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Die Denkwürdigkeiten Kazimierz Chledowskis

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(Pamiętniki. Wroclaw. Zaklad Narodowy im. Ossollriakieh 1951. 2 Bande, Oktav, XXIV, 300; 400 Seiten)

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(Pamiętniki. Wroclaw. Zaklad Narodowy im. Ossollriakieh 1951. 2 Bande, Oktav, XXIV, 300; 400 Seiten)

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Die polnische Literatur war von jeher reich an Denkwürdigkeiten, deren literarischer Wert dem als Geschichtsquelle und als Zeugnis gesellschaftlicher Zustände gleichkam. Es sei nur an die buntbewegten Memoiren des Jan Chryzostom Pasek aus dem 17. Jahrhundert erinnert, die ein echteres Gegenstück zum „Simplicissimus Grimmelshausens bilden (Paul Cazin hat sie meisterhaft ins Französische übersetzt), an die Denkwürdigkeiten des Andrzej Kdtowicz aus dem 18. Jahrhundert und an die brillanten, geistreichen des Stanislaw Morawskd aus der Zeit der jungen Romantik.

Kazimierz Chlgdowski, der von 1843 bis 1920 lebte, ist den Lesern des deutschen Sprach- raums als Verfasser glänzender Schilderungen aus der Welt der Renaissance und des Barocks bekannt — oder sollen wir sagen: bekannt gewesen? —; sie sind den Werken Jacob Burckhard'ts und Gobineaus ebenbürtig. Von den Romanen und Reisebüchern des Autors ist dagegen nichts über die polnischen Sprachgrenzen gedrungen. Kaum einer unter denen, die sich am „Hof von Ferrara“ und an „Rom“, an den „Neapolitanischen Geschichten" und am „Italienischen Rokoko“ ergötzten, wußte, daß der blendende Kunstschriftsteller vordem eine erfolgreiche Laufbahn als k. k. Staatsbeamter durchmessen hatte, die ihn für kurze Zeit sogar auf ein Ministerfauteuil führte. In eingeweihten Wiener und gatizischen Kreisen war freilich seit langem bekannt, Chigdowski habe Denkwürdigkeiten aufgezeichnet, in denen er seinen Witz und seine Rankünen an den Menschen ausließ, denen er im Salon, im Amt und in der Öffentlichkeit begegnet war. Die literarische Begabung des ungemein gescheiten, die Schwächen seiner Partner blitzschnell durchschauenden und gegen seine eigenen Unzulänglichkeiten sehr nachsichtigen Mannes trägt dazu bei, den Geschossen, die er aus dem Grabe gegen seine Zeitgenossen schleudert — wir würden mitunter sagen tödliche, also — treffende Kraft zu verleihen. Es handelt sich aber in diesen Memoiren nicht nur um eine Auseinandersetzung des eitlen, tief egoistischen, vom Schicksal begünstigten Strebers mit verachteteten minder Glücklichen, mit verhaßten Rivalen und mit beneideten Höhergeborenen oder Höher- gestellten, sondern um ein in seiner Vielfalt großartiges, getreues und erbarmungsloses Gemälde einer Epoche, oder eigentlich zweier Epochen, die zusammen Franz Josephs Regie- rungszeit ausmachen. Aus einem literarischen „regiement des comptes dans le milieu (le plus distingue)“, aus einer Abrechnung mit der vornehmen, reichen und mächtigen Umwelt, in der sich der Sohn des verarmenden Gutsbesitzers mit beiden Ellbogen arbeitend empordrängt, ein wenig Julien Sorel, ein wenig Rastignac, wird eine unvergleichliche Beschreibung zweier Milieus, zunächst des galdzisdien bis 1880, dann des allgemeinösterreichischen und besonders des Wiener bis nach der Jahrhundertwende.

Chlgdowski besitzt schon einige polnische Vorläufer, deren aufschlußreiche Memoiren durch die deutschösterreichischen Historiker nicht benutzt zu werden pflegen: die des Reichsratspräsidenten aus dem Sturmjahr und dann der Jahre 1881 bis 1893, Franciszek Srnolka, des Ministers und leitenden Politikers des Polenklubs, Ziemialkowski, deren kindische Überheblichkeit und Klatschsucht nichts an ihrer Stoffmenge ändert, des langjährigen Präsidenten des Polenklubs, Gouverneurs der österreichisch-ungarischen Bank, k. k. und dann k. u. k. gemeinsamen Finanzministers, zuletzt Schatzkanzlers des unabhängigen Polens, Leon Bilinski, und endlich die etwas rhetorischen, doch menschlich ansprechenden des Sozialistenführers und hervorragenden Redners Ignacy Daszynski. Keine der eben erwähnten Erinnerungen vermag an stilistischen Vorzügen, an Kunst des bissigen Porträtierens, an malerischer Begabung (die an Sienkiewicz gemahnt) mit Chlgdowski zu wetteifern.

Vor unsem Augen erstehen wieder: der gäldzische Adelshof mit seinen patriarchalischen Verhältnissen, die patriotisch erhitzte Atmosphäre der polnischen Hochschuljugend in den Jahren vor dem Aufstand von 1863 bis 1865 und während dieses tolltragischen Abenteuers, das unter Gohichowski dem Älteren Autonomie genießende, von der wieder im Lande herrschenden Szlachta regierte Kronland, in dem Ade] und Beamte dem Kaiser beweisen, „sie stünden hinter ihm", während Franz Joseph gnädig erklärt „My rozumiemy się“, „Wir verstehen einander". Die Landschaft erweitert sich, indem sie sich allerdings zutn Wiener Raum verengt. Chledowski kommt ins sogenannte Landsmannmiwiste- rluįft nach Wien, steigt im damals noch sehr geruhsamen Tempo die Stufen der bürokratischen Jakobsleiter hinauf und wird endlich, 1899, sechsundfünfzigjährig, Minister für Galizien. Nach kurzem Walten tritt er in den Ruhestand, zum Geheimen Rat ernannt und damit auf immer zur Exzellenz erhoben. Die Denkwürdigkeiten enden schon im zweiten Jahr des Otium cum dighitate. Des Autors schriftstellerischer internationaler Ruhm hebt erst nachher an. In den Memoiren ist er nur, doch mit wieviel Esprit, der fürs alte Österreich typische Hofrat (der auch Ministerial- sekretär, Sektionsrat, Sektdonschef, Minister sein kann), der Hofrat also mit künstlerischen und dichterischen Aspirationen, mit einer scharfen Zunge und mit stumpfem sozialem Gefühl, der würdig durch die Salons der Zweiten Gesellschaft, selten, und mit Unbehagen, durch die der Ersten Gesellschaft schreitet, von Stolz und Ehrfurcht gebläht noch seltener bei allerhöchsten Herrschaften erscheint.

Chlędowski hat alles das in Hülle und Fülle durchlebt. Was er von den Salons, dazu von Parlament und Amtsräumen berichtet, ist von dokumentarischem Wert, ein dauerndes Denkmal und Zeugnis vom alten Österreich und, unbeabsichtigt, für dieses alte Österreich. Auch aus den verschwenderisch umhergestreuten Bildnissen der Politiker, die im Vordergrund und der mannigfachen, meist männlichen, Egerien, die in den Kulissen oder durch Hintertüren Einfluß auf das Geschehen hatten, wird der Historiker großen Gewinn ziehen, mag auch Vorsicht gegenüber mancherlei Tratsch und gegenüber der oft überbordenden Mißgunst des Autors geboten sein. Dem geborenen Kritiker ist es einfach nicht möglich gewesen, keine Satire zu schreiben, und man muß von seinen Erzählungen stets einen starken Posten Bosheit ab- zdehen. Was aber unser Behagen an diesem glitzernden Werk des austro-polnischen Saint- Simon nicht vermindert.

Sehr peinliches Unbehagen empfinden wir aber, sobald uns Chigdowski nicht mehr satirisch, sondern satyrisch naht. Er verspürt den unbezwingbaren Drang, seine erotischen Triumphe unter Angabe von Namen und

Adresse der Überwundenen zu erzählen. Die sichtbare Freude, mit der aber alle sexuellen Irrungen und Wirrungen der galdzischen und der Wiener Gesellschaft in dieser Ausgabe der Chlędowski-Memoiren abgedruckt werden, gehört in den allgemeinen Zusammenhang jener Geschichtsauffassung, die aus der Einleitung des Edierenden, Antoni Knot, hervorleuchtet. Ihm dreht es sich, sei es die Veröffentlichung der Denkwürdigkeiten dieses gar nicht in die neue, sozialistische Zeit passenden Autors zu rechtfertigen, sei es aus innerer Neigung, darum, erstens den Verfasser als antiklerikalen Materialisten zu erweisen — was ihm unschwer gelingt —, zweitens aber, möglichst viel Material darzubieten, das die sittliche Verkommenheit und die Dummheit der Aristokratie, der Sztachta, dann des Wiener Hofes, der österreichischen Beamtenschaft und Finanzwelt, kurz der gesamten vormarxistischen Menschheit zeigt. Und mit diesem zweiten Anliegen, das in den uns zu Gesicht gekommenen polnischen Rezensionen des Buches stark und beifällig unterstrichen wird, hat Knot kein Glück. Chtędowski ist als Mensch höchst abstoßend, zum Sittenrichter nicht berufen, als Quelle von Gesellschaftstrasch durchaus unzuverlässig. Er kann mit seinen an sich farbensatten, prächtigen Schilderungen nicht als erschöpfender Zeuge gelten. Wenn nicht andere, dann erhärtet sich dies an der Tatsache, daß er ja in Wien nur ein wenig den Hof, etwas mehr die Aristokratie, vorab jedoch die Beamtenwelt, das Parament und die Finanzkredse sah; daß er zum Beispiel von der Universität, von der Literatur und von der Tonkunst kaum Notiz nimmt. Vergebens suchten wir in diesem Werk auch nur die Namen von Bruckner, Brahms, Gustav Mahler, von Klimt und Otto Wagner, von Karl Kraus und Hofmannsthal, ja der Ebner-Esehenbach, Saars, der Suttner, der Billroth und Krafft-Ebing, der Boltzmann und Eduard Sueß, der Arneth und Siekei. Ach, seiner Meisterschaft des Erzählens und des Konterfeiens zum Trotz, zeigt sich der feine Ästhet, der schlaue Politiker und tüchtige Beamte dennoch in seiner Beschränkung, in denkerischer und sozialer Beschränktheit.

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