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DIE FARBE DES PLANETEN

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Mehr als zwanzig Jahre lang, etwa von 1907 bis zu seinem Tod, war Hofmannsthal mit dem österreichischen Finanzminister, Universitätsprofessor und Rechtsgelehrten Josef Redlich befreundet. Dieser von Hofmannsthal hochgeschätzte liberale und europäisch denkende Politiker hatte ein umfangreiches Werk über die Regierung Kaiser Franz Josephs erscheinen lassen, und der Gedanke lag nahe, daß sich Hofmannsthal publizistisch für dieses Buch einsetzte. Hierüber schreibt er am 28. November 1928, also acht Monate vor seinem Tod, an den Freund: „Ich bin dazu in meiner gegenwärtigen Lebensphase unvermögend. Eben weil ich mit dem Zusammenbruch Österreichs das Erdreich verloren habe, in welches ich verwurzelt bin… eben weil dies mein eigenes Erlebnis ist, eben weil mein eigenes dichterisches Dasein in diesem Zusammensturz fragwürdig geworden ist (und fragwürdig werden mußte, sieht man es für mehr an als ein bloßes Literatendasein), eben darum, weil dies alles mir so furchtbar nahe, so unausdenklich bedeutsam ist — kann ich über diese Dinge nur schweigen — wofern ich mich — in einer wirklich nicht unbedrohten, einem andern kaum dar- legbaren Lage — nicht schwer zerrütten will.”

„Sieht man es für mehr an als ein bloßes Literatendasein” — es äst, so scheint uns, heute soweit. Hofmannsthal, der Ästhet, der „Neuromantiker”, der einer schönen bilderreichen Sprache in seltenem Ausmaß mächtige Impressionist und Stimmungsdichter, der geschmäcklerische Kenner und Erneuerer der Weltliteratur von Spanien bis Byzanz: diese zählebigen Schlagworte, diese Etiketten, die ihm oberflächliche Betrachtung angeheftet hat, beginnen zu verblassen, und ein neues Hofmannsthal-Bild erscheint: das Bild eines großen Dichters, eines verantwortungsvollen Schriftstellers, eines Lehrers und Erziehers, eines Kulturpolitikers von europäischem Format.

Wer Hofmannsthals essayistisches Werk kennt, das innerhalb der Gesamtausgabe vier Bände umfaßt, weiß, wie stark darin der kulturpolitische Akzent ist. Durch die besonders nach 1945 publizierten Korrespondenzen: mit Eberhard von Bodenhausen, mit Rudolf Borchardt, mit Carl Burckhardt, mit Josef Redlich, Florens Christian Rang, zuletzt mit Leopold v. Andrian (1968), wird das sehr nachdrücklich bestätigt.

Deutschland und die Deutschen, Österreich in seiner Eigenart und in seinem Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden, die romanische Welt unter der Führung Frankreichs, Europa und die Chancen einer neuen europäischen Idee nach dem ersten Weltkrieg — all das hat Hofmannsthal dauernd und intensiv beschäftigt: von der Antwort auf die IX. Canzone Gabriele d’Annunzios im Jahre 1912 bis zur großen Münchener Rede über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation” von 1927. Freilich schrieb und wirkte er nicht in der Art des Tagespolitikers, sondern eher etwa in der Weise Grillparzers, in dem Hofmannsthal einen „eminent politischen Kopf” erkannte… Nichts von dem, was er schrieb, sagt Hofmannsthal von Grillparzer, war ideologisch, sondern alles war immer wesenhaft, durchtränkt von zartester Kultur und tolerantester Vitalität. Man findet bei Grillparzer — und wir können hinzufügen: auch bei Hofmannsthal — keine allgemeine politische Deklamation, wohl aber eine reiche politische Materie, die ihn anging und die er kannte, wie kaum einer: dieses alte und lebendige Staatengebdlde Österreich. „Dieses liebte er und durchdrang es mit scharfem politischem Denken, aber er liebte es nicht, sich unter die politische Kleie zu mengen… Für die, welche allein politisch zu leben meinten, war er bei Lebzeiten ein toter Mann. Nun ist er freilich lebendig, die andern tot.”

Für Hofmannsthals Art der Betrachtung gilt ferner, was er einmal über Maria Theresia gesagt hat: „An welche Mächte sie glaubte und an welche nicht, ist eine Frage, die in keinem Katechismus steht und doch von Generation zu Generation beherzigt worden ist: wie sie das Rechte kaum vom Schicklichen und das Schickliche kaum vom Natürlichen trennte — so natürlich war ihr das Sittliche… ihre Instinktsicherheit und ihre hohe Seelenkraft, daß sie das Höchste überall nicht begrifflich, sondern mit dem Gemüt fassen will, ihr Mißtrauen gegen den Begriff und ihr Zutrauen auf den Menschen, das ist einem Geschlecht nach dem andern ins Blut gegangen”, und von diesem Muttermut hat auch der späte Enkel Hofmannsthal sein Teil. Die Maxime Maria Theresias: daß alles in Fluß bleibe und eine einfache, friedliche Lösung finde, war auch die Hofmannsthals bei seinen vielfältigen, kulturellen und kulturpolitischen Bemühungen.

Dieser auf Konzilianz, auf Versöhnung der Gegensätze bedachten „weiblichen” Art entspricht auch Hofmannsthals Taktik und Technik im Ansteuern und Realisieren seiner Ziele und selbstgestellten Aufgaben. Es gibt von ihm keinerlei Manifest, keine wuchtigen Sprüche, und es fehlt ihm ganz die Gebärde des Propheten oder die des zornigen Donnerers, der dem widerstrebenden Volk die geschändeten Gesetzestafeln an die Köpfe wirft. Das unterscheidet ihn nicht nur von St. George, sondern auch von dem ihm freundschaftlich nahestehenden Rudolf Borchardt. Eine Gesinnung, wie sie etwa aus dem Satz Borchardts spricht: „Ich lasse mich nicht zu dem Niveau meiner Leser herab, sondern setzte das meine” war ganz und gar nicht die Hofmannsthals. In einem Brief an George bekannte er, daß er dem Zeitgeist in allen möglichen Verkleidungen beizukommen versuche und sogar die Maske eines gewissen Journalismus nicht verschmähe. — Hofmannsthal wollte im großen nicht die Partei und die „Bewegung”, im kleinen nicht einmal den „Kreis”. Die Gruppierung der Menschen um ihn bezeichnet er einmal in einem Brief als „eine durchaus vom Leben, von den Instinkten der Freundschaft geformte”. Und wenn George in einem hochbedeutsamen und resümierenden Brief (1902) an Hofmannsthal schreibt: „Ich war des festen Glaubens, daß wir, Sie und ich, durch Jahre in unserem Schrifttum eine sehr heilsame Diktatur hätten üben können. Daß es dazu nicht kam, dafür mach’ ich Sie allein verantwortlich”, so spricht aus solchen Sätzen ein tragisches Mißverständnis. Denn nichts lag Hofmannsthal ferner als der Gedanke einer literarischen Diktatur.

Seine Bestrebungen und Mittel waren von völlig anderer Art. Er schrieb Theaterstücke und Libretti, hielt Vorträge in durchaus konventionellem Rahmen und vor gemischtem Publikum, veröffentlichte in Zeitschriften und in Tageszeitungen und entfaltete eine bedeutende herausgeberische Tätigkeit. So entstanden die Sammlungen „Deutsches Lesebuch”, „Deutsche Erzähler”, „Wert und Ehre deutscher Sprache” und die „deutschen Epigramme”, in diesem Sinne edierte er die „Neuen deutschen Beiträge” und beteiligt sich helfend und beratend an vielerlei literarischen und kulturellen Unternehmungen. Aus all dem, aus seinen Vorworten und Nachreden, seinen Vorträgen und gelegentlichen Äußerungen muß man sich zusammenstellen, rekonstruieren, wie r Deutschland, wie er seine Heimat Österreich, wie er Europa — in der Idee und in ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit.— gesehen hat.

Inbegriff des universalen Deutschtums war für Hofmannsthal Goethe, dessen umfassendes und vielgestaltiges Werk immer in seinem Geist gegenwärtig ist. Die Wertschätzung Goethes und der älteren, zu ihm hinführenden Literatur spiegelt sich etwa in der Eintragung im „Buch der Freunde”: „Wir haben keine neuere Literatur, wir haben Goethe und Ansätze.” — So ist die Sympathie und das Interesse Hofmannsthals auch in der Sammlung „Deutsche Erzähler”, die fast ausschließlich Werke von Dichtern des 19. Jahrhunderts bringt, durchaus beim „Altdeutschen”. Dem Jahrhundert deutschen Geistes (1750—1850) hat Hofmannstahl das „Deutsche Lesebuch” gewidmet, das er mit einer Vorrede eröffnete und mit 43 „Gedenktafeln”, kurzen Charakteristiken der einzelnen Autoren, abschloß.

Bezeichnend ist auch, daß Hofmannsthals Blick bei seinen .verlegerischen Unternehmungen, bei den bereits genannten Sammelwerken, immer auf das Vorbild Frankreichs gerichtet war: „Wie pflegen die Franzosen ihr großes Jahrhundert. Das 18. hat erst das 17. recht erkannt und es in ein genaues und zugleich ehrfürchtiges Licht gestellt. Bei den Deutschen dagegen scheint der ganze Begriff geistiger Tradition höchst bedingungsweise anerkannt, und vieles wirkt hier dem Consensus omnium entgegen.” In seiner großen Münchener Rede über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation”, in der Hofmannsthal auch das Wort von der „konservativen Revolution” prägte, wies er auf die Aufgabe hin, die den Geistigen gestellt ist: dahin zu wirken, daß der Geist Leben wird und Leben Geist. Hofmannsthal wollte einen neuen Bildungskosmos schaffen. Daß dieser — vorläufig letzte Versuch dm deutschen Sprachgebiet — von einem österreichischen Dichter und gerade von Wien aus unternommen wurde, ist kein Zufall.

In dem berühmt gewordenen Eranos-Brief, den Borchardt für die Festschrift zu Hofmannsthals 50. Geburtstag schrieb, heißt es:

„Soviel wie die antikste aller Städte Europas, die italienischere als alle Städte Italiens, die älteste und jugendlichste Großstadt deutscher Zunge, soviel wie Wien an europäischer und menschlicher, an ungebrochener deutscher Vergangenheit besaß, soviel besaßest Du unbefangen als ein unerkämpftes Erbe. Endliches mündiges Mundstück der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs, der organische Kulturausdruck der letzten deutschen Universalmonarchie Europas, durch die Sprache und in der Sprache den ganzen Bildungsbestand der alten Bildung besitzend, durch das lebendig gebliebene Barock die Renaissance und die Antike in geschichtlich verfeinerten und ätherisierten Formen, durch, österreichisch lebendige Nachzeugung Italien bis nach Byzanz, Spanien bis zum Cuba des „Weißen Fächers”, durch die blühende archaische Mundart eines homogenen Volksstammes so viel Mittefalter wie Dir unentbehrlich war, durch die heiter erhalten gebliebene Lebensform höfischer Stände zugleich ein der letzten deutschen Klassizität von selbst blutsverwandtes, leise über das Alltägliche und Papierene ins Wandellose gesteigertes Idiom — so vollendetest Du auf der ganzgebliebenen österreichischen Länderbrücke neben dem einsinkenden Reiche die deutsche Kultur als ihr direkter Fortsetzer und Verklärer.”

So der aus Ostpreußen stammende Freund und Weggefährte, dem Hofmannsthal als der berufene Erbe des vielgestaltigen Kulturbesitzes der alten Habsburger-Monarchie erscheint. Wie sah nun Hofmannsthal selbst seine Heimat Österreich, die ihr aus der besonderen Lage zuwachsenden Aufgaben und seine eigene Position? (Es sei, schreibt Hofmannsthal einmal, nicht gleichgültig, ob man von gestern oder als Mark des Heiligen Römischen Reiches 1100 Jahre oder als römische Grenzkolonie 2000 Jahre alt ist.)

Das Schicksalhafte des österreichischen Wesens gehe darauf hinaus, in deutschem Wesen Europäisches zusammenzufassen und dieses nicht mehr national akzentuierte Deutsche mit slawischem Wesen zum Ausgleich zu bringen, es gehe auf Ausgleich der alten europäischen lateinisch- germanischen mit der neueuropäischen Slawenwelt. Dieses sei die wirkliche raison d’etre Österreichs. Aber: „Der Dichter denkt, indem er das Menschliche tief sieht. Darüber entsteht in ihm von den Grundverhältnissen des Daseins eine Idee, und mit solchen Ideen, die Gestalten sind, bringt er in das schwanke und wirre Weltwesen die herrliche Ordnung, die aus seinen Gedichten wiederstrahlt.” Solche Gestalten waren für Hofmannsthal: Prinz Eugen, Maria Theresia, Grillparzer, Raimund, Stifter und die großen österreichischen Musiker von Haydn bis Schubert und Mahler. „Nicht so gedächtnislos sollte Österreich sein”, schreibt er im Vorwort zu der „österreichischen Bibliothek”, die er 1916 im Auftrag des Insel-Verlages herausgab, „daß es bei jeder Wendung des geschichtlichen Lebenswegs die aus den Augen verlor, die in früheren Geschlechtern in ihm Großes gewirkt haben und gewollt hatten, und nicht so dumpf und unbekannt mit sich selber”. Und „es ist etwas Stummes um Österreich”, klagt er, „es ist vieles da und dort, worauf Worte nur selten hindeuten, etwas Wesenhaftes, Unverbrauchtes, wovon in großen Stunden große Kraft ausgeht. Manches ist davon zu Zeiten Musik geworden. Die Musik kommt immer an ihr Ziel, das Wort irrt leicht ab.”

Der landschaftlichen Vielfalt des alten Österreich entspricht eine Vielfalt der sozialen Typen in der Vertikalen, bedingt durch erhaltende Faktoren, wie Klosterbesitz, Gutsherrschaft, Einzelbesiedlung und Militärbesiedlung in früheren Jahrhunderten, vom halbitalienischen Tirol bis hinunter zu den Banaler Schwaben. Es sind dies im Grunde lauter Partikularismen, aus denen sich das österreichische zusammensetzt. — Von besonderer Art ist auch die Idee der Herrschaft, die der Österreicher hat. Ihr Wesentliches sei nicht diese oder jene Staatsform, sondern Dauer, das Beständige, organisch Haltbare. „Politik”‘, heißt es in dem Essay „Grillparzers politisches Vermächtnis”, „ist Menschenkunde, Kunst des Umgangs, auf einer höheren Stufe. Ein irrationales Element spielt hier mit, wie beim Umgang mit einzelnen: wer die verborgenen Kräfte anzureden weiß, dem gehorchen sie. So offenbart sich der große politische Mensch. Vom Dchter ist es genug, wenn er die Mächte ahnt und mit untrüglichem Gefühl auf sie hinweist. Für Österreich kommen ihrer zwei in Betracht, die von den politischen Zeitideen nur leicht umspielt werden, wie Gebirg und Tal von wechselnden Nebelschwaden: der Herrscher und das Volk. Zu beiden von den Zeitpolitikern nicht immer klar als solche erkannten Hauptmächten stand Grillparzers Gemüt und Phantasie in unablässiger Beziehung: er war in seinem Wesen Volk und war in seinen Träumen Herrscher. In beiden Verwandlungen entwickelte er das Besondere, Starke, Ausharrende seiner österreichischen Natur.” (Um dieses Problem geht es auch in Hofmannsthals Staatstragödie „Der Turm”, wo sich der legitime, aber ohnmächtige Herrscher und der Usurpator gegenüberstehen.)

Hofmannsthals Verhältnis zur deutschen Kultur- und Geisteswelt war völlig komplexfrei. Um so gewichtiger erscheint uns sein leidenschaftliches Bekenntnis zur österreichischen Idee, zu einem realistischen und praktischen Austriazismus. Hören wir über diesen Punkt zunächst das Zeugnis des Freundes Rudolf Borchardt: „Keine Darstellung würde dem letzten großen Dichter der Deutschen gerecht, die den im Leben und Tode getreuen Sohn des Vaterlandes in ihm verkannte, den bedingungslosen Österreicher, den unnachgiebigen, in Biegsamkeit doppelt unbrechbaren Geist, der für die Monarchie stand, für das Phantom, für die besiegte Sache, für das Ideal. Wenn der Anschluß kommt, werde ich Schweizer, schrieb er mir. Hier war die Grenze seiner Konzilianz, hier konnte der bis ins Unmeßbare Gerechte ungerecht bis zur Härte werden, hier schlug sein Herz und hier brach es!”

In Hofmannsthals Nachlaß fand sich ein Manuskript, vermutlich aus dem Jahre 1922, mit dem Titel „Bemerkungen”, das er zu seinen Lebzeiten nicht drucken ließ und in welchem die folgenden Sätze stehen:

„Mein eigener Versuch, diese Geistesart auszuprägen: die eigentümliche Mischung von Selbstgefühl und Bescheidenheit, sicherem Instinkt und gelegentlicher Naivität, natürlicher Balance und geringer dialektischer Fähigkeit, all dies, was die Wesensart des Österreichers ausmacht, in Erscheinung zu bringen, spricht ebenso deutlich in meinen Lustspielversuchen, wie dem ,Rosenkavalier’, dem ,Schwierigen’, die gar nichts sind, wenn sie nicht Dokumente der österreichischen Wesensart sind, als in schärferer Formulierung aus zahlreichen Aufsätzen und Reden, wie ,Maria Theresia’, ,Prinz Eugen’, Österreich im Spiegel seiner Dichtung’. Aus den während des Krieges in Stockholm und Oslo, in Warschau und Bern gehaltenen Vorträgen, die auf nichts anderes hinausliefen, als den Nationen Europas ins Gedächtnis zu rufen, daß das gegenwärtige Deutsche Reich nicht das ganze Gesicht des deutschen Wesens in Europa zeige, daß dieses Gesicht nicht ohne die in Österreich erhaltenen Züge eines älteren und höheren Deutschtums erkannt werden können.”

Und Hofmannsthal selbst war ja, wie kaum ein anderer, schon durch seine Geburt berufen, dieses österreichische, wie er selbst einmal sagt, „nicht mehr national akzentuierte” Wesen auszuprägen und zu verkörpern. Denn vielerlei Blutströme trafen in ihm zusammen: Ahnen aus der ältesten Rasse Europas begegneten österreichischen, schwäbischbayrischen und italienischen (eine Großmutter väterlicherseits stammt nämlich aus einer lombardischen Patrizierfamilie). So ist Hofmannsthal selbst schon von Geburt ein Produkt — und ein Repräsentant — des alten Vielvölkerstaates, in dem man den Nationalismus neuerer Prägung nicht gekannt hat.

Die vielen Provinzen des alten Österreichs und ihre Völker, deren Kultur und Literatur waren in Hofmannsthals Bewußtsein stets gegenwärtig. Der Geist, in welchem er sich mit ihnen beschäftigte, war der der Liebe und der vollkommenen Ehrfurcht für alles Eigenständige und lebendig Gewachsene. Sind auch die Äußerungen zu diesen Gegenständen nicht eben zahlreich, so haben sie paradigmatische Bedeutung. Wie ermuntert er immer wieder seinen Freund Robert Michel, seine herzegovinischen Geschichten aufzuschreiben! Von welcher Einfühlung zeugt seine Vorrede zu einer Übersetzung tschechischer und slowakischer Volkslieder (durch Paul Eisner, 1922) und das Vorwort zur deutschen Ausgabe von Victor Eftimius „Prometheus” (durch Felix Braun, 1923)! Vor hundert und mehr Jahren waren es, so schreibt er, die Deutschen, an deren Hand die kleineren Völker des östlichen wie des südöstlichen Europa in den Kreis der großen Nationen geleitet wurden, „und mit Ehrfurcht hoben sie den Schleier und fingen die tiefen Seelenblicke auf, mit denen jene imberührten Völker wie aus eben erwachenden Kinderaugen sie ansahen”. Und dann stellt Hofmannsthal die bange Frage: „Ist es ein Abnehmen des Gemütes, daß wir heute nicht mehr so in Europa stehen als die freudig Empfangenden, die Willigsten unter den Verstehenden?”

Doch die jungen Völker werden mündig, und da stehen ihre Geistigen vor ganz neuen, einmaligen Aufgaben: „Ich denke mit einem besonderen und ehrerbietigen Gefühl an die Situation des Dichters als Repräsentanten einer solchen jüngeren Nation im Augenblick ihres europäischen Aufstieges. Er ist der Führer seines Volkes auf einer Wegstrecke, die auch im tausendjährigen Dasein der Nationen nur einmal durchmessen wird: auf dem Weg von der in sich befriedeten Kindheit zu einem Dasein, auf dem dann plötzlich die ganze verantwortungsvolle europäische Spannung lastet.” Was diesen Dichtem gelingt, meint Hofmannsthal, das ist zugleich ein Gewinn für alle. Sie erleben in einer Lebensspanne Saat und Ernte und noch die fröhliche Speisung aller mit dem geernteten Brot. „Und wie ihnen mit der Sprache das Höchste in die Hand gegeben ist, so formen sie das Seelenbild der eigenen Nation.”

Was nun speziell das Prometheus-Drama von Eftimiu betrifft, so erscheint Hofmannsthal diese Dichtung vom Stoff und der Form her geeignet, in das große europäische Konzert aufgenommen zu werden: „Das Höchste des bei solchen Versuchen zu Erreichenden bleibt freilich nur innerhalb der Nation selber erkennbar. Wir aber erblicken in dem hohen Europäismus des Versuches selber die Stärkung eines geistigen Palladiums, des letzten, das uns geblieben ist, indessen die Erde dröhnt von den Myriaden Tritten jener inneren Völkerwanderung, jenes Emportauchens der Barbaren aus dem Boden selber des alten Erdteils, unter dessen noch ungeschwächter Drohung wir stehen.”

Europa, die Einheit der alteuropäischen Kultur, war für Hofmannsthal keine „Idee”, sondern eine Realität: lebendige Wirklichkeit. Und dies auszusprechen, für diese Wirklichkeit einzutreten, hat er während seiner letzten Lebensjahre keine Gelegenheit vorübergehen lassen. So schrieb er in einem seiner letzten Briefe an den Freund Carl Burckhardt: „Meine Heimat habe ich behalten, aber Vaterland habe ich keines mehr, als Europa. Ich muß dies fest erfassen, nur die Klarheit bewahrt vor langsamer Selbstzerstörung.”

In den Notizen zu einem Vortrag, „Die Idee Europa”, 1916 geschrieben und 1930 erstmalig in der „Europäischen Revue” veröffentlicht, finden wir Gedanken, die auch heute wieder aktuell sind… Hofmannsthals Generation ist in dieser Idee aufgewachsen und hat ihre Erschütterung, ihren scheinbaren Zusammenbruch erlebt. Sie aufs neue in ihrer ursprünglichen Größe und Reinheit zu erfassen — dazu gehört Mut und Entschlossenheit, Geist und Genialität, Stärke und Liebe. Ihr Wesen ist letzten Endes geistig, es schichtet sich der Realität über, es ist gewissermaßen transzendent: darin liegt ihre Ungreifbarkeit und ihre Unangreifbarkeit. — Aus der Civitas Dei wurde die Res publica litteraria, die ihrerseits abgelöst wurde von einer „schwebenden Ideologie” der Humanität mit dem Pathos der Toleranz. In ihrer höchsten Form tritt zu den heiligen Gütern des Wissens und des Glaubens das allerheiligste des Begreifens, Ertragens und Verzeihens. Postuliert wird in ihr nicht nur Europa, der geographisch umgrenzbare Begriff, sondern namens Europas die Menschheit, namens der Menschheit die göttliche Allgegenwart. Diese Idee zu schützen, gibt es keinen Codex und keine Exekutive. Trotzdem ist es dieser Begriff, ist es die Realität, welche dieser Idee innewohnt, die von Frist zu Frist das Schicksal des Erdteiles und der Welt rettet.

Dieser Begriff hat hohe und niedere Möglichkeiten, es geht darum, ihn nicht zu verflachen. Es genügt nicht, Europa als Musterbild und Modell der Weltwohlfahrt in bezug auf Technik, Hygiene und Sekurdtät zu sehen. Er kann auch nicht gefunden werden durch den abstrahierenden Prozeß oder indem man vom Nationalen etwas wegläßt oder dazusetzt. Er ist in den höchsten Äußerungen jeder Nation enthalten. Die großen Phänomene werden europäisch: so die deutsche Musik von Bach bis Beethoven wie die französische Malerei von Ingres bis Cezanne. Wo ein großer Gedanke gedacht wird, ist Europa, wo er innerhalb der Sphäre des Nationalen gedacht wird, wartet er darauf, ins Universale zu münden. Jede Philosophie ist heute, wie zu Anaximanders Zeiten, europäisch. Jede fruchtbare Erkenntnis der Vergangenheit ist europäisch. Jede tiefere Betrachtung Nichteuropas ist europäisch. Und wessen bedürften wir mehr, als eines tiefen, völlig neuen, völlig reinen Blicks auf Nicht-Europa! Der wahre Europäismus aber ruht auf dem höchsten Selbstgefühl der Nationen, dieses so hoch getrieben, daß ihm aus der Erkenntnis der Unvergleichbarkeit die Blüte liebender Gerechtigkeit entsprießt.

„Für uns”, sagt Hofmannsthal mit dem Blick auf Österreich, „auf dem Boden zweier römischen Imperien hausend, Deutsche, Slawen und Lateiner, ein gemeinsames Geschick und Erbe zu tragen, für uns wahrhaft ist Europa die Grundfarbe des Planeten, für uns ist Europa die Farbe der Sterne, wenn aus entwölktem Himmel wieder Sterne über uns funkeln. — Wir, nicht auf errechenbare Macht, nicht auf die Wucht des nationalen Daseins, sondern sehenden Auges auf einen Auftrag vor Gott gestellt — wie sollten wir leben, wenn wir nicht glauben wollten, und was wäre des Glaubens würdiger als das Hohe, das sich verbirgt, und das Ungreifbare, das sich dem gebundenen Sinn, dem stumpfen Herzen versagt?”

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