6691121-1962_38_11.jpg
Digital In Arbeit

Die Erbarmungen Gottes

Werbung
Werbung
Werbung

Die phänomenologische Darstellungsweise vertuscht zuweilen durch ihre Effekte erhebliche Mängel an Genauigkeit. Ebenso wie philologischer Datenreichtum gem als Entschuldigungsgrund für Langeweile des Stils genommen wird, gilt dichterischer Schwung landläufig als Ersatz für erarbeitetes Tatsachenwissen. Die Folgen sind bekannt: wissenschaftliche Biographien und Monographien, die kaum der Fachgelehrte ohne Ermüdung durchzulesen vermag, auf der einen und modischer „Kulturschmus“ samt launigen Assoziationen auf der anderen Seite. Man muß weit hinter die letztvergangenen Jahre literarisch-wissenschaftlicher Produktion zurückdenken, um eines Buches gewahr zu werden, das in sich selbst eine so makellose Einheit von Dichtung und Wissen bildet, wie Johannes Urzidils böhmisches Selbstbekenntnis sie darstellt.

Das Wort Selbstbekenntnis — auf den ersten Blick für einen literarphilosophi-schen Essay recht ungebräuchlich — ist hier mit Bewußtsein gesetzt. Es hat einen zweifachen Sinn. Der Dichter Johannes Urzidil, Schöpfer des'„Prager Triptychon“ und der „Unsterblichen Geliebten“, legt hier Zeugnis ab für ein eigenes Böhmen-tum. Zugleich aber bezeugt sich dieses Böhmen selbst: in seinen Gesteinen, Quellen, Schlössern, Mehlspeisen, Prozessionen, aber auch in seinen magischen Kräften: zu scheiden, zu amalgamieren, zu vernebeln, zu durchhellen. Und beidermalen ist dieses Selbstbekenntnis weder subjektiver Aufschrei noch private Plauderei. Es erscheint einverwandelt dem größten und begnadetsten aller Medien: Goethe. Von ihm wird berichtet, Tatsache für Tatsache, von seinen Reisen in die böhmischen Bäder, von denen, die er zwischen 1785 und 1823 tatsächlich durchführte — es sind immerhin deren siebzehn —, und von denen, die er darüber hinaus plante und in der Sehnsucht erlebte, wie etwa die in rätselhafter Scheu gemiedene krönende Pilgerfahrt nach Prag.

Was hier niedergeschrieben ist, läßt sich Zettel für Zettel als ein Dokument belegen. Von keinen erdichteten Zinngraupen ist die Rede, sondern von denen, die Goethe mit dem Hammer abklopfte, von keinen imaginären Menüs schreibt Urzidil, sondern von denen, die sich durch die Gasthausrechnungen belegen lassen (ein-, schließlich einer vergrämten Beschwerde bei höheren Instanzen wegen stattgehabter Überteuerung). E lind wirkliche Bäume in wirklichen Landschaften, wirkliche, mit allen biographischen Details versehene Personen und Persönlichkeiten, von denen hier, Seite für Seite, die Rede ist. Maria Ludovica ist die Kaiserin von Österreich, und nichts anderes wird über sie berichtet als das, was aus den Quellen erschlossen werden kann. Ulrike von Levetzow ist das etwas preziöse Fräulein aus lavendelduftendem Biedermeieradel, Josef Sebastian Grüner, der Bergrat, ist der etwas streberische, etwas schwärmerische Bergrat aus dem Egerländischen. Ebenso aber ist der Bediente, der am Tag, da die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches publik wurde, durch seinen Streit mit dem Kutscher die Aufmerksamkeit Goethes mehr auf sich zog, denn das welthistorische Ereignis, ein wirklicher Bedienter, kein Geschöpf arrangierender Phantasie. Wir erfahren die Ursache dieses Streites mit der gleichen verläßlichen Genauigkeit, wie wir über die Brautwerbung des Großherzogs Carl August bei Ulrike informiert werden. Es gibt in diesem Buch nichts, was nicht inkarniert wäre. Es ist sachlich-chronistisch und objektiv wie die „Kunst der Fuge“.

Und doch ist das Ganze vom Anfang bis zum Ende ein ganz persönliches Werk. Die Wahrheit „hinter den Dingen“ ist spürbar, aber sie ist schlackenlos in die Dinge selbst hineingebannt. Was immer berichtet wird, steht in zwingender Beziehung zum Goetheschen Oeuvre. Selten noch ist uns so bewußt geworden, was es mit dem oft zitierten Wort, Goethes eigentliches Kunstwerk sei sein eigenes Leben gewesen, auf sich hat. Das Fräulein von Levetzow wandelt sich zur Heldin der „Marienbader Elegie“, ohne daß ihr etwas genommen oder hinzugefügt wird. Sie wird weder verfremdet noch verklärt; ihr innerstes Wesen - „Entelechie“ würden es Aristoteles und Thomas nennen -bricht bei der magischen Berührung Goethes hervor. Das gleiche widerfährt der Landschaft. Der Schloßberg von Teplitz wird zur Handlungswelt der „Novelle“ und bleibt doch ganz das, was er ist: der Schloßberg eben. Goethe allegorisiert die Landschaft nicht wie die Romantiker seiner Zeit, er zwingt sie nicht hinein in ein intellektuelles Beziehungsfeld subjektiver Tyrannei. Er verwandelt alles, was ihm begegnet, weil er sich selbst durch alles Lebendige einverwandeln läßt. Geheimnis seiner Erotik, von den „Äugelchen“ für die Schönen der Promenade bis zur „heiligen Hochzeit“ der Elemente in der klassischen Walpurgisnacht.

Ein Goethe-Buch also. Aber auch eines der fatalen Bücher „Goethe und...“? Der Titel gibt die Antwort. Es lautet „Goethe i n Böhmen“ — „King i n the Parliament“. Das Böhmische in Goethe selbst, das Goethesche im Böhmentum wird hier zum „Ereignis“. Und nur ein Mann wie Johannes Urzidil, der beide Elemente in sich trägt, nicht als Bildungssynthese, sondern als Ureinheit, als Gesetz, nach dem er selbst angetreten, konnte dieses Buch schreiben. Mag das, was Goethe selbst an Böhmischem in sich aufgenommen, in sein Werk einverwandelt hat, schon zuvor von anderen Goethe-Philologen teilweise verzeichnet worden sein, mag es die eine oder andere Monographie über Teilaspckte seiner Beziehungen zu diesem Land und seinen Menschen, zu seiner Natur und seiner Geschichte gegeben haben: Urzidil berichtet darüber in sehr materialreichen Kapiteln, die das Nachwirken des Dichters in deutschböhmischer und tschechischer Umwelt, bis hin zur verständlichen Haßliebe des großen Masaryk, belegen. Das Einmalige an diesem Werk ist die Darstellung der Wahlverwandtschaft, die das Böhmische selbst mit dem Goetheschen Wesen einte. Und in solcher Dimension wird dieses Goethe-Buch zu einem Buch über Böhmen.

Aufs neue müssen wir hier zum charakterisierenden Wort vom „Selbstbekenntnis“ zurückkehren, müssen es ausweiten zum Begriff der Selbstfindung. Dieses immer wieder untergegangene, immer weiterlebende Böhmen hat den großen Adam noch immer nicht gefunden, der seine Sehnsucht, ganz mit Namen benannt zu werden, zu erfüllen vermochte. Viele, viele — mehr Unberufene als Berufene unter ihnen — haben sich um diese Seinsdeutung des böhmischen Herzlandes bemüht. Sie sind dem Gesamtphänomen nicht gerecht geworden. Hatten sie Prag definiert, dann war ihnen die Welt des gebirgigen Grenzlandes fremd und feindlich entglitten, beschworen sie Böhmerwald und Lausitz, dann entzog sich ihnen das ferne und rätseldunkle Prag. Urzidil erspürt durch das Medium Goethes den geheimen Zugang zum Ganzen, das jenseits aller Widersprüche zwischen Deutschem und Tschechischem, Urbanem und BSuerlichänV ^Römisch-Katholischem und Hussitisch-Aufgcklärtem liegt Der Sinnspruch des großen Humanisten Comenius, „Omnia sponte fluant, absit violentia reb-bus“, wird ihm zum geheimen Schlüsselwort einer Einweihung, die erst durch Tod, Nacht, Schauder und Blut der entsetzlichen böhmischen Geschichte hindurch zu Hochzeit und beseligender Einung führt. Wer über Goethe schreibt, kann am Religiösen ebensowenig vorbeisehen wie der über Böhmen Grübelnde. Der große Heide ist der große Fromme, das Land der Kirchenstürmer und radikalen Freidenker, das Land der antikirchlichen Bewegungen und Ketzereien, ist zugleich dal Land der Inbrunst wie das Land der „Ehre Gottes in der Natur“. Das Kapitel über die böhmische Frömmigkeit ist gerade deswegen, weil Urzidil hier auf jede subjektive Wertung, auf jede peinliche Interjektion verzichtet, eines der ergreifendsten. Vom kleinen, buckligen Religionsprofessor Zauper aus Pilsen ist die Rede, der seine verehrende Freundschaft für das heidnische Weltkind Goethe gegen besorgte und muffige Kritik aus den eigenen Reihen tapfer und unbekümmert zu verteidigen hatte. In seinem Tagebuch erwähnte er unter dem 20. Juli 1823 ein Gespräch mit dem hohen Siebziger über „höhere religiöse Gegenstände“:

Ich höre noch die Worte „Die Erbarmungen Gottes“, wobei Goethe mit dem seelenvollste Auge hinaufschaute, ein Himmel klärte sich in diesem Blicke auf. Diese Worte ließen mich plötzlich die ganze Schönheit einer echten, frommen Seele gewahr werden ..,

Und schon dem Pilsner Professor ging es auf, was manche bis heute noch nicht

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung