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Die Chance unserer Freiheit

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Vor wenigen Tagen fand in Wien eine politisch-kulturelle Diskussion statt, die im Zusamenhang mit einem kulturpolitischen Ereignis hohe Beachtung verdient.

Denis de Rougemont, der angesehene Vorkämpfer des Europagedankens, der auch bei uns wohlbekannte Schriftsteller, hielt zunächst einen Vortrag: .Was sind unsere tatsächlichen Freiheiten?“ Er wandte sich hier gegen einen in Westeuropa, zumal in intellektuellen Kreisen, weitverbreiteten Defaitismus, der geneigt Ist, angesichts der Bedrohung des Abendlandes die Waffen zu strecken, wobei er seine Feigheit unter allerlei Mänteln tarnt. Verdienstvoll und schlagkräftig zeigte Rougemont auf, daß Europa noch bedeutende innere und materielle Werte besitze, die es in der Abwehr des Schrecklichen zu mobilisieren gelte.

In der vom österreichischen College veranstalteten öffentlichen Diskussion unterstrich Nationalrat Czernetz diese Ausführungen durch den Hinweis auf den heroischen Abwehrkampf demokratischer Arbeiter gegen den Terror in den totalitarisierten Betrieben und nannte diesen Kampf mit Recht ein Vorbild für die schwankende Position mancher Intellektueller auch bei uns; er unterließ es auch nicht, hinzuzufügen, daß dieser politische Kampf um die Freiheit von den Massen auf die Dauer nur durchgestanden wird, wenn er zugleich als Kampf um das tägliche Brot begriffen werden kann.

Als dritter Partner in diesem Gespräch glaubten wir, folgendes festhalten zu müssen — eine beschämende, das ganze geistige und kulturelle Wien beschämende Aktion verpflichtet uns, diese Tatsachenreihe noch einmal darzulegen.

Politischer Kampf um die Freiheit? Jawohl. Wirtschaftlicher Kampf ums Brot? Jawohl. Dieser Kampf läßt sich aber nicht gewinnen, wenn hinter den tapfer Kämpfenden — sich ein Hohlraum verbirgt: das Schloß Österreich, als ein ehrwürdiges Gebäude, in dem viele Räume leer stehen. Ein riesiger Raum, der Schätze birgt, derer sich niemand bedienen will. Es besteht die große Gefahr, und sie ist unseres Erachtens letztlich die größte, daß man sich in immer breiteren Kreisen nur der ni ederen Freiheiten bedienen will, der Freiheiten, die da in „Sex“, „Comic-book“, Stadion und Würstelstand verwaltet werden — auf die höheren Freiheiten aberbewußtundmehrnoch unbewußt verzichtet. Gewiß, es ist viel bei uns darauf angelegt, den Menschen der Freiheit zu entwöhnen. Da lullt ihn das Radio ein, da hüllt ihn der Film mit seinen Phantasmagorien ein, da füttert ihn eine Romanliteratur mit billigsten Reizstoffen, nährt ihn mit vorbereiteten Pastillen. Der Mensch wird so zu dem, was eine Hauptperson von Eliots „Cocktail Party“ von sich sagt, plötzlich erschauernd im ersten Selbsterkennen: „Ich bin nur mehr eine Kette abgestandener, verbrauchter Reaktionen.“ Nicht verschwiegen werden kann hier die Schuld einer gewissen Tagespresse — sie liefert fertige Meinungen ins Haus, verarbeitet die Angst- und Haßkomplexe in gängiger Form; „Krieg“ wird hier gemacht, Meldungen werden montiert wie die Stoffe in der Filmindustrie, die aus dem Menschen eine kleine zittrige Lust-Unlust-Maschine macht.

Die allgemeine innere kulturelle Situation erzwingt den Schluß: wir Österreicher könnten große, herrliche Freiheiten besitzen, in unserem Europa, wir lassen sie aber vermotten, verfallen und zerstören sie selbst. Jede Freiheit stirbt, die nicht genutzt wird, derer mansichnichtrichtigbedient.

Und wir verzichten auf unsere höheren und höchsten Freiheiten.

Da ist zunächst zu nennen die Denkfreiheit, die Lern- und Lehrfreiheit. Die Krise unserer Hohen Schulen, der Volksbildung, der Akademiker hängt ihr an. „Man“ interessiert sich nicht mehr. Die Lektüre hochwertiger Bücher geht rapid zurüdc. Wir stehen in diesen Tagen in Wien vor dem Ende des freien Theaters, des Privattheaters; in Wien, der Theaterstadt Europas; ernste Stücke, Problemstücke „ziehen“, „gehen“ nicht. Die Subvention für Kunst- und Wissenschaft, für diese höheren Freiheiten, macht einen winzigen Bruchteil jener für den Sport aus. Ganz Österreich war in Aufregung, als eben die Fußballer mit Streik drohten, die Wissenschafter streiken nicht, und bei den Theatern streikt schon lange das Publikum.

Wir verzichten freiwillig, und heute bereits, auf die Freiheit des Genusses der höheren Kulturgüter. „Man“ liest nicht mehr; selbst Stifter und unsere österreichischen Klassiker erstarren in unseren müden Händen zu verrühmten Fetischen. Selbst anspornende kulturelle Wettbewerbe finden nur geringes Interesse. „Man“ setzt sich nicht mehr auseinander, „man“ urteilt, ohne zu kennen, ab. Man verzichtet täglich auf die Demokratie, gibt sie täglich preis, weil man die höheren Freiheiten nicht zu praktizieren wagt: das lebendige Ergreifen unserer kulturellen und geistigen Güter. Nur am Rande, in Klammern sozusagen, sei hier darauf verwiesen. An diesem einen und ersten Verzicht hängt der andere folgenschwere: der immer mehr um sich greifende Verzicht auf die Freiheit, Verantwortungzu übernehmen, Verantwortung zu tragen — die Freiheit, selbst unser Leben zu gestalten, zu formen, zu planen und zu bauen. Wir lassen uns gleiten und überlassen den materiellen Raum der Wirtschaft etwa und den öffentlichen der Politik, sagen wir „Anderen“, und suchen den nächstliegenden Unterstand auf in einer Verbeamtung, die weiteste Kreise nicht nur der Akademiker verzehrt.

Schwarzseherei? Defaitismus? Nein, das gerade Gegenteil: weilwir um die Kraft des aufbauenden Glaubens wissen, um seine Quellströme, einer der stärksten ist die Freiheit, sind wir verpflichtet, auf dieses schmähliche Schauspiel der Preisgabe, des Verrates unserer höchsten Freiheiten hinzuweisen und diesen an einem Beispiel zu illustrieren.

Der Wiener Fall der „Cocktail Party“ reicht in tiefere, bestürzendere Gründe hinab als der Skandal um den Film „Die Sünderin“. Eliot, des Nobelpreisträgers Komödie „Die Cocktail Party“ ist, wir wiederholen es, eines der bedeutendsten Bühnenwerke unserer Zeit. Mit Recht hat sie überall, wosieaufgeführtwer-den durfte, in der westlichen Welt also, eine Fülle fruchtbarster Auseinandersetzungen hervorgerufen. Kein Zufall, kein Wunder auch: in umfassender Weise wird die Frag Würdigkeit, aber auch Frag Würdigkeit unserer Gesellschaft hier zur Darstellung gebracht. Die erste deutsche Buchausgabe war binnen weniger Tage ausverkauft; diese Tatsache kann den Wiener Kulturpäpsten, die sie mit ein, zwei Ausnahmen alle nicht gelesen haben, keine Entschuldigung bieten. Sie hätten sie vorher lesen müssen, denn wie der einzige unabhängige liberale Kritiker von dieser sagt, „bedarf sie (zunächst wenigstens) weniger des Kritikers als des Erklärers.“

Was geschah nun in Wien? Hier trafen sich, wie so oft in letzter Zeit, eine mehr von Rechts und der Mitte herkommende Welle des Unverstandes, der Herzensträgheit, des Mangels an Bildung mit einer von Links herkommenden Flut einer sehr bewußten politischen Diskriminierung, um das Drama wegzufegen.

Es war dasselbe Wien, das zum Empfang des jüngst verstorbenen Mou-nier ein halbes Dutzend Zuhörer aufbrachte, für einen Gabriel Marcel an drei Dutzend Menschen.

Was lehrt uns dieses Schauspiel um die „Cocktail Party?“ DerRaumderFrei-heit, jener Raum, in dem die Freiheit zu geistiger Auseinandersetzung, zum Verantworten der hohen Güter gewagt wird, wird bei uns von Stunde zu Stunde enger, weiler von den verantwortlichen Kulturträgern selbst aufgegeben wird. Darf man ich wundern, wenn unter diesem Regime das Volk in Massen an den Kassen der „Sünderin“ gestaut wird?

Lassen wir uns warnen. Wir geistig Schaffenden tragen die Verantwortung: wir haben heute das Volk zu führen zum Verstehen und Begreifen der höheren Werte und Freiheiten, wir haben uns nicht selbst zu Wortträgern jenes Unverstandes, jener Unbildung, jener politischen Hetze zu machen, die zuerst die Nivellierung und Gleichschaltung auf dem niedrigsten Niveau bereiten und dann uns alle im politischen Eintopf der Diktatur einschmelzen.

Das ist die eine Chance unserer Freiheit: nicht die Denunziation, sondern die Proklamation, die bezeugende Bekundung, Erklärung, Erläuterung jener höheren geistigen, seelischen und kulturellen Güter, die zu allen Zeiten den Massen des Volkes nur durch sorgende Mittler zugänglich waren.

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