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Die Fahrt zur Glocke

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Es hat sich reich gelohnt, einer Wanderung über Kampfstätten der k. u. k. Armee einen tiefen Sinn zu geben. Eine Wallfahrt sollte es sein. Allerdings nicht zu einem Gnadenbild, ondern zu einer Glocke einmaliger Art. Gegossen ist sie aus dem Erz von Kanonen aller 1914 bis 1918 am ersten Weltkrieg beteiligten 17 Staaten; im Beisein eines Königspaares wurde sie am 4. November 1925 auf den Namen „Maria Dolens“ — Schmerzensmutter Maria — feierlich geweiht und getauft mit Wasser aus Flüssen, Seen und Meeren, die der Schauplatz furchtbarer Schlachten waren. Und als sie, die über 17.000 Kilogramm schwere „Große Terz der Welt“, aushub zu ihren ersten donnernden Schlägen, muß es herzerschütternd, aber doch noch vielmehr herzerhebend gewesen sein, denn da erhoben sich vom Glockensockel der hoch über dem uralten Kastell von Rovereto frei ausschwingenden, gewaltigen Ruferin Tausende von Tauben, die aus allen Provinzen Italiens stammten, um nach allen Weltrichtungen auszufliegen und überall hin, bis zu den entlegensten Ortschaften des Königreiches den Aufruf zu Ruhe und Frieden zu bringen. Sendboten sollten sie sein für ein allen Völkern der Erde geltendes Mahnwort des Vaters der Christenheit, in goldenen Lettern handschriftlich eingeritzt in das Mantelinnere der Glocke: „Nulla e perduto con la pace, tutto puö essere perduto con la guerra“ (Nichts kann im Frieden verloren, alles kann im Kriege verloren werden).

Drei Hochgedanken sind es, die der Initiator der Campanna dei Caduti, Don Antonio Rossaro, ein edler Priester von Rovereto, in der Gefallenenglocke lebendig erhalten wissen wollte: Ehrfurcht vor dem Heroismus aller im Kampf gestandenen Soldaten, Trauer um die Hekatomben an Toten und die Mahnung zum Frieden unter den Völkern.

Mit diesem Dreiklang im aufgeschlossenen Kerzen traten im August dieses Jahres unser vier alte Tiroler Kaiserjäger, darunter sogar ein seit vielen Jahren in Uganda (Afrika) wirkender Missionär, den Marsch an, der uns von Folgaria nach Arsifro und auf den Monte Pasubio führen sollte, um dann zu Füßen der Glocke von Rovereto zu enden.

Als Patrioten nahmen wir auch eine alt-österreichische Doppeladlerfahne mit. Sie stand Ehrenwache bei zwei Gedenkgottesdiensten, zum Geburtstag Kaiser Karls in der Pfarrkirche von Folgaria und zu jenem Kaiser Franz Josephs I. in der Krypta des Pasubio-Ossario (Beinhaus), über den sterblichen Ueberresten von über 10.000 Gefallenen von hüben und drüben.

Die Fahrt selbst ging durch Wälder und über Almen, bergauf und bergab, über Höhen, die wir einst erstürmt hatten und nun als alte, stolze friedliche Pilger wieder betraten. Da und dort finden wir die bedrückende Leere der einstigen Kampfbühne mit versöhnenden Bildern geschmückt: Geruhsam weiden Schaf- und Rinderherden auf grünen Matten, das gutmütige Vieh sättigt sich am Gras, das dem blutdurchtränkten Boden entwächst, und löscht sich den Durst am trüben Wasser der Löcher, die von Granaten aufgerissen worden waren. Bauern aus nahen und aus entfernten Ortschaften des Terra-gnolotales finden wir bei mühsamer Heuaxbeit

Dort, wo sie mähen, schwang einst ein anderer seine Sense ...

Und drunten in altitalienischen Tälern, auf Wegen, die wir ehemals unter einem Hagel von Geschossen im Laufschritt stürmend überquerten, ziehen nunmehr friedsame Esel und Mulis ihre hochbeladenen Karren, und an Dorfbrunnen, die uns vor 40 Jahren Wasser schenkten, schauen uns Frauen und Mädchen beim Waschen verwundert in die Augen, die sich nicht sattsehen können an der Wohltat eines so friedlich schönen Bildes, gerade da in Castana, in Laghi, in Posina und Fusine.

War's nur ein Traum, daß wir im Schatten der Kirchtürme dieser Dörfer einst so viele Gräber schaufeln mußten? Nein, es war harte Wirklichkeit. Daran erinnern uns nur allzu mächtig die himmelan ragenden Berge, der Monte Cimone, Arlta, Priaforä, Spin, Cogolo, Majo — Berge, über deren wundgepeitschten Gipfeln Friedensengel des Himmels Kränze halten ...

Pax ubi — wo Friede herrscht —, davon soll der Pasubio seinen Namen haben.

Wir gehen Stunde um Stunde von Kaverne zu Kaverne, von einem eingefallenen Schützengraben zum anderen, pflücken vor Kälte fröstelnde Bergblumen an Stätten, wo einst nach fürchterlichsten Kämpfen die Toten drei- und vierfach übereinanderlagen, wir heben Erde aus, die gesättigt ist von Strömen Blutes...

Aber was ist es doch Tröstliches, daß sich italienische Studenten aus Vicenza und Mantua uns zugesellen, unsere Schilderungen von dem Ringen am Pasubio geradezu mit Andacht mit-anhören, einmütig mit uns vor offen daliegenden Gebeinen Gefallener ein Vaterunser beten, indes uns zu Häupten — gewiß erstmals seit 1918 — die Fahne mit dem Doppeladler flattert, das Hoheitszeichen des alten, großen Oesterreich, unter dem einst auch die Urgroßväter dieser blutjungen Menschen standen und dienten, auch als Kaiserjäger. Wo anders als an solchen Stätten, reichen sich Friedwillige zweier Nationen leichter und aufrichtiger die Hände? Und begegnet man ebendort erst gar noch einem besinnlich über die verlassene Wallstatt Wandernden, einem „von drüben“ auch, einem ebenso Grauhaarigen, wie man selbst ist, und es stellt sich beim Ansprechen heraus, daß man sich ausgerechnet am 13. März 1918, am Morgen der grauenvollsten Pasubio-Sprengung — mit 56 Tonnen Dynamit — einander gegenüberstand, nur knapp 200 Meter voneinander getrennt! Wir beide, der Alpinioberleutnant und der Kaiserjägerleutnant von einst, bisher einander unbekannt, zwei von den wenigen Ueberleben-den aus jenen schicksalschweren Stunden, wir haben uns wahrhaftig wie Kameraden und nicht mehr als Feinde warm die Hand gedrückt, im ehrlichen Bekenntnis zu gegenseitigem Verstehen und zum Frieden unter alten Soldaten.

Dies alles dürfte wohl .genügt haben, um den über ruhmbedeckte Berge Pilgernden die denkbar beste Einstimmung des Herzens zu schenken für das Endziel der tagelangen Wanderung.

Das Kriegsmuseum im Kastell von Rovereto hätte einem des Sehenswerten für einen ganzen Tag geboten. Aber als Anziehendstes schien einem doch der große Bildersaal, überschrieben mit „Austria“. Beim ersten Besuch im Jahre 1928 verließ man diesen Raum in Zorn und Groll, denn da fand man die Kaiser-Franz-Joseph-Bilder mit ausgestochenen Augen und von Schmähworten besudelt. Wie dankbar drückt man aber jetzt dem freundlichen Provveditore, dem Kustos des großangelegten Museums, Herrn Giovanni Malfer, die Hand, daß er in letzten Jahren gründlich Wandel geschaffen hat. Nunmehr grüßt uns das restaurierte lebensgroße Porträtgemälde des verewigten Monarchen von der Stirnseite des großen Saales. Und von den Wänden grüßen, gleichfalls renoviert, die Porträts Kaiser Karls und Kaiser Wilhelms IL, wie jeae der Heerführer Feldmarschall Erzherzog

Eugen, Generalfeldmarschall von Hindenburg, Feldmarschall Conrad und Mackensen usw.

Wie greift es einem im angrenzenden Räume ans Herz vor dem großen Gemälde: „Unterzeichnung des österreichisch-ungarisch-italienischen Waffenstillstandes am 4. November 1918 in der Villa Giusti bei Padua“ und vor dem, im Vordergrund unter einem Glassturz ruhenden k. u. k. Signalhorn jenes Trompeters, der den österreichischen Obersten von Schneller übers Niemandsland hinüberbegleitete und dann das historisch-denkwürdige letzte „Abgeblasen“ über die stillestehenden österreichischen Schlachtenreihen hinblies!

Von starken Eindrücken erfüllt, standen wir Schlachtfeldpilger dann eines Sonntagmorgens am Ziel: unter dem erzenen Mantel der Kriegerglocke, hoch über dem Kastell, die ihre täglich hundert wuchtigen Schläge einmal des Jahres, jeweils am Abend des 30. August, des Jahrestages der Schlacht um Lemberg (1914), eigens für die Gefallenen unserer eigenen österreichischen Heimat in die Berge sendet. Seit 1945 auch für all die Hunderttausende an Todesopfern des zweiten Weltkrieges, auch für die in der Heimat von den entsetzlichen Bomben Getöteten. Auch für die in unseren Städten armselig Verhungerten.

Im Mantelinnern steht obenan, über den in Bronze eingeschnittenen Musikzeilen und Anfangsversen der populärsten Soldatenlieder aller Nationen, unser „Ich hau' einen Kameraden ...“ Ihm folgt das englische „There's a long, long trail...“ und darunter erst das italienische „Lied des Piave“. Ihm schließen sich an: ungarische, tschechische, japanische, französische, russische Kriegslieder.

. Wie ergriffen man da betet - nicht allein, sondern zusammen mit ehemals italienischen Kriegern aus Udine, Venedig, Verona, Parma und Piacenza, ja sogar aus Sizilien; wie erspürt man da so recht die Weltweite des Gebets des Herrn und ebenso aufrichtige Friedensbereitschaft von hüben und drüben.

Jetzt um Allerseelen möge die „Große Terz“ von Rovereto es uns tief hineinhämmern, was ihr Stifter, Don Rossaro — es sei in unserer Sprache wiedergegeben — für alle Zeiten in Marmor graben ließ:

„Don ... Don ... Don ... Alles im

Dunkel schweigt: Einzig die Glocke spricht zu den

Toten: Friede! Lautes Herzklopfen und Lärm von

Stimmen

Zieht über Gräber und Gräber unter den einsamen Kreuzen, Lind die Glocke in dumpfen Schlägen Krampfhaftes Weinen hat sie und Schluchzen. Die Toten hören's und lauschen schweigend Und trinken aus den Blumen den Wermut der Tränen. Lind die Glocke in der Trauernacht, Sie ruft zu allen Sternen des Himmels. Nun schlafen die Toten tief in der Erde,

Träumen die Träume der Liebe und jene des Krieges. Jedes Kreuz hat seinen Stern und über allem ist Friede.

Nun schlafen die Toten und die Glocke schweigt.“

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