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Die Boten

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Das Haustor steht halb offen. Eine dämmerige, stille Luft hat sich im Flur vor dem Straßenlärm zurückgezogen. Von hier aus erscheint das Haus leer. Es ist, als gäbe es hier keine Menschen, keine Katze, keine Kinder, keine Geräusche von zuschlagenden Türen, von rauschenden Wasserleitungen. Draußen auf der Straße gehen Leute schnell vorbei, die Straßenbahn rasselt vorüber, Autos flitzen, Kinder lärmen, aber hier ist es still und kühl.

Zwei Männer bleiben zögernd vor dem Haustor stehen. Der eine sagt: „Ist es hier?" Der andere hebt etwas den Kopf, sucht das Hausschild und nickt dann: „Sechzehn, ja, hier wohnt er.“ Und er geht voran, schiebt den Torflügel zurück und, als erinnerte er sich jetzt des anderen, dreht sich um: „Komm!“ macht dabei eine Bewegung mit dem Kopf, die die Aufforderung enthält, mitzugehen und gleichzeitig irgendwie in die Richtung weist. Der andere wirft die ausgesuchte Zigarette fort und zuckt mit der Schulter, ohne das dazugehörige „Also mir soll’s recht sein!“ auszusprechen.

Der Mann, der vorausgegangen ist, wartet, bis der andere an seine Seite tritt, und meint dann halb vorwurfsvoll: „Na, einer muß es ihr doch schließlich sagen!“ Der andere sieht ihn an. „Im wievielten Stock wohnt er denn?“ — „Im dritten, glaub’ ich.“ — „Im dritten“, wiederholt er, und während sie langsam die ersten Stufen hinaufsteigen, nimmt er seine Schildmütze ab und streicht die unordentlich gekämmten Haare zurück.

Das Haus ist ganz still. Sie hören ihre eigenen Schritte mit aufdringlicher Überdeutlichkeit. Sie schleifen etwas mit den Schuhen auf dem Boden, bevor sie richtig auftreten. Sie sind müde, die Füße sind ihnen schwer. Sie haben den ganzen Tag gestanden, jetzt hängt ihnen außerdem noch Blei daran. Nicht wirkliches Blei, aber der Auftrag.

Der eine stützt sich auf das rostige Geländer. Die Hand ist schmutzig, voller Ruß und CHflecken. Er sagt zum anderen: „Noch nicht einmal Zeit gehabt, die Hände abzuwaschen.“ Der antwortet vor sich hin. „Das ist wohl wichtiger.“

Im ersten Stock angelangt, bleiben sie stehen. Ein langer Gang führt vom Stiegenhaus fort und sieben, acht Türen münden darauf, alle verschlossen. Jede ist die Mauer eines ganz kleinen Reiches, eines Reichs von ein paar Betten, einem schmierigen Tisch mit wackligen Stühlen, einigen verstaubten Bildern an den Wänden, mit Speisengeruch in allen Zimmern, mit Wänden, die den Schall von Liebkosungen und wütenden Streitereien und sinnlosen Zornesausbrüchen aufgenommen haben. Gleich neben dem Stiegenaufgang ist eine Wasserleitung. Sie ist nicht ganz ordentlich zugedreht und unaufhörlich quillt ein Tropfen aus dem Rohr und fällt mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden auf. Der eine Mann, der mit der Sportmütze, geht hin und dreht mit seiner breiten Arbeiterfaust den Hahn kräftig zu. „Das kann ich nicht leiden", sagt er und macht ein mißmutiges Gesicht. Der andere verzieht nur die Mundwinkel.

Auf dem Treppenabsatz ist das Fenster geöffnet. Im Vorbeikommen wirft jeder einen Blick hinaus. Nur Häuser, Häuser mit vielen Fenstern, in manchen hängt Wäsche. Unten im Hof liegt zusammengekauert ein Hund. Hinter einer zurückgeschobenen Gardine sehen sie eine Frau, die den Kopf über eine Nähmaschine beugt. Grade treibt sie mit der rechten Hand das Rad an. Dann setzen sie ihren Weg fort, aber für kurze Augenblicke verarbeiten sie noch das Bild vom Hof, von den vielen Fenstern und von dem kleinen Stück Himmel darüber.

Im zweiten Stock angelangt, bleiben sie wieder stehen. Endlich hören sie Stimmen. Das Haus ist doch nicht ganz tot. „Nein“, schreit eine aufgebrachte, ältere, etwas heisere Stimme, „nein, das gibt es nicht!“ Die beiden horchen, unwillkürlich starren sie auf die Tür, die nicht dicht genug ist, um diese Worte zurückhalten zu können. Die Antwort ist nür ein unverständliches, dumpfes Murmeln, das jäh von derselben Stimme gellend unterbrochen wird: „Nein, das gibt es nicht, wer soll denn…" Dann wird eine Tür heftig zugeschlagen, gleich klingt alles viel entfernter, als wäre eine Wand aus grünem Wasser dazwischengetreten. Sie lehnen sich an das Geländer. Keiner hat Lust, weiterzugehen. Sie blicken die Stiege empor, die in drei Absätzen hinaufführt. Sie wissen: in ein paar Minuten werden wir dort oben an eine Tür klopfen, in ein paar Minuten werden wir… Aber noch ist es nicht so weit.

Der eine murmelt etwas. Der andere fragt: „Was ist?“ — „Ach", eine unbestimmte Bewegung mit der Hand, recht schwer das." Dann schweigen sie beide. Sie erinnern sich des Vorfalls, der sie hierher führt. Gestern um diese Zeit waren sie auf dem Heimweg. Heute zwingt sie ein flirrender, unbarmherziger, gewaltsamer Transmissionsriemen zu dieser Abweichung von ihren Gewohnheiten. Sie müssen zu einer Frau, sie müssen ihr etwas mitteilen. Der Werkmeister hat ihnen den Auftrag gegeben. „Ihr wohnt ohnehin in der Nähe vom Haberbeck, geht doch zu seiner Frau hin!" Jetzt sind sie im Haus, wo die Frau wartet. Vielleicht ist das Essen schon fertig, vielleicht stellt sie eben die Töpfe vom Feuer und schaut gerade für einen Augenblick auf die hart tickende Küchenuhr. Oben im dritten Stock! Während schon im zweiten die Männer nur etwas zögern, die Männer, die ihr mitteilen sollen, daß sie…, daß sie… Die beiden fassen die Botschaft selbst in ihren Gedanken nicht in Worte.

Eine der vielen Türen geht auf, und eine Frau kommt eilig heraus. Die beiden erschrecken und sehen sie verlegen an, die sie im Vorbeigehen mißtrauisch mustert. Dabei strafft sie ihr Umhängetuch fester um ihre Schultern und klappert schnell die Treppen hinunter.

Aber wieder geht eine Tür. Jetzt im dritten Stock. Ganz betroffen drehen sie sich um und starren dorthin, wo die Stiege im oberen Stockwerk einmündet. Ein leichtes Schlürfen, dann werden zwei magere Beinchen sichtbar, die in roten Strümpfen stecken, ein zerknittertes Kinderkleid in einer ganz verwaschenen Farbe, ein kleiner Kopf mit glatt gebürsteten Haaren, einer kleinen armseligen roten Masche darin. Ein vielleicht vierjähriges Mädchen kommt langsam herunter. Die linke Hand stützt sich an die Mauer und schiebt sich Schritt für Schritt weiter. Die Rechte preßt eine junge graue Katze unbeholfen an das Kleidchen, und das Kätzchen erduldet stumm und ohne jede Bewegung diese unbequeme Haltung. Die beiden Männer starren das Kind an, bis es vor ihnen steht. Große Augen heben sich zu ihnen hoch, und die kleine linke Hand faßt jetzt die Katze am Rücken und drückt das geduldige Tier fester an die Brust. Der Mann mit der Sportmütze beugt sich über das Mädchen, krault mit dem Zeigefinger das Fell des Tieres und fragt mit einer ganz weichen Stimme: „Wie heißt du denn, Kleine?“ Ein piepsiges Stimmchen antwortet ihm: „Liesl Prohaska." Er richtet sich wieder auf, sagt zu dem Kind: „Ist gut, Kleine", faßt seinen Kameraden am Arm: „Komm, Karl!“ Während sie hinaufschreiten, sehen sie das Kind abwärtssteigen mit vorsichtigen Schrittchen und einem ganz ernsten Gesicht. Der eine, der ihr noch nachschaut, sagt: „Ich hab’ schon geglaubt, das wär’ seine!“ — „Er hat nur einen Sohn, der ist in der Lehre", erklärt der andere.

Das Stiegenfenster steht hier auch offen. Aber sie werfen jetzt nur einen gleichgültigen Blick hinaus. Denn da, nur noch wenige Schritte entfernt, da ist eine Tür mit dem Schild: R. Haberbeck. Vor der machen sie endlich halt.

Der eins ist ganz bleich geworden. „Ich bring’ kein Wort heraus!“ Der andere reißt wieder seine Schildmütze herunter und fährt mit seinen öligen Fingern durch das unordentlich gekämmte Haar. „Na, einer muß es ihr doch schließlich sagen." Dann setzt er seine Mütze energisch auf, stellt sich auf den ausgefransten Fußabstreicher, beugt sich lauschend etwas vor und sieht dabei seinen Kameraden an. Der knetet mit den Händen unruhig an den Ärmelenden herum: „Na, klopf doch schon!“ Hinter der Tür ist es still, ganz still. Der eine schlägt jetzt mit dem Knöchel der Rechten dagegen, zuerst ganz zage, dann noch einmal kräftig. Hinter der Tür bleibt es noch ruhig, aber dann geht eine andere Tür, Schritte, Schritte, die näherkommen, eine Frauenstimme: „Wer ist da?“ Der Schlüssel dreht sich im Schloß, und die beiden sehen, daß die Türklinge niedergedrückt wird. Und dann geht diese Tür auf.

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