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Die Geburt des Essays

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Es gibt eine spezifische literarische Form, die sich der autonome Mensch der „neueren Jahrhunderte' Europas geschaffen hat: den Essay. Seinem Vater widmet der Romanist der Universität Freiburg i. U. ein ungewöhnlich kenntnisreiches, feinsinniges Buch (Hugo Friedrich: „Montaigne“, A.-Franke-Verlag, Bern, 512 Seiten), über den Meister des Unbestimmten und Unbestimmbaren, des Ganz-Persönlichen und Intim-Geschlossenen, über den von Voltaire und vom heiligen Franz von Sales, von Goethe und Gide geliebten, von Pascal, Mallebranche und Bossuet befehdeten Präger eines europäischen Lebensgefühls der Neuzeit des 16.. bis 19. Jahrhunderts Gültiges auszusagen, ist ein Wagnis. Geglückt ist es in dem uns vorliegenden Werk.

Friedrich untersucht Wesen und Form der „Essays“, jener weltberühmten Betrachtungen „eines französischen Edelmannes aus der späthumanistischen Zeit des 16. Jahrhunderts, niedergeschrieben zwischen seinem 40. und 60. Lebensjahr“, und behandelt dann einige der großen Leitmotive, die Immer wiederkehren im Kreisdenken Montaignes: „Der erniedrigte Mensch“, „Der bejahrte Mensch“, „Das Ich“, „Montaigne und der Tod“, „Die Weisheit Montaignes“.

Das Wort Essay stammt aus dem spätlateinischen Exagium — „wägen, Gewicht, Gewichtmaß“. Im Französischen des 16. Jahrhunderts wird das Wort Essai verwendet für „Übung, Vorspiel, Probe, Versuch, Versuchung, Kostprobe“ — Montaigne selbst verwendet es für „Probieren“, experience — und „im Sinne der zur Reflexion erhobenen passiven Selbsterfahrung“. Die englischen Empiristen, Rationalisten, Deisten und Individualisten haben dann die von Montaigne geschaffene Literaturgattung in der Weltliteratur durchgesetzt „als eine kunstvoll gepflegte urbane mit autobiographischen Elementen und einem starken Subjektivismus durchsetzte Gattung“ — so kam es, daß die englische Schreibweise des Wortes allgemein gebräuchlich wurde. Formal und historisch wurzeln die Essays Montaignes In jenen lockeren aufgelösten Formen antiker und humanistischer Literatur, wie sie seit den Noctes Atticae des Gellius, den Dialogen Piatons, den Briefen, Diatriben, Kompilationen und Miszellen gerne von allen jenen Literaten gepflegt wurden, die Verehrer des ordo fortuitus, des ordo neglectus waren: Liebhaber des „Gelösten“, „Freien“, „Zufällig-Ungezwungenen“, Feinde formallogischer Disposition und Konstruktion. — Näher an die Intime Ausgangssituation Montaignes führen die christlichen Ahnherren der neuen Gattung: Augustin in seinen Selbstgesprächen und Bekenntnissen, Hieronymus in seinen Briefen, Petrarca in seinen narhaugustinischen Soliloquien. In losester, ungebundenster Form kreist das Denken, das Wort, im inneren Zwiegespräch um zwei Pole: Gott und die Seele.

Montaigne spricht und sinnt, denkt und überlegt in seinen „Essays“ überunzähliga große und kleine Dinge: Gott und Welt, Leben und Tod, die Torheiten und Laster, die Eitelkeiten und Gewohnheiten von Personen und Völkern. Fast stets geht er von einem antiken Wort aus, das sich in seinem Munde erstaunlich schnell verwandelt, springt gewandt über zur Schilderung eines Tieres, einer Speise, einer Mode, einer Tischsitte, einer seelischen Unart. Die Traurigkeit und der Müßiggang, diplomatische Gepflogenheiten seiner Zeit, der junge Cato, das Wesen des Schlafens, die Unsicherheit unseres Urteils, das Gebet, die Trunksucht, die Waffen der Parther, die Gewissensfreiheit, die Größe der Römer, von den Flöhen, von drei guten Frauen, von der Eitelkeit ... Tausend Namen. Tausend Themen? Ja —und doch hat er nur ein einziges: das Ich. Dieser Pol umfängt und verschlingt die beiden herkömmlichen, altewigen Pole: Gott und Seele.

Die Essays des Sieur Michel de Montaigne, des französischen Edelmanns, der sich in den besten Jahren, angewidert und angeekelt durch Bürgerkrieg, Kabale und Ränkespiel am Pariser Hof, die Morde und Greueltaten der Religionskriege, auf sein festes Schloß zurückzieht, um daselbst „sich selbst zu leben“, sind das weltgültige Dokument einer neuen Gesinnung, die für die intellektuelle Elite Europas bis an die Schwelle des heutigen Tages weithin vorbildlich wurde. Voll Mißtrauen, ja erfüllt von Abscheu gegen jedes theologische, philosophische, ja auch technisch-naturwissenschaftliche Systemdenken, in dem — mit guten historischen Gründen — der Ansatzpunkt personfeindlicher Totalita-rismen gesehen wird, erklärt sich hier das Ich autonom. Es will nichts mehr wissen von den Fangschlüssen der politischen und wissenschaftlichen Systemlogik, von den Abstraktionen und Ideologien der herrschenden Mächte. „Frei“ möchte es sein, um frei „der Wirklichkeit“ zu dienen, so wie sie dieses neue Ich täglich erlebt — unsagbar zauberhaft im Schmelz stündlich wechselnder Farben. Größe und Elend des Menschen, die Schwäche seiner

Erkenntniskraft, die Brüchigkeit seiner Moral, die Hinfälligkeit seines Wesens, das dem Irrtum, der Schwäche und Schuld, der Krankheit und dem Tod ausgesetzt ist. Christliche, sehr christliche Themen also — es sind die Augu-stins und Pascals —, hier bei Montaigne und im Geist seiner „Essays“ werden sie aber umgeschmolzen und neu beantwortet: im Immanentwerden jener antischolastischen Religiosität des Spätmittelalters, die vom Pariser Nominalismus über Gerson und die devotio moderna zu Erasmus führt. Dies der große und nicht ungefährliche Zauber Montaignes. Er sieht das Leben, die kreatürliche Existenz von Mensch und Tier, so wie es wirklich ist — unsagbar hinfällig, „zufällig“, aber gerade in dieser Hin- und Zufälligkeit bezaubernd schön, weil einmalig in der reinen Leuchtkraft seiner Individualität. So will Montaigne „seinen“ Tod erleben — die Beziehung zu den letzten Trägern dieser Epoche, Rilke und Valery, wird hier besonders deutlich sichtbar: mit allen Schmerzen, die dazu gehören, doch soll er, der Tod, menschlich und human sein und nicht in der Fratze einer Seuche das Men-schenantlitz vorzeitig zerstören. — Ein neuer Gehorsam und eine neue Fügsamkeit — das sind die edelsten Früchte dieser Umschmel-zung der christlichen Frömmigkeit. Die Dinge sind, wie sie sind; wenn du sie erkennen willst, mußt du sie lieben und sie liebend umschreiben, so wie sie sind; diese Erde, diese Blumen, diese Tiere, diese Torheiten der Menschen. (Skeptizismus und Fideismus seines Jahrhunderts stehen Montaigne bei der Geburt dieser seiner neuen Weltgesinnung Pate.) Das „Abgerissene“ und Fragmentarische“, die offene Form der Essays ist also wesenhaft für diese neue literarische Gattung, die Versuch sein und bleiben will — Versuch einer Selbstdeutung des autonomen Ich, im Panorama seiner Selbsterfahrung in allen Dingen, V e f-such einer Konfession — ohne Reue und ohne Schuldbekenntnis.

Die Essays, die Versuche des Sieur Montaigne, jedem das Seine zu geben — und das Ich in sorgfältig erwogenem Stand und Abstand allen Wirklichkeiten gegenüber zu behaupten —, sind der sublimste Ausdruck einer großen Versuchung des abendländischen Geistes, sich selbst ganz zu finden und zu erfüllen in der Kontingenz, im Weltinnensein. In der Demut und im Gehorsam des Dienstes in der Welt, an der Welt — um der Person willen. Goethes Weltliebe, die Weltfreude Gides und der schmerzliche Weltskeptizismus Unamunos wurzeln in Montaigne. Von seinem Werk geht ein leises Beben aus, das stärker ist als der Donner Nietzsches.

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