel mit der Glatze; das er gar nicht nötig hätte.Film „Leidensweg und Tod der Jeanne d'Arc“ mit Maria Falconetti in der Titelrolle (denkwürdige Uraufführung: 21. April 1928 in Kopenhagen). Hier triumphiert die Kunst des Stummfilms,'besonders die schon begraben geglaubte, in den „12 Geschworenen“ wieder großartig auferstandene Kunst der Großaufnahme: nicht jene Art, die den Kopf wie ein Werbeplakat für Zahnpasta auf die Leinwand wirft, sondern die Großaufnahme als Stilprinzip, das menschliche Gesicht als zentraler Schauplatz des Geschehens. Niemals vorher und nachher ist diese künstlerische Höhe der Johanna-Filme erreicht worden. *

IN DER TONFILMEPOCHE, die hier, zum Unterschied zur Christus-Passion, keinerlei Probleme aufwirft, folgen darauf als Nr. 11 bis 15 Gustav Ucickys „Mädchen lohanna“ mit Angela Salloker und Gustaf Gründgens 193 5. 1949 Victor Flemings bedeutender RKO-Film mit Ingrid Bergman, geistlich gut beraten, 1954 Delannoys Episode in dem Triptychon „Schicksale“ (Michele Morgan spielte die Jungfrau), im gleichen Jahre Rossellinis „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ nach dem Oratorium von C'iudel-Honegger, wieder mit der Bergman, und schließlich 1956/57 Premingers Shaw-Film mit Jean Seberg.

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