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DIE GEMEINSAME SPRACHE

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Die nachfolgende Studie bildet eines der letzten Kapitel des Buches „Vom Wesen der Nation — Fragen und Antworten zum Nationalitätenproblem“, das vor kurzem im Verlag Adolf Holzhausens Nachfolger, Wien, erschienen ist. Über dieses bedeutende, auch heute noch aktuelle Werk schreibt der Herausgeber Wolf in der Maur im Vorwort: „Als er (Zernatto), kaum 40jährig und mit Erlebnissen ausgestattet, die in normalen Zeiten einem Achtzigjährigen nicht beschieden gewesen wären, daran ging, die gewonnenen Einsichten und Ausblicke niederzuschreiben, war es wie ein unfertiges Testament. Bevor er die Summe seiner Gedanken ziehen konnte, nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand. Guido Zernatto war einer, der der Welt verlorenging.“

Menschen, die einander verstehen können, das heißt Menschen, die eine und dieselbe Sprache sprechen, gehören auf die natürlichste Weise zueinander. Sie sind nicht durch einen Willensakt, durch einen Vertrag zusammengekommen. Sie haben niemals einen Beschluß gefaßt, gemeinsam etwas zu tun. Sie gehören einfach zueinander, weil sie in einen und denselben Sprachkörper hineingeboren wurden.

In eine Sprache wird man hineingeboren wie in eine Familie und wie in eine Zeit. Genauso wenig, wie man sich seine Eltern auswählen kann oder die Zeit, in der man zu leben hat — genauso wenig kann man seine Sprache wählen. Jeder Mensch erhält eine Sprache zugeteilt, bevor er noch die geistige Fähigkeit besitzt, Entscheidungen zu treffen. Wenn er diese Fähigkeit erworben hat, ist er bereits ein „Gezeichneter“, besitzt er bereits eine Muttersprache, die ihn dazu zwingt, in einer ganz bestimmten Art zu reden und zu denken.

Die Sprache ist wie eine eiserne Rüstung. Wenn der Mensch zum vollen Gebrauch seiner Vernunft gelangt ist, steckt er bereits in dieser Rüstung. Er kann sich nur so bewegen, wie es die Konstruktion dieser Rüstung zuläßt.

Die Sprache ist mehr als ein Verständigungsmittel, sie ist mehr als ein Werkzeug. Sie ist mehr als ein Instrument, durch dessen Gebrauch Konversationen ermöglicht werden. Und sie ist auch mehr als ein bloßes Lagerhaus für abgelegte Bildungsgüter. Sie besteht nicht aus Vokabular und Grammatik allein. Sie ist über ein Sprechsystem hinaus auch ein Denksystem, in ihr liegt eine Welt vorgedachter Gedanken, vorempfundener Gefühle, vorgewußter Erfahrungen.

„Wenn ich rede“, sagte der österreichische Dichter Hugo von Hofmannsthal einmal, „reden zehntausend Tote mit!“ Diese Mitredenden sind die lange Reihe derer, die die gleiche Sprache, die wir sprechen, vor uns benutzt haben, sie mit- und umgeschaffen haben, indem sie in ihr eine Unzahl von Gedanken vordachten, alle möglichen Gefühle vorempfanden und die Lebenserfahrungen sehr langer Zeitläufe für uns vorerfuhren.

Diese Sprachahnen sind nicht wirkliche Ahnen. Sie sind nicht schlechthin Vorfahren im Sinne der blutmäßigen Herkunft. Goethe sagte einmal: „Worte sind der Seele Bild.“ Die Worte einer Sprache, ihr ganzer Wortschatz sind das Bild der Seelen aller jener, die die Sprache vor uns gesprochen haben.

Die Einheit zwischen dem Denken und der Sprache brachteschreiben ein „Patois der Großen“, einen Slang, den man nur in wenigen Revieren der Gesellschaft versteht. Die „Dichter und Denker“ sind mit einer Art von Veredelungsindustrie für die Sprache beschäftigt. Sie hobeln und feilen, malen und lackieren und liefern die Verpackung. Aber sie schaffen die Sprache nicht um. Das Bergwerk, aus dessen unerschöpflichen Minen eine Sprache ewig erneuert, ergänzt und weiterentwickelt ward, sind vor allem die Massen. So wie sich jede menschliche Gemeinschaft von unten herauf und nicht von oben herab erneuert.

Jeder Mensch hat nur eine Muttersprache. Auch wenn man mehrere Sprachen beherrscht, bleibt eine die Maßgebende. Das ist die, mit der der einzelne einer „Sprachseele“ angehört. In dieser Sprache ist er. Die anderen Sprachen kann er oder ahmt diejenigen nach, die sie als Muttersprache besitzen. Eine Anekdote berichtet, daß Karl V. einmal zu Franz I. von Frankreich gesagt habe: „Mit meinem Gott spreche ich lateinisch, mit meiner Familie spreche ich spanisch, mit meinem Klerus italienisch, miit meinen Diplomaten französisch, mit meinen Feldherren deutsch und mit meinen Pferden ungarisch.“ Er besaß ein Weltreich, doch nur eine Muttersprache.

Auch wer seinen Sprachkörper völlig verläßt und in einen anderen einwandert, bleibt seiner Muttersprache verbunden. Auch wenn er nach seiner Auswanderung kein Wort aus ihrem Sprachschatz mehr über die Lippen brächte. Von seiner Muttersprache bleibt jedem unfehlbar ein Akzent. Es wird nicht immer ein hörbarer Akzent sein. Der läßt sich abschleifen.

Das, was hier gemeint ist, ist ein geistiger Akzent. Hamann sagte einmal: „Tüchtige Autoren, die in ihrer Muttersprache schreiben, haben über diese das Recht der Ehemänner; wogegen die in einer fremden Sprache Schreibenden den Launen derselben wie die Liebhaber denen ihrer Gebieterinnen sich fügen müssen.“

Dem Auswanderer bleibt derselbe Akzent, den wir vernehmen, wenn wir Goethes „Faust“ in englischer Sprache lesen oder ein Buch von Dickens in französischer oder etwa Moliėre in polnischer Sprache.

Wir wissen, daß wörtliche Übersetzungen von einer Sprache in die andere in der Regel „nichtssagend“ sind. Wir wissen,

daß die meisterlichste freie Übersetzung von dem Text, der in der Originalsprache alles sagt, abirren muß, um das, was der Originaltext sagt, nachzuahmen. Letzten Endes ist kein Text ganz übersetzbar, das heißt völlig gleichsinnig wiederzugeben. Die Vollendung der Übersetzung liegt immer auf der Linie der Ähnlichkeit — nie auf der Ebene der Identität.

Ist diese allgemein bekannte Tatsache nicht ein schlagender Beweis für die Richtigkeit der Erkenntnis, daß jeder Mensch nur eine Muttersprache besitzen und ihr — auch wenn er ihr Vokabular meidet — niemals entfliehen kann?

Wer aus seiner Sprache aus- und in die Bereiche einer anderen einwandert, kann in der neuen Umgebung nie anders als ein Fremder sein. Vielleicht ein sehr gut verkleideter. Aber doch ein Fremder. Er ist ein Flüchtling, dem man in einem neuen Reich Asyl gewährt. Für seine früheren Sprach- genossen ist er wahrscheinlich ein Renegat. Erst seine Kinder und Kindeskinder haben Zugang zur Seele der neuen Sprache.

Sprachenwechsel ist weder eine Frage des Entschlusses noch ine Frage des Zwanges. Sprachenwechsel ist eiine Frage der Zeit. Der einzelne wählt eine neue Sprache niemals für sich. Er tut es für seine Nachkommenschaft. Er hat das Recht der Wahl; aber erst seine Kinder und Kindeskinder erlangen die Möglichkeit des wirklichen Besitzes. Erst sie tragen die Rüstung, die die Sprachahnen der neuen Welt geschaffen haben.

Unter dem Eindruck der Erfolge der vergleichenden Sprachwissenschaften ist man sonderbarerweise sehr allgemein in den Irrtum verfallen, anzunehmen, daß der Entwicklungsweg einer Sprache identisch sei mit dem Entwicklungsweg einer ethnischen Gemeinschaft. Man verwechselte Sprachahnen mit wirklichen Vorfahren.

Sprache und Volk sind zwei verschiedene Dinge. Eine Sprachgemeinschaft ist weder mit einer Abstammungsgemeinschaft noch mit einer Gemeinschaft gemeinsamer Geschichte, Religion, Kultur, Sitte identisch und natürlich schon gar nicht mit einer Staatsgemeinschaft. Durch eine Sprache vermögen viele Völker verschiedener Herkunft hindurchzugehen wie der Wind durch ein Tal...

bis sie so wurde, wie sie ist. Und alle lebenden Massen und Eliten denken, erfahren, empfinden nun in der Art, wie sie uns durch die Sprache zusteht, im Rahmen eines in allen Sprachen großartigen Systems, an dem wir im Laufe einer Generation nur verschwindend wenig zu ändern vermögen.

Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß es nur die Eliten sind, die sprachschöpferisch wirken. Die Eliten sprechen und

Herder einmal zum Ausdruck: „Ein Volk hat keine Idee, zu der es nicht ein Wort hat.“ Dieser Satz gilt auch in der Umkehrung: Keine Sprache hat ein Wort, in dem nicht eine ganze Idee ruhte. Eine Idee, geformt aus dem Geist der Sprachseele, der Rüstung, die jeden von uns umgibt.

An der geistigen Rüstung, in der wir leben, haben alle mitkonstruiert, mitgedacht, mitempfunden und miterfahren,

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