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Die Entschuldigung

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Es schlägt halb neun vom Kirchturm des Dörfchens. Der Klang ist dünn, aber er findet doch den Weg zwischen die Hügel, er durcheilt den Wald und trifft das Ohr MaTtins. Da fährt es diesem heiß durch das Herz, er hält inne in seinem Lauf, und die Federschachtel im Schulpack hört zu klappern auf. „Halb neun“, sagt der Knabe zutiefst erschrok-ken, er knickt achtlos ein Zweiglein und bemerkt nicht, wie sein Atem helle Wölkchen bildet.

Halb neun, nun hört der Lehrer auf, das Einmaleins zu prüfen, er hat getadelt, vielleicht hat er einen Schüler auch gelobt, aber das kam selten vor. Halb neun, der Lehrer läßt die Hefte aufschlagen, er geht die Reihen durch und sieht die Aufgaben nach, er hat einen scharfen Blick für alles Mangelhafte. Da stoßen die Worte nieder auf den Faulen oder Schwachen, sie sind hart und kalt wie

Stein. Der Lehrer fragt auch, gewiß, ob der Schüler eine Entschuldigung habe, aber er fragt es nicht milder, und zwei Dinge müssen zusammentreffen, um vor ihm bestehen zu können: ein wahrhaft triftiger Grund und ein furchtloses Herz, das sich nicht verängstigen läßt.

Oh, Martin — Martinus nannte ihn der Vater, ehe er in den Krieg ging, aus dem er nicht mehr wiederkehrte, Martinus nennt ihn manchmal Wilhelma, freilich nur, wenn sie allein sind — Martin besitzt kein furchtloses Herz, es erzittert leicht, die Augen füllen sich mit Tränen, und“ der Mund stottert hilflos. Martin weiß, daß er bis zur Schule noch eine Viertelstunde braucht, es geht dann gegen neun Uhr, ein Schüler rechnet an der Wandtafel, der Lehrer — groß und hager und in dem grauen Soldatenrock, auf den er sich einen grünen Kragen schneidern hat lassen —, der Lehrer steht am Fenster, er hat die Arme über der Brust gekreuzt, und keine Bewegung entgeht ihm. Er wendet sich zur Tür, als diese sich zaghaft öffnet, und Martin muß hintreten vor ihn und sein. Versäumnis erklären. Die Augen des Lehrers werden ihn herrisch ansehen und der Mund kein Wort der Hilfe geben, die Klasse hat zu schreiben aufgehört und freut sich der Unterbrechung. Einzig Wilhelma wird den Kopf auf die Bank senken, tief auf die Bank, denn Martins Erklärung wird ungenügend sein und vor der Ungeduld des Lehrers kaum über den ersten Satz hinwegkommen: er habe einem fremden Mann den Weg zum Elternhaus gezeigt.

„Nein“, sagt Martin, „nein“, er will nicht weiterlaufen, er wagt es nicht, vor den Lehrer zu treten. Er wird zurückgehen in das Elternhaus, wo die Mutter inzwischen den Fremden empfangen hat, er wird sich auf die Bank setzen und seiner Erzählung lauschen. Martin wendet sich, er macht ein paar Schritte, aber sein Herz wird nicht froh dabei. Auch die Mutter wird ihn nicht freundlich empfangen, sie ist eine strenge Frau, und es liegt ihr an jeder Schulstunde. Oft sagt-sie ihm:'

„Eine gute Schulbildung ist das einzige Erbe, das ich dir geben kann, ich bitte dich, tue auch du dein Teil dazu und laß dir nichts zuschulden kommenI“

Ach, Martin ist ein furchtsames Kind, er wagt es nicht, Schranken zu übersteigen. Er wagt nicht einmal, zu denken, daß vor gewissen Ereignissen Gebote zu einem Nichts werden: denn ein solches Ereignis wäre es doch, wenn ein Fremder zu ihm tritt und es sich erweist, daß er Grüße des Vaters zu bestellen hat, der noch lebt — der noch lebt! — und ebenfalls auf seine Heimkehr aus dem fremden Land wartet... des Vaters, dessen Erinnerung wie ein Gnadenbild vor dem Kinde steht, der stark und fröhlich war und in dessen Gegenwart es keine Furcht, nur Geborgenheit und Liebe gab.

Martin hält zum zweiten Male inne. Der Vater ist noch fern, und der Knabe muß allein sein Schicksal tragen. Es weist ihn unbarmherzig gegen die Schule. So ergibt er sich und beginnt neuerlidi zu laufen, den Hohlweg hinunter, die Straße entlang und an der Kirche vorüber. Das Schultor schließt sich knarrend auf, und auf dem Fliesengang hallt der Schritt laut, entsetzlich laut. Vor der Klassentür bleibt Martin stehen, er hört die Stimme des Schülers, der an der Tafel rechnet, es ist, wie er es gedacht hat. Seine Hand zittert, als er sie zur Klinke hebt, und diese entgleitet ihm und schnappt heftig zurück.

„He, was polterst denn du herein, Perm egger, und gar erst um diese Zeit!“ empfängt ihn der Lehrer. Der Schüler an der Tafel hat zu rechnen aufgehört, und aller Augen sind auf den Ankömmling gerichtet.

„Also los“, fordert der Lehrer, „es wird gleich läuten, und wir wollen noch die Rechnung zu Ende bringen. Mach ein bißchen hurtig, du weißt, daß ich die langsame Weise nicht leiden kann!“ Er löst die gekreuzten Arme von der Brust, und die rechte Hand drängt, drängt, drängt I

„Ein fremder Mann ...“ antwortet Martin vor dieser Hand, die aussieht, als schwänge sie eine Geißel, „ein fremder Mann... er hat'von Vater erzählt...“ Und dann stockt er, weil die Geschichte sich nicht so rasch erklären läßt.

„Aha“, mischt der Lehrer sich denn auch ein, „der fremde Mann und der Vater, und der Wolf und der Elefant, und keine Seele weiß, was das heißen soll. — Kennt ihr euch aus dabei?“ wendet er sich an die Klasse. Doch ehe noch ein paar Willfährige den Kopf schütteln können, erhebt in der zweiten Bank sich ein Mädchen so halb vom Sitze und starrt Martin an. Es ist ein blondes Mädchen, ein hübsches Mädchen, die Augen glänzen, die Lippen sind rot, und das Naschen sticht keck in die Luft. Das ist Wilhelma, das Nachbartöchterlein, und ist die beste Schülerin der Klasse. Sie achtet nicht auf die Worte des Lehrers und die Bereitwilligkeit der Liebediener, sie sieht nur auf den Knaben und fragt ihn schließlich, als sie zu verstehen glaubt:

„Dann lebt dein Vater, Martinus?“

„Ja, Wilhelma.“

Da erhebt das Mädchen sich vollends und schlägt mit beiden Fäusten auf die Bank, daß die Tintenfäßchen hüpfen. Sie wendet sich zum Lehrer:

„Alle Leute haben geglaubt, sein Vater ist schon lange tot. Und Martinus hat oft geweint um ihn. — Ist er heimgekommen?“ fragt sie neuerlich den Knaben, aber nun nimmt ihr der Lehrer doch das Wort vom Munde, sie solle einmal schweigen und sich setzen. Und der Lehrer reimt sich zusammen, was er da gehört hat, es fällt ihm nicht schwer. So erzählt nun er dem Knaben, was sich zugetragen, und dieser braucht nur zu nicken.

„Ja, Martinus“, sagt er da, „das ist natürlich eine Entschuldigung, das hättest du gleich so sagen müssen.“ Er blickt Wilhelma an, weil das Mädchen wieder unruhig ist, und wendet sich dann an die Klasse: „Ich bin doch kein Tyrann, wenn ich auch strenge bin und Pflichterfüllung verlange.“ Und zur Bestätigung schlägt er dem Knaben vor, den Schulpack gar nicht abzulegen, sondern auf der Stelle umzukehren und heimzugehen, damit er selber hören könne, was der Kamerad des Vaters erzählt. „Die Rechnungen schreibst du nach“, sagt er, „und das übrige wird sich finden.“ Er geht dann eine gute Weile zwischen, den Bänken auf und ab, ohne ein Wort zu sprechen, er hält den Kopf gesenkt und die Arme auf dem Rücken.

„Ihr braucht euch überhaupt nicht zu fürchten vor mir“, beginnt er schließlich von neuem, . „und wenn einmal einer glaubt, ich behandle ihn ungerecht, darf er sich ja wehren. Ich bin doch kein Tyrann, ich bin doch wahrhaftiger Gott kein Tyrannl — Nicht wahr, du“, wendet er sich allein an Wilhelma, aber das Mädchen antwortet nicht, es hält den Kopf schief über das Heft und kritzelt mit der Feder.

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