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Die beiden Versuchungen der Justitia

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Wie die Freunde so plauderten, kamen sie auch auf Reisen und über fremde Länder zu sprechen. Begann der Fabrikant: „Als ich als junger Mensch, vielleicht fünf, sechs Jahre nach unserer Matura, auf einer Auto-Geschäftsreise für die Fabrik meines Vaters in die Stadt Arad kam, sah ich aus dem Wagenfenster einen Zug zerlumpter Gesellen vorbeiziehen, die etwas wie einen Fetzen trugen; ich kümmerte mich nicht um sie und wartete nur auf die freie Durchfahrt. Auf einmal wurde ich von einem Polizisten aufgefordert, mitzukommen. Es stellte sich heraus, daß es eine Militärparade war und ich — die Fahne nicht gegrüßt hatte! Man schleppte mich mit Hallo zum Kadi. Ich, entrüstet, verlange einen Dolmetsch und einen Anwalt — man machte mir keine Schwierigkeiten, gleich waren die beiden Herren zur Stelle und begleiteten mich zum Untersuchungsrichter. Der, ein kleines Männchen mit Mausäugelchen, betrachtete mich voll Interesse, ließ durch den Dolmetsch ein paar Fragen an mich stellen — und besprach sich dann des langen und breiten mit dem Advokaten. Mir kam die Sache schon merkwürdig vor, denn gefragt wurde ich nur — nach meinen finanziellen Um- itänden! 'Und richtig, der Anwalt proporpert mir sodann — alles im Beisein des Richters — folgendes Geschäft: ich solle eine Summe Geldes — er nannte den Betrag eines ganz anständigen Monatsgehaltes — auf den Richtertisch legen oder das Verfahren gegen mich läuft an, was bedeutet, daß ich sofort ins Kittchen muß, in „Untersuchungshaft“, wo es von Wanzen wimmelt und woraus mir Scherereien, Zeit- und Geschäftsverluste erwüchsen und ich einem ungewissen Urteil entgegenzusehen hätte. — Ich schluckte meine Empörung hinunter, zog die Brieftasche und bezahlte — kurz, ich wählte die Freiheit. Nachher, auf der Straße, ließ ich meinem Aerger gegenüber meinen Helfern freilich freien Lauf. „Aber was wollen Sie“, bekam ich zur Antwort, „das bleibt ihm ja nur zum Teil, glauben Sie uns, er muß mindest die Hälfte davon abgeben!“

Die Zuhörer amüsierten sich, nur der Sektionsrat glaubte es sich schuldig zu sein, seinem alten Kameraden auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: „Na, da sieht man den Kaufmann — sehr heldenhaft war dein Verhalten nicht! Solch einem Erpresser hättest du “ „Laß gut sein“, unterbrach ihn der Fabrikant, „auch ich dachte damals ähnlich wie du.“ „Was heißt: damals! Da bitte ich mir doch eine Erklärung aus! Gott sei Dank, sind wir bei uns solche Zustände denn doch nicht gewöhnt, trotz allem Geschimpfe und Geraunze!“

„Allerdings — das haben wir hier bei uns nicht", lächelte der Fabrikant anzüglich. „Ich bitte, zaber nun ernstlich: wie meinst du das?" erregte sich nun vollends der Sektionsrat. „Willst du vielleicht sagen, daß unsere Zustände mit denen in Arad zu vergleichen sind?“

„Urteile selber, lieber Freund“, kam die trockene Antwort, „ich will nur einen Fall herausgreifen: Du kannst dir denken, daß es in einem Unternehmen wie dem meinen öfter Anlaß gibt, die Gerichte in Anspruch zu nehmen. Ich hielt mich jedoch immer zurück, so gut es ging, schon aus Instinkt — aber vor vier Jahren war da eine Sache mit einem früheren Geschäftsfreund, die mir über die Hutschnur ging — der klarste Fall von der Welt — und es ging um Hunderttausende, immerhin. Unser Syndikus beauftragte den ersten Anwalt von Wien — und das Ergebnis: nach drei vollen Jahren sind wir noch nicht einmal beim Urteil! Wie das möglich ist? Weil der andere einen Advokaten hat, der es auf eine Verzögerung angelegt hat — und das ist nach unseren Gesetzen — an die sich alle, zum Unterschied von Arad, peinlich ha’- ten — leicht, oder sagen wir, immerhin möglich (mit Ablehnungen, Aufsichtsbeschwerden und sonstigen Prozeßwitzen, die Aktenanforderungen durch die Minister und Präsidenten nach sich ziehen) — alles, wie gesagt, vollkommen ordentlich, nach dem Buchstaben zumindest.“

Das seien Extremfälle, die nichts beweisen, meint der Sektionsrat etwa gezwungen — doch wird er einer weiteren Widerrede enthoben, weil sich nun der Stadtbauamtsleiter zum Wort meldet.

„Vielleicht wird es euch interessieren, daß auch ich — es ist noch gar nicht so lange her — mit den Gesetzen in Konflikt geriet und eine hübsche Anekdote erzählen kann, die zu unserem Thema paßt. Freilich spielt sie nicht im fernen Arad, aber immerhin war es im westlichen Bundesgebiet, in Annenthal, dem bekannten, idyllischen Kurort. Als ich also vor drei Jahren wieder in die Gegend kam, auf einer Inspektionsreise, quartierte ich mich im Kurhotel von Annenthal ein. Mein Zimmer lag im ersten Stock, es war ein warmer Augustabend, als ich, schon recht müde, ankam, und so um Mitternacht wollte ich mich zu Bett legen. Da hörte ich von nebenan ein Rumoren und verdächtige Geräusche. Schließlich ging ich auf den Gang — doch plötzlich war alles still. Dann kam aber Wieder ein Poltern auf — und so entschloß ich mich, anzuklopfen. Nichts rührte sich, 'Ich klopfte noch einmal, dann versuchte ich, ob die Tür versperrt war — um zu sehen, was dort überhaupt los sei. Sie war unversperrt, das Zimmer lag im Dunkel — ich fand aber keinen elektrischen Schalter, tastete mich an einem Bett entlang zum Fenster — und berührte mit der Hand einen Körper — wie sich herausstellte eine junge Frau im Evakostüm, die sich hinter den Fenstervorhängen verborgen hatte, als ich anklopfte. Im gleichen Augenblick stieß sie einen markerschütternden Schrei aus. Schon war das ganze Hotel in Aufruhr. Man klopfte — na, das übrige könnt ihr euch vorstellen. Meine dürftige Toilette war allerdings keine Empfehlung für mich — kurzum in der Früh wußte bereits die Gendarmerie davon, man vernahm mich und sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als eine Anzeige an die Staatsanwaltschaft zu erstatten. Doch das erfuhr ich erst am nächsten Tag. Gerade, als ich abreisen wollte, bekam ich die Vorladung zum Bezirksgericht.

Man war dort sehr höflich, sehr korrekt. Man hörte mich geduldig an, protokollierte alles aufs genaueste — aber zu guter Letzt wurde mir eröffnet, daß gegen mich bereits ein Haftbefehl vorliege, schon unterschrieben vom Bezirksrichter, auf Antrag der Staatsanwaltschaft, wie der Richter gewissermaßen entschuldigend erklärte. Wegen Flucht-, Verabredungs- und Wiederholungsgefahr, ich habe mir sogar die Paragraphen gemerkt. Natürlich protestierte ich geziemend, fragte, wieso ich als Wiener fluchtverdächtig sein soll, von den anderen „Gründen“ gar nicht zu reden — doch der Richter, ein recht jovial aussehender, sich durchaus wohlwollend gebender Herr in meinem Alter, bedauert, mit mir hierüber nicht debattieren zu können, es sei schade um jedes Wort. Natürlich nahm ich einen Verteidiger. Was soll ich euch sagen, es dauerte geschlagene drei Wochen, bis ich aus der Haft entlassen wurde, und ein weiteres volles Jahr bis zu meiner Rehabilitierung.“

„Na, da hast du Pech gehabt“, meinte beschwichtigend der Sektionsrat, „zum guten Ende siegte eben doch das Recht!“ „Warte nur, ich bin noch nicht beim guten Ende“, antwortete der Architekt, „jetzt kommt nämlich erst , die Pointe: Wie mir mein Verteidiger später erzählt hat, trug sich meine Affäre just genau zur selben Zeit zu, als das Justizministerium vor gesetzlich nicht voll gedeckten Haften gewarnt hat — aber nicht genug damit, wurde dieser Erlaß auch der Presse übergeben, die ihn an hervorragender Stelle publiziert hat. Es wurde den Gerichten und Staatsanwaltschaften nachdrück-

lieh empfohlen, alle Tatbestände eingehend zu prüfen und sich ja nicht mit allgemeinen Vermutungen und Verdachtsgründen zu begnügen — bei sonstiger disziplinärer Ahndung. Mein Anwalt, wie gesagt, hat das natürlich gewußt und nicht wenig darauf gepocht, als er meine vorzeitige Haftentlassung betrieb — aber das Beste kommt jetzt: wie er einige Zeit nach meiner Entlassung im Bezirksgericht Annenthal zu tun hatte, traf er den Richter, den jovialen, gutgenährten Herrn, und fragte ihn glatt, wie er den Widerspruch aufklären könne, daß man, noch dazu unter der Drohung des vorerwähnten Ministerbefehles, so vorgehen konnte.

„Wem sagen Sie das", antwortete der Richter verlegen, „es war natürlich kein gesetzlicher Haftgrund da — aber gegen die Staatsanwaltschaft kann unsereins doch nicht auf kommen! Sonst riskiere ich meine Stelle, zumindest, meine Karriere!“

„Und nun frage ich mich“, wendete sich der Architekt dem Sektionsrat zu, „ob die Zustände in Arad wirklich so viel schlimmer sind als bei uns?“

„Deine Frage ist wert, sich damit zu befassen", ließ sich nach einer Pause der Vierte in der Runde vernehmen. „Ich bin zwar nur Priester, aber als Hochschullehrer bekommt man immerhin mit der juristischen Fakultät manchmal Fühlung — und die staatliche Gerichtsbarkeit, das ist mein Hobby! Bevor ich aber sage, wer von den beiden Richtern anständiger gehandelt hat, der von Arad, der offen das Geld verlangte, oder der .von Annenthal, der seine Pflicht zur selbständigen Beurteilung staats- anwaltschaftlicher Anträge zugunsten seiner Karriere (also ebenfalls seinen privaten, persönlichen Interessen!) hintanstellte, muß ich euch meine freilich unmaßgebliche Ansicht über das Allgemeine in den beiden Fällen explizieren: die Rechtspflege pendelt naturnotwendig zwischen den beiden Polen, deren Vertreter die beiden Richter waren, nämlich dem überspitzten Prinzip der Gerechtigkeit und dem des

Formalismus. Zwar taten beide Richter das ihrem Prinzip Zukommende mit verkehrtem Vorzeichen; das Prinzip der Gerechtigkeit artet nämlich, verzichtet es auf die Form, in Willkür aus, und ebendasselbe gilt für die extreme Konsequenz des Formalgedankens. Beider bedarf die Rechtsprechung — und nur wenn sie sich die Waage halten, ergibt das die beste Justiz! Das einfache Volk will nichts von Formalismus wissen — es ruft nach gerechten Urteilen. Doch was fängt der Mann von der Straße mit einem noch so trefflichen Urteil an, wenn es nicht vollstreckbar ist? Vollstreckbar, rechtskräftig, mit einem Wort: gültig wird ein Urteil aber nicht durch seinen Inhalt — die Lösung der Rechtsfrage —, sondern durch die — sagen wir ruhig — äußere Form — eine Tatsache, die immer schon so war, denn auch das Urteil des Priesterrichters der grauen Vorzeit galt nur, wenn es in gehöriger kultischer Form verkündet war, nur daß die äußeren Formfragen kürzer und verständlicher gelöst wurden als heute. Die moderne Jurisprudenz neigt dazu, die Frage nach der Gerechtigkeit immer mehr und mehr zur Nebensächlichkeit zu stempeln. „Rechtskraft saniert!“ Seht euch ein modernes Urteil an: zehn Seiten und mehr handeln von Prozessualfragen — unerschöpflich ist darin die Phantasie der Gerichte, besonders des Obersten Gerichtshofes — doch die eigentlichen Anliegen der Parteien, die Rechtsfragen, werden oft ganz am Ende mit einer flüchtig hingeworfenen Zeile erledigt.

Der kompliziertere Fall, von dem wir heute hörten, ist jedenfalls der des Annenthaler Gerichtes; denn hier ist die unmenschliche Konsequenz, die sich letztlich drüben mit der Uebertreibung des Gerechtigkeitsprinzips in der Willkür trifft, nicht so in die Augen springend — und anderseits ist darin unser heutiges Dilemma des ganzen öffentlichen Lebens beschlossen. Denn die Hintansetzung des Gerechtigkeitsprinzips ist eine notwendige Folge der Ausschaltung der Religion! Man verwirft das

Uebersinnliche als Basis der Rechtsfindung und wendet sich dem vermutlich Realen zu, das heißt, man erschöpft sich in der Meisterung der äußeren Merkmale im sogenannten Rechtspositivismus. Man schärft die letztlich handwerkliche Meisterung des Formalen, man studiert auf den Hochschulen nicht mehr Theologie, um ein guter Jurist zu werden, sondern Prozeßkunde. Da aber die heilige Moral ausgeschaltet ist, besteht für die staatlichen Gerichte keine andere Richtschnur mehr als die sogenannte herrschende Lehre, das heißt, was Recht ist, bestimmt das Höchstgericht und nicht mehr das Gewissen, die Moral, und wenn das Höchstgericht nicht mehr weiß, wie die Zehn Gebote lauten, ist die Folge davon jene allgemeine Malaise des öffentlichen Lebens — wie eben bei uns. Jedenfalls auf vielverschlungenen Wegen bindet so die Obrigkeit den einzelnen Richter trotz aller nur auf dem Papier stehender Unabhängigkeit — und das führte zum Falle von Annenthal, das führte zum Typus von Annenthal.“

Der Sprecher fuhr fort: „Es steht mir nicht zu, Reformvorschläge zu machen — ich darf höchstens darauf hinweisen, daß die Kirche auch, und in sehr weitem Umfang, eine Rechtsprechungsanstalt ist, und daß sie, trotz der Verheißung des Heiligen Geistes, in diesen Sachen weit realistischer denkt als der Staat, daß sie sich keineswegs wie dieser begnügt, seine jungen Leute nur die Formprobleme studieren zu lassen, um sich im übrigen darauf zu verlassen, daß die Gerechtigkeit so nebenher schon dazu gegeben werde — das hieße Frevel an Gott und Mißbrauch der heiligen Weihen, so verworren zu denken. Ich würde also, wenn ich über eine juristische Studienreform gefragt werde, für das Studium der Moral plädieren! Laßt mich somit schließen: wenn ich aus diesen Aspekten die beiden Fälle von Arad und Annenthal betrachte, müßte ich ehrlich sagen: wer mir von den beiden Richtern noch eher gefällt, ist der von Arad!“

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