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DIE BIBLIOTHEK

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Der unseren Lesern gut bekannte Autor feiert am 19. November seinen 70. Geburtstag.

Als der zweistöckige Autobus uns wie ein stürmender Turm an das Gebäude herantrug, befiel mich wieder jener geheimnisvolle Schauer. Nicht, daß er etwa von der Architektur ausging, nein, nicht diese mühsamen Caracallathermen, sondern ihr Inhalt war es, der mich schauem machte. Er war so phantastisch, daß ihn der Gedanke auch in der schlaflosesten Nacht nicht erreichen konnte, sondern wie eine hochfahrende Rakete zerplatzend, kraftlos in goldenen Tropfen absank.

Denn es war das Haus der Büöher.

Scheu schob ich über die polierte Marmortheke meinen gar tiicht marmornen Paletot, scheu Schlich ich unter den riesenhohen Wölbungen des Tepidariums, wo ein paar Mitbürger, Freunde, Römer stullenessend auf und ab spazierten: Und wie ich so über die grauen Treppen ging, war es mir, als ob ich mikrobenhaft durch die Windungen eines ungeheuren Hirnes wanderte — des Gehirnes der Menschheit. Ein Bild schoß mir- durch den Kopf, wie ich es vor vielen Jahren als Kind gesehen hatte, gemalt an eine Jahrmarktbude — wie ein Verurteilter bis ans Kinn in die Erde eingeschaufelt wird… das war der Held Menschheit, dem immer wieder alle Gliedmaßen begraben wurden und abstarben bis auf diesen Kopf voll aufgespeicherter Gedanken! Unfaßbarste aller Erfindungen, die es fertiggebracht hat, das Leben — eben diesen Augenblick, wo Spatzen zwitschern, zwei Autos hupen, ein Teppich geklopft wird — in kleine schwarze Schnörkel zu verwandeln, die, eng aneinder gedrückt, Zeile an Zeile, Band an Band, hier die Nächte durchwinterten in traumlosem Dornröschenschlaf. Sie waren tot; das Lallen des Säuglings, der dort in der Sonne seinen Luftballon anlachte, war unvergleichlich lebendiger! Verstaubt, schon ein wenig angedorben, warteten sie wie jener tote Lazarus auf den mächtigen Anruf zu der Auferstehung. „Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke.” Ohne diesen Anruf waren sie nichts, neidvoll aufblickend zu der Nützlichkeit eines Pflastersteines. Mit ihm waren sie alles.

Wirklich, alles. Der ganze Film Universum, Abteilung Sonnensystem, Produktion Terra, rollte hier vor einem idealen Publikum ab, welches vielleicht bemerkte, daß er zuweilen gewisse Längen aufwies. Alles war Wort geworden, nein, Druckerschwärze auf Papier: die langen Schatten des Sonnenaufgangs, die spinnen- fingrdgen Lichtstrahlen des Fichtenwaldes, das goldene Singen der Herdflamme, das plätschernde Schaukeln der Sterne auf den Ozeanen. Längst verschollene Gedanken längst verschollener Gehirne waren hier abgedrückt wie eine Schachtelhalmflora im Kohlenflöz. Hier verkündigte einer, daß die Erde platt sei wie ein Pfannkuchen; dort murmelte ein anderer mystisch, sie schwimme auf drei Walfischen; und ein dritter empfahl bereits die beste Round-the-world-Route via Brindisi, Hongkong und San Franzisko. Ah, es war die große Selbstbiographie des Homo sapiens: hier lief ein verdurstendes Griechenheer auf den Fluß zu, der doch ein Hinterhalt war, und trank sterbend noch von den blutigen Wellen; dort bereits berichtete ein englischer Reisender, daß Thukydides damit nur die und die Stelle des Flusses gemeint haben könne, worauf ihm sechsundzwanzig Kommentatoren wütend widersprachen, teils auf englisch, teils auf latein, Latein, nüchternste aller Sprachen, wird vom Übersinnlichen angerührt, wird Sprache der Entzückung, gewinnt Auftriebskraft zur höchsten Abstraktion, magert ab zum Schulgespenst — in diesen Büchern. Ganze Foliantenarmeen rückten gegeneinander los auf Grund eines Druckfehlers, und die Bücher, die die Welt veränderten, sahen genau so aus wie alle anderen.

Tausend Dichter schrieben hier, daß vor diesen Lippen, diesen Haaren, diesen Augen alles Schreiben in nichts zerfalle; und die Augen zerfielen! Aber das Schreiben blieb. Irrtümer wurden zwanzigmal widerlegt, um zum einundzwanzigsten wieder aufzuschnellen, herrlich wie am ersten Tag. Immer wieder schrie alles: „Also, jetzt woll’n wir mal vernünftig sein!” — um dann auseinanderzugehen, als wäre nichts gewesen. Gebete, Liebes- schreie, Ideen, Erkenntnisse — alles klang in allen Sprachen durcheinander, immer wieder verschlungen vom schnarrenden

Eselschoral der Banalität. Der ganze Ruhm und die ganze Schmach der Menschheit standen hier verbucht; es war ein riesiges Tugend- und Sündenregister, an dem fortlaufend weiter kollaboriert wurde bis zum Ultimo des Jüngsten Gerichts. Einen Himmel und viele Höllen barg dieses schicksalhafte Gehirngebäude — ruhig stand es da und gab Himmel wie Hölle gleichmütig heraus mit dem Katalogstempel.

Ich war diesem Gebäude dankbar, wie man der unerschöpflichen Erde dankbar ist. Der Gedanke an die Gedanken, die in ihm aufgekellert lagen, machten einen heiß zu allen Abenteuern. Ich,:hatte hier -manche Stunde, gestanden in, staubiger Bohrarbeit durch die ‘Erzadern seiner Foliantenreihen. Doch am aufregendsten war es, inihm nach Büchern zu suchen, die man nur dunkel ahnte — es mußte sie irgendwo geben. Bücherjagd! Schon läuft man in den Kuppelraum der Lexika, wo auf der grünen Wiese der Leselampen tausend Köpfe in rinderhaftem Ernste grasen, und schlägt nach in Enzyklopädien. Dann kam die engere Umzingelung im Katalog nebst fieberhaftem Stöbern durch die Realregister. Und endlich hält man es in der Hand, das Buch, und ersieht aus seinem Zustand, daß es — ein Jahrhundert lang — noch niemals gelesen worden ist:

Wenn plötzlich eine Rolle Pergament, drinn noch Gedanken ruhn, die keiner kennt, schlummernd in seltner Hieroglyphen Nacht, nun Macht erlangt durch ihres Inhalts Macht — Bezaubernder Augenblick! Wo der Funke den Staub durchschlägt und Geist aufflammt! Andere fahren nach Persepolis, um Götterbilder aus dem Schutt zu heben —, zu meinen archäologischen Ausgrabungen führt der Autobus, Linie 2.

Manchmal pirscht man bloß so, aus Langeweile, Büchern nach, die es vielleicht geben könnte … So ging ich eines Tages „in” den Katalog und schlug den Namen eines Vorfahrens nach, von dem ich nur wußte, daß er gern im Grase lag mit den Augen im Himmel, und dabei einen Band Gedichte verfaßt haben solle … Das Buch war da. Unfaßbar. Nun wurde ich kühner und schlug meinen eigenen Namen nach. Ich hatte es schon halb vergessen, aber das Riesengehirn hatte es nicht vergessen — da stand das Buch, mein Buch, säuberlich vermerkt. Auf einmal entsann ich mich aller Lust und Schmerzen, die mir das Wortwerden der Gedanken damals gemacht hatte — und plötzlich wußte ich, wieviel Glück und Unglück in die Millionen Bände hier eingedruckt war.

Stolz verließ ich das Gebäude, ich gehörte dazu. Dieser Katalog war auf sehr solidem Papier gedruckt… das war mein Friedhof, wo ich jederzeit exhumiert und zu einigem Leben erweckt werden konnte. Und ich schleuderte in gehobener Stimmung auf dem Trottoir. Die Menschheit — ich meine, die Straßenpassanten — ging scheinbar selbständig auf und ab. Und keiner sah die Gängelbänder, die ihn mit der ungeheuren Zwingburg der Ideen verknüpften. In diesen Gedanken stieß ich auf einen der Bücherkarren, die das Bibliotheksgebäude umsäumten. Fast mechanisch schob ich eine Scharteke nach der anderen zur Seite. Da. Ich hatte einen Steckkontakt unvorsichtig angefaßt, ich zuckte zusammen. Da lag es, mein Buch. Und gleich in zwei Exemplaren.

Ein Mann aus der Menge, das heißt der Menschheit, trat heran, nahm mein Buch in die Hand und legte es sogleich uninteressiert, beinah verdrossen, zurück. Ein anderer kam und tat desgleichen, nur daß er dabei noch gähnte. Sollte ich mein eigenes Buch kaufen, es retten? Doch nein — das erschien mir wie ein unerlaubter Eingriff in einen naturgewollten Prozeß: die Bücherkarren und die Käsehändler, das waren die beiden unerbittlichen Kritiker! Ich bedauerte bloß den Baum, der sein blühendes Leben für die Holzmasse hatte hingeben müssen. Aber schließlich: eine Familie Bücherwürmer wird auch mit der Unsterblichkeit einer Katalognummer ohne Verdauungsbeschwerden fertig… Und was wird aus den Gedanken? — die waren, hoffe ich, vor den Büchern da. Also werden sie auch nach den Büchern — —?! Und beim Weiterschlendern fiel mir ein Satz, ein Satz aus meinem Buch ein:

„Die Sonne geht auf und löscht die Laternen aus.”

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