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Die erste Straße Europas

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Rom, Ende März Kürzlich setzten der italienische Ministerpräsident Degasperi und der französische Außenminister Bidault in einem Saal des Palazzo Chigi in Rom ihre Unterschrift unter ein Dokument, mit dem das Projekt des Tunneldurchstichs für eine Autobahn durch den Montblanc endgültig entschieden wurde. Ein sogenannter historischer Augenblick, der sich mit einer gewissen Feierlichkeit vollzog, unter dem Aufblitzen der Flashlights, dem Surren der Kinoaufnahmegeräte und dem Beifall der zahlreichen Diplomaten und Journalisten, die dem Akt beiwohnten. Die Konferenz der Communite' Europeenne de Defense war eben mit eher mageren Ergebnissen zu Ende gegangen und der Lichtstrahl der Realisierung eines europäischen Projektes wurde freudig begrüßt. Handelte es sich doch darum, einen neuen Verkehrsweg von enormer Bedeutung zwischen West- und Südeuropa zu erschließen.

Niemand achtete darauf, daß unter den Anwesenden der Mann fehlte, der im Grunde Hauptperson des Geschehens hätte sein müssen: der piemontesische Ingenieur Graf Lora T o t i n o, ein Industrieller, in dem sich Genialität, Tatkraft, Wagemut, Begeisterungsfähigkeit, Träumerei und kluger Geschäftsgeist in seltsamer Weise vermischen. Einer von den Männern, die fähig sind, absurd erscheinende Ideen allen Schwierigkeiten zum Trotz zu verwirklichen. Ein Name, der mit Bewunderung oder Aerger genannt wird, je nach dem Standpunkt dessen, der ihn ausspricht. Es sei nur erwähnt, daß dieser Lora Totino vor vielen Jahren die Spitze des M^tterhorns für den Preis einer Kuh kaufte;

die Bewohner von Breuil lachten damals über das sonderbare Geschäft, aber vor zwei Jahren wurde die Oeffentlichkeit durch das Projekt des Grafen in Aufregung versetzt, eine Seilbahn auf den Bergriesen, Symbol der unberührten Alpenwelt, zu bauen. Die Nachricht rief einen Proteststurm unter den Alpinisten hervor, am heftigsten unter den Bergführern und Hotelbesitzern der Zermatter Seite des Matterhorns, und die italienischen Behörden versagten zunächst die Baubewilligung. Nicht einen Augenblick zweifelte man aber daran, das Graf Lora Totino der gigantischen technischen Schwierigkeiten Herr werden könnte; jungfräuliche, nie erstiegene Wände hat er rnir. seinen Seilbahnen auf den Plan Rosa und a,uf den S. Teodulo (3500 m Seehöhe) überbrückt, oder auf den Colle del Gigante (3400 m) im Montblancmassiv, wodurch der Aufstieg auf den über 4000 m hohen Dente del Gigante für die Turiner zu einem Tagesausflug geworden ist.

Im Jahre 1945 sprach Graf Lora'Totino mit einem alten französischen Ingenieur namens Monod. Monod entwickelte ihm ein phantastisches Projekt, das den leidenschaftlichen Techniker sofort fesselte: Es handelte sich darum, zwischen Norditalien und Frankreich einen neuen Straßenweg zu erschließen, der den Anforderungen des modernen Verkehrs in jeder Weise gerecht werden sollte.. Der Krieg war zu Ende, ein intensiver Personen- und Warenverkehr zwischen den beiden Ländern mußte einsetzen. Im Wettkampf zwischen Schienenweg und Straße hat die letztere den Sieg davongetragen. Aber die wcnigen hochgelegenen Paßstraßen, der Kleine und der Große St. Bernhard, der Moncenisio, sind nur in kurzen Sommermonaten benutzbar und für die Giganten der Landstraße, für die modernen Autozüge, gänzlich unbrauchbar. Eine breite Autobahn, die vom Wechsel der Jahreszeiten unabhängig ist, die geringe Steigungen aufweist und überdies die Entfernung zwischen Turin und Lyon um nicht weniger als 250 Kilometer abkürzt, müßte ein glänzendes Geschäft werden.

Pie Lösung dieser Aufgabe: ein Tunnel durch den Mont Blanc. Alle günstigen Voraussetzungen schienen sich auf diesem Punkt zu konzentrieren, der die Luftlinie von Turin nach Paris berührt. Auf italienischer Seite das Aosta-Tal, breit und sonnig, mit guten Straßen bis Courmayeur in 1200 m Seehöhe, Sammelpunkt der internationalen Touristenwelt. Fast senkrecht steigt dahinter der Mont Blanc auf, dort, wo sich die Alpenkette bis auf 4810 m auftürmt, wo sie aber auch zugleich am schmälsten wird. Auf französischer Seite das T2I von Chamonix, nur etwas über 1000 m hoch gelegen, ebenfalls ein Zentrum des Fremdenverkehrs. Die Statistiken des französischen Touring Clubs zeigen, daß im Jahre 1913 1,025.000 Touristen den Mont Blanc besucht haben; angenommen, daß jeder nur 50 Lire (der Vorkriegswährung) ausgegeben habe, so wurden in einem einzigen Jahre 50 Millionen Goldfranken in Umlauf gebracht.

Als Lora Totino einmal die ungeheuren Möglichkeiten eines solchen Projekts erkannt hatte, ließ er sich durch keine Bedenken abschrecken. Schon im Sommer 1946 rief er einige Dutzend Arbeiter zusammen, kaufte am Monte Frety, der ihm am geeignetsten erscheinenden Oertlichkeit, ein Grundstück und begann ein Loch zu bohren. Das Unternehmen erregte zunächst keine Aufmerksamkeit. Erst, als der Tunnel bereits 470 m weit in die vertikale Bergwand getrieben war, griff das italienische Verteidigungsministerium ein, das zu seinem Schrecken und Erstaunen von dem Vorhaben des Piemontesen erfahren hatte. Lora Totino hatte keine Bewilligung eingeholt, er hatte keine Finanzierung gesucht, sondern aus der eigenen Brieftasche 200 Millionen Lire herausgezogen und die Arbeiten bezahlt. Natürlich war er sich völlig darüber im klaren, daß er die Arbeiten früher oder später einstellen mußte. Ihm kam es jedoch darauf an, die Aufmerksamkeit der Behörden und der Oeffentlichkeit auf sein Projekt zu lenken und zu verhindern, daß es in einem ministeriellen Schreibtisch verstaubte. Zugleich wollte er beweisen, daß die geologischen Verhältnisse außerordentlich günstig lagen, daß der Fels selbst in der stets kritischen Anfangszone sich selbst stützt, daß die Wassereinbrüche gering sind.

Wahrscheinlich hätte Lora Totino dennoch Enttäuschungen erlebt, wenn nicht im Jahre 1948 der Atlantikpakt abgeschlossen worden wäre. Die gleichen Militärbehörden, die gegen d?s Projekt eingeschritten waren, begannen sich nun dafür zu interessieren. Der Montblanctunnel erhielt neben dem wirtschaftlichen nun auch einen eminent strategischen Aspekt.

Das berühmte Gemälde von J. L. David im Wiener Belvedere zeigt Napoleon während seines Ueberganges über den St. Bernhard auf einem feurigen Rosse; in Wirklichkeit war jedoch der junge General gezwungen gewesen, bei der Ueberschreitung der Alpenpässe an der Spitze seiner Truppen ein Maultier zu benützen. Die Straßenverhältnisse waren damals derart, daß nicht einmal Pferde die höchsten Pässe bewältigen konnten. Um so bewundernswürdiger erscheint daher heute noch die Alpenüberquerung Hannibals mit 300 Kriegselefanten, vielleicht über den Kleinen St. Bernhard, vielleicht über den Moncenisio. Titus Livius schildert uns, wenn wir Schulerinnerungen auffrischen wollen, ebenso plastisch wie phantasievoll, daß die Soldaten Hannibals Essig benützten, um „die Felsen aufzuweichen“, und wie sie mit Freudentränen in den Augen in die Knie sanken, als sie endlich nach den Schrecken der Alpen die Po-Ebene vor sich sahen.

Tatsache ist, daß die Sicherung des Nachschubes auf dem Landwege zwischen West-und Südeuropa, von den leicht zu zerstörenden Eisenbahnlinien abgesehen, nur auf der Küstenstraße zwischen Nizza und Genua ganzjährig möglich ist, eine Straße, die den Angriffen sowohl aus der Luft wie vom Meere her äußerst ausgesetzt erscheint. Eine neue Autobahn, die leicht schneefrei zu halten ist und deren kritischester Teil unterirdisch führt, die wenig Kunstbauten, wie Brücken, erfordert, eröffnet dem Nachschub ganz andere Möglichkeiten.

Die Unterzeichnung des französisch-italienischen Abkommens über den Montblanctunnel bedeutet nicht den Anfang, sondern den Abschluß der umfangreichen Vorstudien, der zahlreichen technischen, politischen, militärischen und finanziellen Konferenzen und

Verhandlungen. die der Verwirklichung des Projekts vorausgegangen sind. In wenigen Monaten, im Frühsommer dieses Jahres, werden die Bohrhämmer zu dröhnen beginnen. An der Finanzierung beteiligen sich drei Länder, Italien, Frankreich und die Schweiz, genauer die italienische Regierung mit 3 Milliarden Lire, die Regierung des autonomen Aostatales mit einer Milliarde, die französische Regierung mit zwei Milliarden Francs, die Kantonalregierung und die Stadt Genf mit einer Milliarde Lire; dazu kommen Gruppen privater Finanzleute in Italien mit 1,2 Milliarden Lire, der Schweiz mit 6 Millionen Schweizer • Franken, und Frankreichs, welche die auf 14 Milliarden Lire fehlende Differenz aufzufüllen haben. An dem Bau beteiligen sich französische, italienische und Schweizer Firmen, doch ist es natürlich, daß Lora Totino einen hervorragenden Anteil daran haben wird. Die 200 Millionen Lire, die er zur Propagierung seiner Idee ausgegeben hat, haben sich wieder einmal als ausgezeichnete Investition erwiesen. Die Arbeitskräfte wird fast ausschließlich Italien stellen, da die beiden anderen Länder nicht über freie Arbeiter verfügen. Man schätzt, daß rund 5000 italienische arbeitslose Bauarbeiter Beschäftigung rinden werden. Nach vorsichtigen Berechnungen wird der Tunnel jährlich von einer halben Million Automobilisten und von rund 200.000 Tonnen Warengut durchfahren werden. Die Amortisierung der Baukosten geschieht durch die Einhebung einer Straßenmaut, eine Ausgabe, die von den Kraftfahrern durch Benzin- und Zeitersparnis mehr als wettgemacht wird. Zudem wird die Montblancstraße, deren Eröffnung für das Jahr 1956 vorgesehen ist, das Aostatal, bisher eine Sackgasse, dem Fremdenverkehr erst richtig erschließen.

Der Tunnel setzt in 1380 m Seehöhe an, genau an der Stelle, die Graf Lora ToSno gewählt hatte und die sich als die günstigste erwies. Der Ausgang auf der französischen Seite liegt bei Les Pelerins in 1250 m Seehöhe; die Gesamtlänge des Durchstichs beträgt zwölf Kilometer. Die leichte Neigung, die nirgends 2,6 Prozent übersteigt, sichert nicht nur den Abfluß des Wassers, sondern erleichtert auch die Ventilation. Mechanische Ventilatoren werden außerdem noch die Abgase der Motoren ins Freie führen. Der Montblanc besteht aus Pro togin, einem sehr harten Granit, wodurch die Verkleidung der Wände unnötig erscheint. Die Beleuchtung geschieht durch indirektes Licht. Der Tunnel ist rund acht Meter breit und gestattet die Passage von vier Fahrzeugen nebeneinander.

Unter dem Zeichen der Communite Euro-peenne de Defense geboren, wird die Montblancstraße zum ersten europäischen . Verkehrsweg und Graf Lora Totino zum ersten europäischen Konstrukteur.

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