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DIE FRAU AM UFER

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„Nessun maggior dolore, che ricordarsi del tempo felice Kella miseria.“

„Kein größerer Schmerz, als sich im Unglück an glückliche Zeiten zu erinnern.“ (Dante)

Wage ich es, ein wenig mit den Worten eines großen Dichters zu spielen und setze ich statt „dolore — Schmerz“ das Wort „consolazione — Trost“, so ergreift uns ein neuer Sinn, weniger verlockend, sich fallen zu lassen in einen Schmerz und an ihm zu saugen (man erhält so die Wunde blutend), als eher fordernd, sich aus der Wehklage zu erheben und aus erlebtem Glück und Unglück stärker und unverletzlicher hervorzugehen:

„Nessun maggior consolazione, che ricordarsi del tempo felice nella miseria.“

„Kein größerer Trost, als sich im Unglück an glücklichere Zeiten zu erinnern.“

*

Die Steinstufen, die leuchtenden Steinstufen Italiens, ich beschreite sie immer wieder im Traum, barfuß, und während meine Zehen ihre Poren tasten und meine Fußsohlen ihre Wärme spüren, steigt die Erinnerung so gegenwärtig auf, daß für einen Augenblick alles zugleich beschworen wird:

das Meer, noch die geschlossenen Augen so erfüllend, daß sie wie kleine Fische in ihm treiben, und der Körper, schwerelos — endlich, endlich vom Meer umarmt — zurückgeglitten scheint in einen Urleib, Ölbäume, die aus der Ewigkeit wachsen und sich im Anhauch eines Windes plötzlich silbern verklären, am Horizont eine Bergstadt, dunkel, unwahrscheinlich, Glockentürme und Zinnen aneinändergedrängt, und eine flaumige, grüne Ebene, in die man sich einwühlen möchte, und mit den Zähnen die sonnenwarmen Trauben von den Stöcken reißen, rotbraune, wellige Dächer, weiße Mauern, grüngefleckt von Kupfervitriol, alle Fensterläden geschlossen, bukolischer Schlaf... Man erschrickt fast vor den hohen, schmalen Zypressen, die an der Straße wie schwarze Mönche stehen, und denkt an Asphodelos, die Totenblume, an Mandelbaumgärten ... und im Nachgeschmack ihrer Früchte kaut man am bitteren Kern in einer blühenden, üppigen Gegenwart.

Auf diesen geliebten Steinstufen, die dem ärmsten Fischerdorf einen Hauch von Vornehmheit und Größe geben, sitzt eine alte Frau und hält ihre Angelschnur ins ölige Wasser des Hafenbeckens. Sie hält sie einmal mit der rechten, einmal mit der linken Hand, und der weiße Baumwollhandschuh schwebt ein wenig zitternd über leise schaukelnden Konservendosen und Orangenschalen, die es hier anschwemmt. Sie sitzt — im fast schmerzhaften Glanz des Nachmittags — in ihren Mantel aus schwarzem Tuch verkrochen, hinter ihrem Rücken Bewegung und Lärm, Hupen, Gelächter, Musik — und wendet nie den Kopf. Ich Weiß, daß sie täglich hierher kommt und bis zum Einbruch der Nacht mit einer Schnur, die sie aus ihrer Manteltasche holt, fischt, immer am gleichen Platz auf den weißen Steinstufen. Ich möchte gern ihr Gesicht sehen, doch ein großer, dunkler Stroh-hut,u*osäi<tett Jugendtageif-JderJ Base'Vielleicht, läßt nichts er-kemfe^Ef*-' Mötor^o*;*^ Sät3 las- Hafen-“

becken, und das Wasser, das mir “gerade noch stumpf und müde erschienen war, ein beleidigtes, beschmutztes, eingefangenes Meer, bricht jetzt silbern auseinander und sprüht und schäumt, treibt Blechdosen und Flaschen vor sich her, wirft sich auf die weißen Stufen, hebt einen Schifferkahn vertraulich etwas an und zittert noch in den Masten der Segelboote nach, wenn es sich längst wieder geglättet hat und hinter dem Molo liegt,

als wäre es nicht ein Teil jener Macht, die mordet und zeugt, uns mit weißer Glut überfällt und aufsprengt, daß alle Sinne salzig werden, einer Macht, die wir Meer nennen am Tag, unter Freunden, doch in Nächten finden wir keinen Namen, denn sie wird furchtbar, unendlich und erfüllt Himmel und Erde und läßt uns, die wir gerade eintreten wollin in die rauschende Fülle, fallen in violetten Tiefen — in die dunklen Abgründe unserer Melancholie .,.

Ich setze mich in die Nähe der alten Frau, auf eine der Stufen hinter ihrem Rücken. Über ihr Schicksal konnte ich nichts erfahren. „Viene e va“, sagen die Fischer, man hält ihr

den Platz frei und stört sie nicht. Aus der Musikbox der Taver-netta klingt „La Paloma“ herüber. Neben mir, auf den weißen Steinstufen, erscheinen Goldsandalen, rote Zehennägel, braune Beine, ein uribekümmert schwingender Rocksaum, daneben spitze Schuhe, schwarzweiß, die dunklen Röhren sehr enger riosen, eine Zigarette fällt ins Wasser, und der Schwall eines erregten Gespräches hinterher. Die Goldsandalen scharren ein wenig, die Worte kommen schneller, dramatischer.

O lingua italiana, dein Spiel mit den Vokalen, deine überquellende Freude an der Modulierung eines alltäglichen Worts, lingua melodiosa, getragen von Menschen, für die ihre Übersteigerungen keine Unwahrheit sondern Lust sind, die der Abnützung ihres Alltags entgegenwirken, indem sie um seine Wiederholung ein dramatisches Spiel bauen und seine Kümmernisse zur öffentlichen Sache machen, die im Gewoge ihrer Zu- und Ausrufe zur Pose wird, die zwar kein Gewicht, aber auch keinen Stachel hat.

Goldsandalen und spitze Schuhe verschwinden wieder, sie haben sich endlich geeinigt, in welches Kino sie am Abend

gehen werden. („El Cid“ oder „Bocaccio 70“, „El Cid“ mit Sophia Loren hat den Sieg davongetragen.)

Die alte Frau zieht endlich die Angelschnur heraus, vorsichtig, mit der linken Hand, der weiße Baumwollhandschuh der rechten packt den kleinen, zappelnden Weißfisch, schlägt ihn zweimal fest auf die Steinstufe und steckt ihn in die schwarze Handtasche, die neben ihr liegt, in eine abgegriffene Damentasche aus Sämischleder, mit ehemals vergoldetem Bügel und zierlichem Kettchen.

i'cJs muß an den nackten Arm einer Ballschönheit denken, an dem dies Kettchen mit der Tasche gehangen und immer ein kleines Muster hinterlassen hatte... Vielleicht taucht dies Muster auch hin und wieder in den Gedanken der alten Frau auf, verwebt in die Träume ihrer Erinnerung, die das Vollzogene schon so weit abgerückt hat, daß Erfüllung und Nichterfüllung eingegangen sind in einen Mythos, und wenn sie manchmal ein wenig erschrickt oder lächelt, so ist dies nur die Teilnahme an einer Legende.

Sie klappt die Handtasche über den toten Fischen zu, und bald darauf schwebt wieder der weiße Handschuh mit der Angelschnur über dem Wasser.

Die Sonne sinkt tiefer, noch ist sie nicht rot, noch nicht der flammende Kreis, der vor unseren Augen ins Meer taucht,

und unwiederbringlich die Stunden versenkt, die wir nicht aus dem spritzenden Fleisch einer Frucht gesogen, nicht aus der körnigen Weichheit frischer Feigen gekaut, unsere Stunden, die wir nicht geschmeckt in der öligen Bitternis grüner Oliven und im herben Nachgeschmack dunklen Weins, die wir nicht eingelassen in unsere Augen, blicklos wie tote Fische, Stunden, die wir nicht gesungen, mit Salz auf den Lippen, die wir uns nicht um den Hals gewunden, wie eine Kette von Korallen, daß wir sie spürten mit unserem Leib und wärmten mit unserem Blut... Erbarm dich unser, Delphin, Krebs, Schildkröte, weißes Rind in den Weinbergen!

Die alte Frau zieht wieder einen Fisch aus dem Wasser. Klatsch: tot, klapp: Tasche auf, klapp: Tasche zu. Aus der Musikbox der Tavernetta, aus magisch blaurotem Licht, dem Leib einer glitzernden, stromlinienförmigen Konservendose, hat einer mit zwei Fingerdrücken die Stimme Vico Torrianis geholt, „Domani“; gequetschtes Gefühl gießt sich ölig in die Geräusche des beginnenden Abendbummels. Der Hafen erwacht zu einem anderen Leben, das im dichten Gewirr menschlicher Stimmen, ihrem bunt überzogenen Fleisch und ihrer gierigen Ausstrahlung zittert, und er wahrt die Stille schwarzer Nächte, den Sturm und das Aufgehen der Sonne für sich.

Ich sitze immer noch auf den Steinstufen, vor mir der schwarze Rücken der alten Frau — die unsichtbare Fülle ihrer Abgeschiedenheit hat mich behext — das Hafenbecken mit den leise schwankenden Masten, die kleinen Motorboote aus Plastik, rot, weiß, blau, dunkle Fischerboote, denen man ansieht, dafhsie verantwortlich füraBröt und.iWein^tmd weiter dratrSen eine Yacht von mittlerer Größe, poliert und glänzend —-ich habe ihre beiden Matrosen schon öfters in der Tavernetta sitzen sehen, die tätowierten dunkelbraunen Arme auf dem Tisch bildeten einen Winkel, über dem sie vorgeneigt hingen, dazwischen die Glaskaraffe mit Wein, auf den blauen Leibchen der Name ihres Schiffs: „La Solitudine“ — die Einsamkeit.

Ich erschrak, als ich dies das erstemal las. Über dem Herzen dieser beiden Matrosen, die aussahen wie alle hier, die lachten, sangen und manchmal vor sich hindämmerten, die in die Gemeinschaft der tanzenden, essenden, geräuschvollen Menschen gehörten, so wie wir alle in der Gemeinschaft sind. La Solitudine — dieses Wort — das am Grund unseres Daseins haftet, selbst wenn wir das Herz des Gelieb ten äßen, und uns nachts Atem an Atem betten und uns bei Tag mit weißen Segeln zuwinken und Häfen ansteuern, um es herauszureißen — und zugleich wissen, daß es unsere ein zige Sicherheit ist.

Auf dem Molo gehen engumschlungen Paare in den blaßgewordenen Himmel. Das Meer hat seinen Glanz verloren, es ruht in sich, den Spielen des Tages und unseren Vertraulichkeiten entrückt. Einen Silberstreifen wirft die Sonne noch auf das Was ser — herrlich auf dieser schmalen Spur zu treiben, die nassen Arme in die letzten Strahlen zu heben; auf dem Rücken liegend, nur Meer und Himmel, sie wiegen sich im Unendlichen, eingebettet ins vergehende Licht. Hinter mir wandert ein Koffer radio nach dem anderen vorbei: „Chitarra Romana“, Anpreisungen für eine pasta dentifricia, Bruchstücke aus einem Vor trag über den letzten Satellitenstart... Der Betrieb auf dem Hafenplatz wird immer lebendiger und lauter. Ich stehe, auf, werfe noch einen Blick auf die alte Frau, die längst die Hände mit den weißen Baumwollhandschuhen in den Schoß gelegt hat, die schwarze Sämischledertasche mit den toten Fischen neben sich, eine Gestalt, so gesättigt von ihrem Schicksal und in ihren Grenzen beschlossen, daß sie, ohne Gesicht und Stimme, wo immer sie weilen mag, einen Raum um sich bildet, der jeglichem Einbruch wehrt.

Während ich aus ihrem Umkreis trete, in einen Abend mit roten Lichtern, in die Hautnähe leicht strömender Freuden, während ich gleich ziellosen Schritts wie die andern, in ihrem Gelächter, ihrem Geruch, im Knistern und Wehen ihrer Kleider dahinwandere auf dem runden Pflaster des Hafens und bedacht bin, mit den Stöckeln meiner Schuhe nicht dazwischen hängen zu bleiben, wird die Frau und der nicht betretbare Raum um sie zu einer kleinen dunklen Insel, bewohnbar nur von einem Menschen und einem Schicksal. Später — beim nächtlichen Mahl, vor einem dunklen Meer, das sich in den Himmel wölbt bis zu den Sternen —, wie ich das kernige Fleisch der Muscheln aus ihren Schalen löse, es in den Sud aus Kräutern tauche und den Wein, der fast schwarz in den Gläsern steht, trinke,

schwimme ich in großem Verlangen hinaus in die Nacht, und meine Arme sind Algen im Garten einer versunkenen Stadt, die Silberfische der alten Frau kreisen durch mich, und sie steht jung auf den weißen Steinstufen des Hafens, mit einem Mann, der sie an sich drückt, die Tasche mit dem goldglänzenden Kettchen über dem Arm, in den sich ein tiefes, rotes Muster preßt.

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