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Die Dichter im Wald

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Peredelkino ist ein Vorort von Moskau. Bekanntlich ist dort eine Dichterkolonie untergebracht. Dort leben und schaffen die Größen der zeitgenössischen sowjetischen Literatur, dort lebte und starb auch der Dichter Pasternak. Etwas kritisch wurde Peredelkino einmal von Scholochov, dem Autor des „Stillen Don“, ins grelle Licht der Öffentlichkeit gezogen, und zwar, als der geistreiche Dichter in einer am XX. Parteitag gehaltenen Rede den Bewohnern von herrlichen Staatsvillen riet, sich mehr für das wirkliche Leben zu interessieren und die Welt nicht nur aus ihrem Schlupfwinkel (lies: Peredelkino) zu beobachten. Da wurde die Dichtersiedlung auf einmal zu einem Problem. Seit dieser Rede hat jedenfalls die Reiselust der Sowjetdichter bedeutend zugenommen. Auf wessen Initiative dies zurückzuführen ist, entzieht sich unserer Kenntnis.

Daß aber Peredelkino noch besteht, kann der Verfasser aus eigenem Erleben bekräftigen. Die Sache begann ganz einfach. Da ich mich schon aus beruflichen Gründen für die Sowjetliteratur interessiere, war es für mich eine Selbstverständlichkeit, in Moskau den sowjetischen Schriftstellerverband ausfindig zu machen. Ich stellte mich dort vor, zuerst beim Portier, dann bei einem eleganten, mir unbekannten Herrn, und lernte schließlich einige Herrschaften kennen, die in der Sowjetliteratur bereits einen Namen haben. Bei der gleichen Gelegenheit konnte ich im Schriftstellerklub ein mit unvergleichlicher Raffinesse zusammengestelltes Essen der alten, russischen Küche genießen, und viele Leute sehen, die mir aus den Illustrierten bereits bekannt vorkamen, also Prominente. Am Abend des gleichen Tages konnte ich einer Diskussion zum Thema „Ästhetik in der Literatur“ beiwohnen, was für mich insofern interessant war, als an dieser Diskussion (es war tatsächlich eine Diskussion) lauter Prominente teilnahmen und diese Diskus- sipn genau so verlipf, wrje pj j jför beliebigen Stadt,inj. Westen, ypj. ,5jch gehen würde, das heißt, daß die ‘.meisten „Berühmtheiten“ einige persönliche, ein paar kluge und — als Kontrastmittel — einige sehr gescheite Bemerkungen machten, welche den gelangweilten Zuhörern ihr Wissen und ihre besondere Art, fein zu denken, beweisen sollte. Für mich waren diese Reden vor allem deswegen interessant, weil sie mir zeigten, daß im Grunde genommen alle Menschen doch gleich sind. Überall die gleiche Eitelkeit, die gleiche Überheblichkeit und die gleiche Pseudobescheidenheit der Pseudoberühmtheiten, selbstverständlich auch die gleiche „gehobene“ Terminologie.

Der Zufall wollte es, daß ich einen von den tatsächlich Begabten und wirklich Bekannten der Sowjetliteratur kennenlernte und von ihm in seine Villa nach Peredelkino zu einem Nachmittagstee eingeladen wurde. Ich nahm die Einladung natürlich an.

Auf dem Weg nach Peredelkino

Die Fahrt nach Peredelkino an sich war schon ein Erlebnis. Bis man am Bahnhof eine Karte für den Vorortzug erhält, muß man eine kleine Saalschlacht durchstehen. Dann allerdings gab es keinerlei Belästigungen mehr. In der Sowjetunion gibt es auf den Bahnhöfen beim Ein- und Ausgang keine Fahrkartenkontrollen, auch keine Zugskontrollen. Die Züge, in denen man außer Eisverkäuferinnen keine „Amtspersonen“ sieht, verkehren mit preußischer Pünktlichkeit. Nach etwa einer Stunde Bahnfahrt erfuhren mein Begleiter und ich bei unserer Ankunft in Peredelkino, daß Wir noch zehn Minuten gehen müßten, um die Dichtersiedlung zu erreichen.

In der Nähe des Bahnhofs von Peredelkino überraschte mich eine architektonisch merkwürdig komplizierte Dachkonstruktion eines hinter einer dicken Mauer versteckten Hauses. Eine vom Alter gebeugte Klosterfrau bestätigte uns die Auskunft zweier lustiger Maurer, daß dies die Villa des Patriarchen aller Reußen, Alexis, des Oberhaupts der russisch-orthodoxen Kirche, sei. Das hatte ich nicht erwartet, in der Nähe der Stätte der Dichtkunst das Heiny des obersten Würdenträgers der russischen Kirche zu finden. Noch größer wurde mein Stauntn, als ich erfuhr, daß das Nachbarhaus ein

Altersheim für verdiente Kommunisten sei. Ich hatte keine Zeit, weitere Geheimnisse und Besonderheiten von Peredelkino zu ergründen, sondern eilte die malerische Straße entlang eines Waldes dahin — zur Dichtersiedlung. Rechts konnte ich noch den Waldfriedhof sehen, in dem unter einem Kreuz Pasternak ruht. Schließlich gelangt man auf eine große, freie, von Nadelwald begrenzte Fläche, aus dem die Dichtervillen lugen.

Von der breiten Hauptstraße biegen links in den Wald Nebenstraßen ab, die sich wie Waldschneisen ausnehmen, aber richtige, von Villengärten eingesäumte Straßen sind. Jede dieser Villen steht versteckt im Wald, der die Bewohner der Villa etwaigen neugierigen Nachbarsblicken entziehen soll. Dies alles heißt nun Peredelkino. Die Villen gehören dem Staat, der sie verdienten Dichtern auf Lebenszeit zur Verfügung stellt. Nach dem Tod eines solchen Dichters müssen seine Angehörigen ausziehen. Dies stellt aber keine besondere Härte dar, da die meisten dieser Dichter finanziell sehr gut gestellt sind und außer einer Villa in Peredelkino noch Stadtwohnungen oder sonstwo eine eigene Villa besitzen, welche die Familienangehörigen dann erben.

Gespräch mit Lev Kassil

Es war mir ein leichtes, meinen Gastgeber, den Dichter Lev Kassil, zu finden. Er bewohnt ein einstöckiges Haus mit Hochparterre. Dazu gehört noch — wie bei allen Peredelkinoer Villen — ein etwas tiefer im Wald stehendes Haus für das Personal und eine Garage. Der Nachbar des Herrn Kassil ist der bekannte Erzähler und Romanschriftsteller Kataev, dessen Bücher auch ins Deutsche übersetzt wurden. In der Nähe hatte auch der berühmte, inzwischen verstorbene Fa- deev gewohnt. Gegenüber breitet sich auf einem ausgedehnten Gelände ein hotelähnliches Gebäude aus, das sogenannte Haus der Dichter (dom tvortschestva), in welches meist junge Dichter „einberufen“ werden. Wie dann solche Dichter auf Bestellung in einer bestimmten Zeit ihr dichterisches Plansoll erfüllen und nach welchen Prinzipien man überhaupt in dieses Haus eine Einberufung bekommt, konnte ich nicht erfahren. Mit dem

Hinweis „noch sehr unreif" wurde mir später so ein junger Dichter gezeigt, dessen jüngstes Werk eben in Druck gegangen war.

Herr Kassil stellte mich seiner Frau vor, einer eleganten Frau, etwa vom Olga-Tschechova-Typ, entre trente et quarante. Bald konnte ich erfahren, daß sie Schauspielerin war, der Schule von Stanislawskij angehörte und die Tochter des berühmten russischen Opernsängers Sobinov war. In Sobinov, den noch in zaristischen Zeiten gefeierten Sänger, waren alle Damen der russischen Gesellschaft verliebt. Diese Reminiszenzen an vergangene Zeiten leiteten unsere Unterhaltung ganz zwanglos ein. Da mir Kassil als Lyriker, später als Verfasser entzückender Kinderbücher schon aus den Zeiten Majakovskijs bekannt ist, erzählte ich ihm zuerst, wie wir ihn im Westen sehen und was wir (damit meinte ich die literarisch interessierten Kreise im Westen) von ihm halten. Da ihm meine Beurteilung sichtlich Zufriedenheit und Genugtuung bereitete, hatten wir nun eine Grundlage, auf der wir aufbauen und unsere Ansichten über die Sowjetliteratur austauschen konnten.

Kassil selber kennt Europa sehr gut, er war unter anderem als Berichterstatter bei der Winterolympiade in Italien. Er hat darüber ein nettes, kleines Büchlein geschrieben, natürlich aus der Sicht eines Sowjetmenschen. In Sport und Politik kannte sich Kassil vorzüglich aus. Toni Sailer war für ihn ein Begriff. Unter anderem erzählte er mir auch über seine Bekanntschaft mit Tito, den er in der Kampfzeit kennengelernt hatte und mit dem er einmal eine ganze Nacht bei Slibowitz philosophiert hatte. Als er später einmal dem Marschall Tito „vorgestellt" wurde, habe ihm dieser gnädigst zwei Finger seiner Hand zur Begrüßung gereicht.

Für mich war auch die Antwort auf meine Frage nach den gegenwärtig in

Graham Greene;; Remarque, Hemingway, Stefan Zweig, Thomas Mann. Natürlich sind auch die Franzosen Zola, Victor Hugo, George Sand, dann Mark Twain, Dickens und Goethe noch immer Lieblinge der russischen Leser. Von den

Russen stünden Puschkin und Tolstoj an erster Stelle, Pasternak schätze er nur als Lyriker. Als modern gelten zur Zeit Solouchin, ein begabter Erzähler, ein Turgenjev des .20. Jahrhunderts (was die Naturbeschreibung anbelangt). Ernst zu nehmen sei auch der Prosaiker D. Granin, der geistreiche Tvardovskij, der Verfasser problemgeladener Erzählungen. Jurij Nagibin, die Lyriker Robert Roschdestvenskij und Evtu- schenko sowie der Leningrader Dramatiker E. Schwarz; von den älteren natürlich M. Scholochov und die im Westen wenig bekannte Olga Berggolz. Eine Rolle in Moskau spielen besonders der alte Tichonov und der immer exponierte Difßtj|-Funktionär Surkov. Ich lernte diesen ,später auch kennen. Ganz im Stil des1 großzügigen Managers sagte er mir, „man werde für mich alles tun, was ich wünschte“. Es war dies eine nichtssagende Phrase eines vielbeschäftigten Mannes, der gerade dabei war, einen Empfang von Jurij Gagarin beim sowjetischen Schriftstellerverband zu besprechen.

Interessant in meinem Gespräch mit Kassil war die Frage der Übersetzungen und der Autorenhonorare. Der sowjetische Standpunkt in diesem Punkt ist, daß in der Sowjetunion eine Unmenge von Büchern gelesen wird, also für jeden Autor ein sehr großer Absatzmarkt vorhanden sei. Kassils Werke wurden zum Beispiel in der Sowjetunion mit einer Auflage von 15 Millionen Exemplaren gedruckt. Wer kennt bei uns schon isolche Auflagenzahlen? Schon aus Gründen der Information und Propaganda werden in der Sowjetunion viele Übersetzungen angefertigt, wobei uns die Sowjets in einem Punkt voraus sind: Der Beruf des Übersetzers ist in der Sowjetunion sehr angesehen und wird auch dementsprechend honoriert, jedenfalls besser als bei uns manche Autoren. Diese bittere Pille mußte ich schlucken, wenn mir auch im großen und ganzen diese für uns wenig schmeichelhafte Sachlage bekannt war.

Was man von Österreich weiß

Über Österreich sind die Kenntnisse der Russen sehr verschieden. Manchen schwebte dabei etwas verschwommen Österreich-Ungarn vor. Andere wieder glaubten, daß Polnisch unsere Muttersprache sei, viele wußten nicht, daß auch wir den Krieg mitmachten. Für alle aber sind Mozart, Schubert und Johann Strauß ein Begriff. Dagegen kennt Grillparzer fast niemand. Auch für Germanisten war dieser Name fremd. Kassil kennt Österreich. Deswegen war ein Gespräch mit ihm über Österreich besonders interessant. Er weiß die Rolle Österreichs in der herrschenden Ost-West-Spannung richtig einzuschätzen. Obwohl für ihn vollkommen klar ist, daß Österreich seinem ganzen Wesen nach ein westliches Land ist, sieht er in uns einen fruchtbaren Boden für ein Gespräch zwischen Ost und West. Ich habe nicht den Eindruck, daß für die Sowjetmenschen jedes westliche Land ein potentieller Feind ist, nein, für sie sind wir eher ein schöner Garten, oft ein beneidenswert schöner Garten mit mehr oder weniger reifen Früchten, die ihnen früher oder später in den Schoß fallen werden. Ich habe erst in der Sowjetunion so richtig verstehen gelernt, was eigentlich der von uns so oft mißbrauchte Begriff der abendländischen Kultur bedeutet, als mir ein sowjetischer Literaturstudent Shakespeare, Goethe und Dante in einem Atemzug vortrug und Westeuropa als den schönen Garten Eden bezeichnete. Ja, einen schönen, beneidenswert schönen Garten, der von naiven Menschen bevölkert ist, die von den neuen, sozialen Gesetzen nichts wissen wollen.

Mir gegenüber hat der elegante, soignierte und wohlerzogene Herr Kassil solche Gedanken mehr angedeutet als direkt ausgesprochen, aber es braucht ja nicht unbedingt alles „gesagt" zu werden, um verstanden zu werden.

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