DER STATIONSVORSTAND VON MAGYARFALVA mit den leuchtend ziegelroten Achselstücken salutiert dem vorbeirollenden Zug. Im weit ausschwingenden Hügelland tauchen ein paar Wachttürme auf, bleiben zurück. Der Ödenburger Zipfel liegt hinter uns. Kurzer Aufenthalt im österreichischen Grenzort Deutschkreutz. Als der Zug Unterpetersdorf passiert, bläst mein Freund, der Photograph, die letzte Rauchwolke durchs geöffnete Waggonfenster in den Frühsommer, drückt den Zigarettenstummel in den unansehnlichen ÖBB-Aschenbehälter und schiebt den Riemen der Kameratasche über die Schulter. Die nächste Station ist unser Ziel, die Gemeinde Neckenmarkt. Ein schlichtes burgenländisches Dorf rund um einen Kirchturm von nüchternem Riß, in einer Senke mit meilenweitem Ausblick auf Waldungen, Felder und Weingärten, in denen ein gesunder, herber Wein wächst, der Necken- markter Rote. Eine breite Hauptstraße, so recht für den Trieb von Viehherden, im Hochsommer sicherlich erfüllt von flirrendem, staubigem Licht, wie die Straßen, die Pettenkofen im tiefsten Ungarn malte. Unsere Vorhut bildet, stilgemäß in dieser Szenerie, ein kleiner Pulk beunruhigter Gänse.
Hier in Neckenmarkt wird seit fast dreihundertfünfzig Jahren ein Brauch geübt, der im übrigen Burgenland keine Parallelen hat: das Fahnenschwingen bei der Fronleichnamsprozession. Weder die historischen Umwälzungen noch die Wandlungen der ländlichen Lebensweise haben daran etwas geändert. Ein lebendiger Brauch, keine Attraktion mit verstohlenem Seitenblick auf den Fremdenverkehr, denn wer kommt schon nach Neckenmarkt?
Diese Überlieferungen haben ihren Ursprung in einem Ereignis aus dem Dreißigjährigen Krieg. Es ist die Geschichte eines Waffenganges im ungarischen Grenzland
ANNO 1618. Nicht nur im protestantischen Böhmen, sondern auch in Ungarn gärt es. Der „starke Mann“ im madjarischen Adel ist Bethlen Gabor, Fürst von Siebenbürgen. Sein Ehrgeiz gilt der Stephanskrone. Im Sturm gewinnt er die Magnaten für sich. Nach zwei Jahren scheint er sein Ziel erreicht zu haben: am 27. August 1620 wird er mit großem Gepränge zum König gekrönt. Die Grundherren zwischen Theiß und Leitha huldigen ihm, bieten Wien Trotz, das, in immer größere Kriegshändel verstrickt, den Blick nicht nach Südosten wenden kann, wo ungarische Reiterei und Heiducken- Fußvolk auftaucht, bereit zum Kampf.
Alle ungarischen Aristokraten leisten dem neuen König Gefolgschaft, alle bis auf einen: der heißt Nikolaus Graf Esterhazy. Ihm gehört die Herrschaft Lacken-bach bei Neckenmarkt. Dort sitzt er auf seinem Jagdschloß und läßt ohne Scheu die blaue Fahne mit den fünf goldenen Falken hissen. Dabei ist Lackenbach kein befestigter Ort, und Esterhazys Sassen wissen zwar, wie man die Rüden wartet und bei der Hatz den Sauspieß führt, aber nicht, wie man einen Säbelhieb pariert. Doch der Graf stellt sich zum Kampf. Mit jenem typischen tollkühnen madjarischen Heroismus. Auf das Ultimatum des Königs, sich bis zum Sankt- Michaels-Tag, dem 29. September, zu ergeben, ruft er alle wehrfähigen Männer des umliegenden Gebietes zusammen; gleichzeitig sendet er einen Boten an den kaiserlichen General Dampierre mit der Bitte um rasche, wirksame Hilfe.
Bethlen Gabor schickt seinen bewährten Feldherrn Matthias Tar- rody. Die Ungarn, an blitzschnelle Überfälle und offene Feldschlacht gewöhnt, führen keine mauerbrechenden Waffen. Acht Tage lang halten sie den Belagerungsring um Lackenbach geschlossen. Das Ultimatum läuft ab, doch Esterhazy macht keine Miene zur Übergabe.
DER TAG „JC“ DÄMMERT HERAUF. In den Morgenstunden führt Tarrody seine Scharen zum Angriff.
Da taucht überraschend im Rücken der Ungarn Dampierre auf. Schwere deutsche Reiterei trabt heran, in Küraß und Sturmhauben. Mit voller Wucht prallen die geschlossenen Schlachtreihen auf die Steppenreiter und zersprengen sie. Gleichzeitig macht Esterhazy an der Spitze seiner Leute einen Ausfall.
Einschnitte die Mengen des ausgeschenkten Weins vermerkte.
AM FESTTAG DER PROZESSION legen die „Vorsteher“ ihre überlieferte Tracht an. Sie ist im Stil rein ungarisch, getreu der Bestimmung des Privilegs, die Heiduk- ken-Gewandung vorschreibt: eine niedere braune Pelzmütze und eine kurze, dunkelblaue Jacke mit hellblauem Schnurbesatz und großen, dicht gesetzten alten Messingknöpfen, wie man sie auf barocken
Bewaffnetes Landvolk greift in den Kampf ein, voran die Necken- markter. Über ihren Köpfen weht die Fahne des Grundherrn. Es setzt Hieb auf Hieb und Stoß um Stoß, madj arischer Krummsäbel gegen bäuerlichen Sensenspieß. Tarrodys Truppen kommen ins Wanken; er selbst fällt, bis zum letzten Atemzug fechtend. Dampierres Trompeter blasen Viktoria; die Kaiserlichen erbeuten 14 Fahnen.
Mit dieser Schlacht von Lackenbach beginnt der Aufstieg der Esterhazys zu einem der vornehmsten Geschlechter des alten Reiches. Die Männer von Neckenmarkt aber er- halten das Privileg, an Feiertagen in Heiduckentracht unter Waffen mit der herrschaftlichen Fahne auszurücken.
UM DIESE FAHNE hat sich das Brauchtum des Ortes entwickelt. Sie wurde wohl im Lauf der Zeit mehrmals erneuert, aber die Symbole blieben unverändert: auf der rechten Seite ist in kostbarer Stickerei das Esterhäzysche Wappen zu sehen, auf der linken der kaiserliche Doppeladler mit dem Bildnis der Marią- zeller Muttergottes im Brustschild.
Seit altersher ist die Fahne in die Obhut der ledigen jungen Männer gegeben. Sie bilden die Burschenschaft der Gemeinde, mit genau festgelegten Regeln für den Ablauf der Feierlichkeiten am Sonntag nach Fronleichnam, an dem in Neckenmarkt die Prozession abgehalten wird. Doch bereits zu Pfingsten wählen die Burschen aus ihrer Mitte den „Fähnrich“ und die sogenannten „Vorsteher“: den Kommandanten, zwei „Wachtmeister“ und zwei „Kellner“. Diese hatten ursprünglich die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß bei den Zusammenkünften genug Wein vorhanden war. An ihr Tafelamt erinnert heute noch der „Robisch- Stock“, ein mit bunten Seidenbändern geschmücktes flaches Holz, das sie zum Umgang in den Stiefelschaft stecken. Der Robisch-Stock ist eigentlich nichts anderes als ein Kerbholz, auf dem der Wirt durch und die „Kellner“ lange Gewehre — diese sind allerdings zur Gänze aus Holz gebastelt, und die Mündungen dienen nur dazu, am festlichen Tag Blumen hineinzustecken. In früheren
Magnatenporträts sieht. Dunkle Stiefelhosen und blanke Stiefel vervollständigen die Aufmachung, zusammen mit den dunkelroten, altungarischen Schnurschärpen, auch „Husarengürtel“ genannt.
Der Kommandant führt einen Säbel und als besonderes Kennzeichen eine Kavallerieofflzierskar- tusche mit dem goldenen „E“ der Esterhazys. Des alten Vorrechts eingedenk schultern die „Wachtmeister“
Zeiten war auch der Fähnrich mit einem Säbel bewaffnet, heute freilich ist es schwer, im Burgenland ein entsprechendes Stück aufzutreiben, und in Wien sind Säbel der alten Armee ziemlich teuer, denn, so sagt der Antiquitätenhändler, die Amerikaner zahlen’s ja. Doch nach wie vor gehört zur Tracht des Fähnrichs eine Schürze, das gefranste „Fürtuch“ aus schönem, dunklem Brokat.
Dem alten Brauch der Burschenschaft gemäß, mußte sich der Fähnrich nach seiner Wahl ein „Fähn- richsmadl“ aussuchen. Der Erkorenen fällt es zu, die Fahnenspitze mit Sommerblumen und Blattwerk zu schmücken. Auch stickt sie in ein Fahnenband ihren Namen und die Jahreszahl.
Zeitig am Sonntagmorgen ziehen die Burschen zum Haus des Fähn- richmadls; die Ortsmusik marschiert mit, doch noch schweigen die Instrumente. Die Vorsteher in der Tracht treten ins Haus. Der Vater bittet sie in die Stube, wo er Gulaschsuppe auftischen läßt. Dazu gibt’s natürlich nicht nach Wiener Sitte Bier, sondern nach heimischer Gepflogenheit Wein aus den umliegenden Rieden. „Keiner, nicht einmal der Ärmste im Ort, würde sich ausschließen, wenn seine Tochter Fähnrichsmadl ist“, erklärte der Pfarrer diese selbstverständliche Gastfreundschaft.
Mit den Worten „Gelobt sei Jesus Christus! Wir bitten um die geschmückte Fahne!“ nimmt der Fähnrich das Banner in Empfang.
UNTER TROMMELSCHLAG wird die Fahne vor dem Haus des Fähnrichsmadels zum ersten Male geschwungen, dreimal nach rechts und dann dreimal nach links. Man muß bedenken, daß sie ungefähr die Größe und das Gewicht der alten österreichischen Regimentsfahnen hat; es gehört also schon allerhand Kraft dazu, sie mit weitausholender Bewegung in der Runde zu schwenken.
Die Musik an der Spitze, marschiert die Burschenschaft zum Kirchenplatz. Auf dem weißen Fahnentuch leuchtet das Esterhäzy-Wappen in der Junisonne. Den Schluß bilden die beiden Kellner, und bei jedem Schritt flattern die bunten Bänder an den Robisch-Stöcken in ihren Stiefelschäften.
Vor dem Pfarrhof läßt der Fähnrich die Fahne zu Ehren des hochwürdigen Herrn dreimal kreisen. Von den Wachtmeistern geleitet, tritt der Priester durchs Tor und zieht in die Kirche ein. Und das Fahnenschwingen vor dem Kirchenportal beendet feierlich den Umgang. Doch der Fähnrich darf noch nicht rasten. Für den Nachmittag sieht die Burschenschaftsordnung die Ehrung des Bürgermeisters vor. Wieder stellt sich der junge Mann mit dem schim-
mernden Fürtuch um die Hüften breitbeinig hin und schwenkt langsam, den Oberleib gebeugt, die schwere Fahne über dem Kopf. Erst nach rechts, dann nach links, so will
es die Sitte.
Dann folgt der überkommene Spruch: „Im Namen der Burschenschaft bitten wir um ein Glas Wein!“ Das Glas wird kredenzt, auf das Wohl des Hausherrn geleert und mit dem Satz zurückgereicht: „Die Burschenschaft dankt für die Bewirtung und bittet um Tanzerlaubnis!“
Der Eröffnungstanz gehört natürlich dem Fähnrich und dem Fähnrichsmadl. Die übrigen Burschen halten unterdessen Fahnenwache. Erst dann tragen sie das ehrwürdige Symbol wieder in die Kirche, zu seinem angestammten Platz im Seitenschiff. Dort verbleibt die Fahne bis zum nächsten Jahr, um von einem neuen Fähnrichsmadl aufs neue geschmückt zu werden.
KRIEGERISCHE ÜBERLIEFERUNG wandelte sich zu friedlichem Fest und Brauch, die eine Generation an die nächste weitergibt. So ehren die Neckenmarkter das Andenken ihrer Ahnen, so ehren sie den Herrgott, der ihnen ihren Lebenskreis bestellt, mit Haus, Feld, Weingarten und Waldwuchs. Wenn es ums Fahnenschwingen geht, dann sind diese jungen Leute des Astronautenzeitalters genauso begeistert dabei wie einst die Altvordern, die herzlich wenig von der Welt wußten, die fern hinter den umliegenden Hügeln ihr Wesen trieb.
Vor einiger Zeit sprach der bedeutende österreichische Volkskundler Hanns Koren in einem gedankenreichen und von tiefer Liebe zum Volkstum unserer Heimat getragenen Vortrag über die bedenkliche Grenzsituation ländlichen Brauchs in unserer Epoche. Bietet der Ort Neckenmarkt da unten im mittleren Bur genland in einer Zeit der Kommerzialisierung und Verfälschung oder glatten Aufgabe bodenständiger Eigenart nicht ein positives Gegenbeispiel? Oder werden sich in ein paar Jahren die Burschen von Neckenmarkt, die dann dran wären, „was G’scheiteres“ wissen und diese profilierten und gerade im klein gewordenen Österreich um so interessanteren Traditionen mit ihren festen Regeln als abgeschlossenes Kapitel der Landeskunde in den Bereich des Musealen verweisen? Kenner der lokalen Verhältnisse verneinen dies entschieden. Hoffentlich behalten sie recht.
Für Neckenmarkt und dieses ganze Gebiet des mittleren Burgenlandes wurde der Fahnenschwinger zum Wahrzeichen. Freilich, er ist bei weitem nicht so berühmt wie etwa die Schemenläufer von Imst, die Perchten aus dem Gasteinertal oder der Riese Samson aus der steirischen Krakauebene und dem Lungau. Doch könnte er, würde er etwas populärer, im großen Bilderbuch Österreich gewiß in Ehren bestehen