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Die Dritte Revolution

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MOSKAUER SOMMER 196*. Von Mlhajio Mihajlov. Schweilerisch Ost-Institut, Bern. 1966. 138 Seiten, broschiert. Preis 9.80 sFr.

In diesem soeben erschienenen schmalen Band ist zum erstenmal vollständig jener Moskauer Reisebericht des jungen jugoslawischen Universitätsassistenten Mihajlo Mihajlov erschienen, den dieser im diesjährigen Jänner- und Februarheft der Belgrader Zeitschrift“,ßelo“ veröffentlichen wollte; die erste Fortsetzung erschien auch unbeanstandet, nach der Veröffentlichung des -zweiten Teils wurde die Zeitschrift konfisziert; der dritte Teil erschien nicht mehr. Mihajlov wurde verhaftet, später freigelassen und dann zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, unbedingt, wegen Beleidigung der Sowjetunion und wegen des Exports seiner beschlagnahmten Schriften. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, und es steht zu erwarten, daß der Name Mihajlov die Tageszeitungen noch beschäftigen wird; das vorliegende Buch hat aber damit nur so viel oder so wenig zu tun, wie das persönliche Schicksal eines Autors auf sein Werk abfärben kann. Im Mittelpunkt seines Reiseberichtes steht nicht er, Mihajlov, sondern stehen die sowjetischen Schriftsteller, junge und alte, berühmte und unbekannte, die er in Moskau und in Leningrad, in ihren Wohnungen, in ihren Redaktionen, in ihrem Klub in den Keilerräumen des „Hauses der Schriftsteller“ oder in ihren „Datschas“ besucht hat. Mihajlov kommentiert seine Eindrücke, und man merkt, daß er diese russischen Menschen, junge und alte, berühmte und unbekannte, auch dort, wo er sie kritisiert, liebt und daß er ein leidenschaftlicher Bewunderer jenes Rußland ist, das diese Schriftsteller verkörpern. Erst nach dem Lesen der unaufhörlichen Bekenntnisse Mihajlovs zu diesem ewigen Rußland, zu seinen Dichtern und Philosophen, zu seinen leidenden Lagerinsassen und deren Frauen, zu den herrlichen Schauspielern und zu den einfachen Menschen in den Wohnhäusern, auf der Straße, in den Museen, kommt einem die ganze Schäbigkeit der Urteilsbegründung — Beleidigung der Sowjetunion — zum Bewußtsein.

Es ist schwer, Einzelheiten aus dem lebendigen Geflecht der Eindrücke und Reminiszenzen herauszugreifen, aus dieser Reportage eines Wissenden, der, wenn er mit jungen Moskauer Schriftstellern spricht, immer auch an Tolstoj oder an Dostojewskij denkt, und diese „Klassiker“ werden plötzlich gegenwärtig, und Vergangenheit und Gegenwart fügen sich nahtlos ineinander. (Mihajlov berichtet von der verstärkten Popularität Dostojew-skijs, die auch in Kreisen von Komsomol-Angehörigen zu spüren ist.) Die Beschreibung der „Suche nach Golo-sowker“ könnte bei Dostojewskij — oder bei Kafka — stehen. Jakow Emanuilowitsch Golosowker ist der Autor des Büchleins „Dostojewskij und Kant“, das Mihajlov noch zu Hause gelesen hat und das auf ihn einen außerordentlich starken Eindruck gemacht hat. Er beschloß, Golosowker in Moskau zu besuchen. Er fragte nach ihm, aber er bekam überall ausweichende Antwort. Der erste, den er fragte, hat den Namen nie gehört. Der zweite lachte seltsam und meinte, Golosowker sei aUles andere als eine Dutzend-erscheinung; der dritte machte Mihajlov darauf aufmerksam, daß Golosowker ein kontaktloser Sonderling sei, der lange im Lager gewesen war, ein unmöglicher Mensch, der sonderbare Ideen habe ... Mihajlov versuchte dann, Golosowker telephonisch zu erreichen; er klopfte an seiner Wohnungstür, aber alles war vergebens. Schließlich erfuhr er von Verwandten des Schriftstellers, daß dieser im Krankenhaus sei, aber in welchem, könne man nicht sagen.

Golosowker war der einzige, den Mihajlov sprechen wollte, aber nicht fand. Alle übrigen Schriftsteller, die er suchte, standen ihm zu Diensten. Der Leser steht gleichsam neben dem Besucher aus Jugoslawien, wenn dieser an einer Wohnungstür läutet, und ist jedesmal ergriffen von der natürlichen Herzlichkeit dieser angeblich so versponnenen Russen. Immer wird der Gast ohne Umstände in das Arbeitszimmer geführt, und das Gespräch beginnt. Alle rus-

sischen Schriftsteller sind, notiert Mihajlov, große Optimisten und glauben, daß eine neue Liberalisierungswelle, „ein neues 1956“, vor der Tür stehe; sie führten verschiedene Symptome an, die dafür sprechen.

Aber es geht alles nur sehr langsam. Die sowjetischen Theater sind heute, berichtet Mihajlov, von seltenen Ausnahmen- abgesehen, Museen. Brecht ist für die sowjetischen Theaterverhältnisse „zu modern“. Aber Mihajlov glaubt, daß in einigen Jahren sich die französischen Avantgardisten die sowjetischen Bühnen erobert haben werden. Im Filmschaffen geht es bereits freier zu. Ein neuer „Hamlet“-Fiim und der Film „Die Fahne von Iljitsch“ stellen die menschliche Persönlichkeit in den Vordergrund. So die Schlußszene des Films „Die Fahne von Iljitsch“: Ein sowjetischer Jugendlicher befindet sich im Traum inmitten eines Kriegsgeschehens, in einem Bunker, aus dem sein Vater

während des Krieges einen Vorstoß unternahm und fiel. Er fragt nun ihn: „Vater, was soll ich tun?“ Und der Vater fragt zurück: „Wie alt bist du, mein Sohn?“ Der Jüngling: „Dreiundzwanzig, Vater.“ Der Vater: „Warum fragst du dann mich? Ich bin einundzwanzig.“ Und Mihajlov notiert: „Die Symbolik ist klar: Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und niemand kann für einen anderen denken oder etwas entscheiden.“ Der Film wurde bisher nicht zugelassen; Chruschtschow war über das Verhalten des Vaters empört: „Nicht einmal ein Tier läßt seine Kinder sitzen...“ Doch wird der Film, versichert Mihajlov, bald gezeigt werden.

Ein neues Buch über moderne Kunst, das in Moskau in einer geringen Auflage gedruckt wurde, trägt als Motto die Verszeilen Maja-kowskijs: „Aus der Ferne der Zeit / Ersteht eine andere, Dritte, Revolution — /Die Revolution des Geistes!“ Diese Dritte Revolution ist bereits unterwegs: der Bericht Mihajlovs gibt Zeugnis davon.

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