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Die Europamission des Intellektuellen

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Im Colegio mayor Universitario Santa Maria del Campo in Madrid hielt Otto von Habsburg kürzlich einen Vortrag über das hochbedeutsame Thema „Der Intellektuelle in der modernen Welt“. Der „Oesterreichischen Furche“ wurde als erstem Blatte der Vortrag in französischer Ueber- setzung zur Verfügung gestellt. Im Nachstehenden veröffentlichen wir daraus die gewichtige Schlußfolgerung, die den letzten Teil des Vortrages bildet, in einer deutschen Uebertragung. Die „Furche“

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Im Colegio mayor Universitario Santa Maria del Campo in Madrid hielt Otto von Habsburg kürzlich einen Vortrag über das hochbedeutsame Thema „Der Intellektuelle in der modernen Welt“. Der „Oesterreichischen Furche“ wurde als erstem Blatte der Vortrag in französischer Ueber- setzung zur Verfügung gestellt. Im Nachstehenden veröffentlichen wir daraus die gewichtige Schlußfolgerung, die den letzten Teil des Vortrages bildet, in einer deutschen Uebertragung. Die „Furche“

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In dieser bewegten Welt obliegt es dem Intellektuellen, sich an den richtigen Platz zu stellen und seine Mission zu erfüllen. Die Aufgabe, die seiner harrt, gleicht jener der kleinen Schar von Christen, die in der Schicksalsstunde des alten Rom mit Entschlossenheit darangingen, die Barbaren zu bekehren und die Völker des Westens mit einem neuen Geist zu erfüllen, und denen es auf diese Weise mit der Gnade Gottes gelang, die Grundlagen unserer christlichen Kultur zu schaffen.

Aus dieser historischen Parallele, ebenso wie aus der richtigen Erfassung der gegenwärtigen Situation, ergibt es sich mit zwingender Notwendigkeit,, daß die erste und wichtigste Aufgabe des Intellektuellen heute darin besteht, an der neuerlichen Bekehrung unserer Welt zum Christentum mitzuwirken. Im religiösen Verfall des christlichen Abendlandes, n der Achtlosigkeit, mit der die Völker Europas die übernatürlichen Wahrheiten und Gesetze vergessen und beiseitegeschoben haben, liegt die unmittelbare Ursache unserer gegenwärtigen Tragödie. Wenn wir unsere Kraft wiedergewinnen und den Barbaren unserer Zeit nicht zum Opfer fallen wollen, müssen wir daher zurückfinden zur Befolgung der Lehre Christi. Das Urteil der Geschichte ist eindeutig: unser Kontinent wird entweder wieder christlich werden oder er wird rettungslos zugrunde gehen.

Die Entchristlichung Europas ist vor allem dem Verrat der Intellektuellen zuzuschreiben. Die Verantwortung für unseren Niedergang lastet auf den führenden Klassen und Schichten, denn sie waren die ersten, die das Fundament, auf dem das christliche Abendland erstanden ist, untergruben. Die neuheidnische Zersetzung kam von oben. Daher kann auch die Erneuerung nur von oben, von den Intellektuellen, den Gebildeten, in Angriff genommen werden. Dabei handelt es sich nicht etwa bloß um eine neue philosophische Betrachtung und Zergliederung unserer Probleme; heute ist es allein die Tat, die Rettung bringen kann. Und diese Tat muß vor allem durch das lebendige Beispiel in Erscheinung treten. Wenn der Intellektuelle seiner Bezeichnung als solcher wahrhaft würdig sein will, wird er sich seiner Aufgabe voll und ganz hingeben müssen, bedingungslos und ohne jeden inneren Vorbehalt. Und er muß von einem wirklich dynamischen Geist erfüllt sein. Denn was ihm obliegt, ist nichts Geringeres als die neuerliche Verkündigung des Evangeliums. Ganz Europa ist Missionsland geworden, und damit ist das Ziel gegeben, das nur nach dem Vorbild der großen Glaubensboten der christlichen Geschichte erreicht werden kann. Die großen Missionäre vergangener Epochen sind keine Leisetreter gewesen. Sie waren stolz darauf, laut und in aller Oeffentlich- keit die Wahrheiten des christlichen Glaubens zu verbreiten. Das hat Menschenleben gekostet: viele von ihnen haben ihren Mut mit dem Martertod bezahlen müssen. So ist es auch in unserer Zeit, und so wird es auch in Hinkunft sein. Aber nur durch eine solche Opferwilligkeit kann der Feind überwunden und zur Erkenntnis unserer Glaubenswahrheiten gebracht werden. Leise und schüchterne Stimmen werden ihn nie überzeugen.

Ebenso ist es unerläßlich, daß der Intellektuelle dem Glauben entsprechend lebe. Wer nicht selbst übt, was er predigt, wird bei niemandem Gehör finden. Was uns nottut, ist eine neue Generation, die von apostolischem Eifer, von lebendigem Glauben und insbesondere von der festen Entschlossenheit erfüllt ist, in der persönlichen Lebensführung wie im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben die Leitsätze der christlichen Doktrin zu verwirklichen.

Der intellektuelle Mensch ist ein politi scher Mensch, oder vielmehr: er muß es sein. Er kann seine Mitmenschen nicht einfach ignorieren, und daraus ergeben sich für ihn zwingende Verpflichtungen. Kraft seiner höheren Bildung ist er in erster Linie dazu berufen, die natürliche Gemeinschaft, der er angehört, zu inspirieren. Leider ist gerade dies eine Mission, der sich viele entziehen, die zu ihrer Erfüllung durchaus bestimmt wären. Gewiß, oft ist es weder leicht noch angenehm, sich öffentlichen Funktionen zu widmen, aber nächst der Familie, der Kernzelle des Staates, bilden andere natürliche Gemeinschaften, wie die Gemeinde, die Gewerkschaft, die berufsständische Verbindung, das Fundament des Lebens einer Nation, und daraus erwachsen Verpflichtungen, die der verantwortungsbewußte Intellektuelle nicht vernachlässigen kann. Und ferner ist nichts selbstverständlicher, als daß der Gebildete nach Kräften am Gemeinschaftsleben höherer Ordnung, am Leben des staatlichen Organismus teilnimmt. Das Schlagwort, die Politik sei ein unsauberes Geschäft, an dem sich ein anständiger Mensch nicht beteiligen könne, drückt nichts anderes als die Furcht und die Feigheit dessen, der es gebraucht, aus. Denn die Politik wird immer ein Spiegelbild derer sein, die an ihrer Gestaltung mitwirken. Und schließlich wird sich der wahrhaft Intellektuelle immer dessen bewußt sein, daß ihm neben seinen Pflichten gegenüber dem eigenen Volk und Vatfrland auch eine Verpflichtung gegenüber der weiteren Gemeinschaft auferlegt ist, gegenüber dem gesamten Kontinent, dem sein Volk als ein Teil von vielen angehört.

Dieser Gedanke wird seine Haltung zur Frage der Einigung Europas bestimmen. In einer Welt, in der Mächte vom Ausmaß der Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, der chinesischen Volksrepublik überragende Stellungen gewonnen haben, wiegt die Stimme mittlerer und kleiner Staaten allzu leicht. Daraus ergibt sich die Einigung unseres Kontinents als eine unabweisliche Notwendigkeit. Die Frage ist nur, nach welchen Gesichtspunkten eine solche Einigung erfolgen soll. Wollen wir Europa als ein uniformes, seelenloses Gebilde, als eine ungeheuere Fabrik, die von einer zentralen, bürokratischen Maschinerie dirigiert wird? Oder wollen wir Europa geeinigt sehen in einer Synthese seiner vielfältigen Glieder und getreu seiner großen Tradition der Freiheit, der Wahrung der Menschenrechte und der Schönheit? Bei uns liegt es, uns für die eine oder die andere Lösung zu entscheiden.

Wir sind jetzt Zeugen jener Bemühungen um die Einigung Europas, die mit den Namen Straßburg und Luxemburg verknüpft sind. Nicht ohne Besorgnis müssen wir feststellen, daß da wie dort Versuche im Gange sind, das Problem mehr im Sinne einer materialistischen Technokratie als im Einklang mit den Prinzipien des Christentums und den föderalistischen Traditionen Europas zu lösen. Der vaterländische Begriff ist in Gefahr, von dem Konzept eines Wirtschaftsraumes, der von überdimensionalen Syndikaten und anonymen Gesellschaften und einer allmächtigen Bürokratie beherrscht würde, verdrängt zu werden. Einer solchen Verkehrung des abendländischen Gedankens muß der christliche Intellektuelle ungesäumt entgegentreten. Er muß sich für die Einigung Europas im christlichen Geist und für die Rückkehr zum Konzept des alten Reiches des Westens einsetzen, dem unsere Welt unschätzbare Werte verdankt.

Aber der Intellektuelle trägt eine Verantwortung nicht nur auf politischem Gebiet, gegenüber seinem Vaterland und seinem Kontinent, sondern insbesondere auch i n der sozialen Sphäre. Und diese seine sozialen Aufgaben gegenüber dem Mitmenschen sind heute, da wir am Beginn des Atomzeitalters stehen, noch wichtiger und bedeutungsvoller geworden, als sie es in der Vergangenheit waren.

Die Revolution der modernen Technik schreitet unaufhaltsam voran. Diese Tat sache stellt uns vor eine der folgenschwersten Entscheidungen des Jahrhunderts, denn von uns hängt es ab, ob diese Revolution sich zum Segen der Völker oder zu ihrer aller Unheil auswirken wird. Die Geschichte der industriellen Revolution des vergangenen Jahrhunderts liefert uns eine aufschlußreiche Parallele. Damals, bei Anbruch des Zeitalters der Maschine, waren die führenden Schichten dem Glauben an Gott und den Geboten des christlichen sozialen Gewissens schon weithin entfremdet. Die Folge war, daß die neuen Produktionsmittel dazu dienten, den Reichtum der Reichen zu vergrößern und das Los .der Armen noch härter zu gestalten. Damit war der Samen der Katastrophe gesät. Der Triumph eines ungezügelten Kapitalismus führte über eine Periode ungerecht verteilter Prosperität zur Auflösung der sozialen Ordnung und in weiterer Konsequenz zum Chaos und zu den vollkommen unnotwendigen und nicht zu rechtfertigenden Kriegen, die die Geißel unserer Zeit sind. Wie anders hätten sich die Dinge entwickelt, wäre der damalige industrielle Umbruch im Geist des Christentums vollzogen worden!

Heute stehen wir einer vergleichbaren wirtschaftlichen Situation gegenüber. Sie erlaubt uns nicht, uns auf die Rolle untätiger Zuschauer zu beschränken. Sie legt uns die unabweisliche Verpflichtung auf, entsprechend den Geboten der christlichen Nächstenliebe zu handeln. Entschließen wir uns, zu tun, was unser Glaube uns vorschreibt, dann haben wir auch schon das moderne, dynamische Programm an Hand, das für die Wiedergeburt und Erneuerung unserer Welt erforderlich ist.

Das christliche Sozialprogramm unterscheidet sich grundlegend von jenem des Materialismus. Das Christentum schützt und verteidigt die menschliche. Würde und Freiheit, indes der Materialismus den Menschen in die SMaverei treibt.

Die Grundlage wie die Richtlinie unseres sozialen Handelns muß die Gerechtigkeit sein. Auch unser Recht auf Eigentum muß den Forderungen des Naturrechtes untergeordnet bleiben. Es findet seine Grenze dort, wo das lebenswichtige Interesse anderer — und dieses umfaßt nicht nur den Anspruch auf Schutz der physischen Existenz, sondern auch das Recht auf Arbeit, auf Gründung und Erhaltung einer Familie und auf ein Leben in Würde und Freiheit — bedroht ist. Des weiteren müssen wir bestrebt sein, die Gründung einer möglichst großen Zahl selbständiger Existenzen — selbständig im Sinne einer auf Besitz beruhenden wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit — zu fördern; auch dies, die Beteiligung möglichst vieler am Recht auf persönliches Eigentum, ist ein Gebot der christlichen Soziallehre. Wird dieses Konzept zur Verwirklichung gebracht, dann ergibt sich von selbst der Weg, auf dem wir die an uns herandrängenden Probleme lösen und zu einer gerechten, alle Klassen der menschlichen Gesellschaft umfassenden Verteilung des noch unabsehbaren Nutzens gelangen können, den die Aera der nuklearen Energie in sich bergen mag.

So liegt denn vor dem Intellektuellen unserer Tage eine der glorreichsten Aufgaben der Menschheitsgeschichte. Er ist dazu berufen, mehr als eine frühere Generation es war, Entscheidungen größter Tragweite zu treffen. Ihm ist Gelegenheit geboten, unsere Kultur zu erneuern, die Welt umzuformen im Sinne der Gerechtigkeit und der christlichen Nächstenliebe, eine neue Ordnung zu schaffen, aufgebaut auf den Werten der Ewigkeit. Ich sage nicht, daß sein Leben ein angenehmes sein wird, in der materiellen Bedeutung dieses Wortes; im Gegenteil. Aber die Tatsaphe allein, daß eine so gewaltige Aufgabe seiner Hand anvertraut ist, muß ihm mehr bedeuten als die geruhsame Sicherheit einer vergangene’n Epoche. Dem jungen Intellektuellen von heute eröffnet sich ein,e Vision, schöner als unsere schönsten Kindheitsträume; der Ausblick auf ein Leben, das nicht weniger abenteuerlich sein wird, als es das Leben der Kreuzfahrer oder der frühchristlichen Missionäre gewesen ist. Und wenn er sein Werk beginnt, im Bewußtsein seiner wahrhaft apostolischen Mission, wird ihn der Gedanke befeuern, daß es von ihm abhängt, welchem Schicksal die Welt entgegengeht.

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