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Die „Generation von 1945“

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Jede Epoche hat ihre Generation. Auf ein Stichwort der Geschichte werden Einzelgänger zu einer Gemeinschaft und treten zu einer ungewöhnlichen Zeit geschlossen an die Rampe der Geschichte. Kurz ist ihre Frist bemessen, dann verlangen der Alltag und seine Meister wieder ihre Rechte. Doch das Wunder geschieht: Die Menschen, die das Schicksal zusammengeführt, gehen zwar auseinander und beschreiten eigene Wege. Aber noch Jahrzehnte später tauchen da und dort einzelne Namen auf. Und dann hört man sagen: „Das isf einer von denett..., der gehört zur Generation von ...“

Als der Nationalismus über den Horizont der Geschichte heraufdämmerte, stiegen 1848 in Wien junge Menschen auf die Barrikaden. Hochgespannt ihre Ideale, feurig die Reden, prächtig das Blau ihrer Uniformen, die großen Schlapphüte — die Kalabreser — nicht zu vergessen: echte Söhne der Romantik, Man verurteile — von heute gesehen — nicht ihre später entarteten Ideale, man lächle nicht über ihr Gehaben. Vom strahlenden März bis zum blutigen Oktober gehörte ihnen Wien — und anscheinend die Welt. Das Erwachen war bitter. Alles umsonst, vergebens — eine Generation hatte offenbar ihre einmalige unwiederbringliche Chance verpaßt.

Doch die Geschichte geht sonderbare Wege. Sie verlangt Geduld. Ein, zwei, drei Jahrzehnte — was bedeuten sie schon für sie? Und wirklich: ein, zwei, drei Jahrzehnte später sehen wir die Stürmer und Dränger des tollen Jahres eingerückt in die vorderste Reihe des öffentlichen Lebens. Hervorragende Wissenschaftler, Abgeordnete, Minister, stolz bekennen sie sich als Männer einer Generation. Als „Achtzehnhundertachiundvier-ziger“ sind sie in die Geschichte eingegangen.

Ungefähr 100 Jahre später, als dem Nationalismus sein Gottesurteil gesprochen wurde, stieg wieder in Wien eine junge Generation auf die Barrikaden. Diesmal bildlich gesprochen. Denn sie stieg in Wirklichkeit nicht auf Barrikaden, sie räumte sie vielmehr weg. Sie beseitigte die Trümmer welche die Straßen sperrten, sie schaufelte Schutt, sie fegte die Hörsäle, sie- verteilte Brot und Lehrmittel. Sic tat dies alles und noch etwas dazu: Sie legte den Grundstein für ein neues geistiges Leben im wiedergewonnenen Vaterland.

Die Generation von 1945! Die Heimkehrer aus dem Krieg, die Überlebenden aus den Lagern der Gewalt, die scheinbar der Zufall zusammengeführt hatte, sie dachten keinen Augenblick daran, daß sie eine „Generation“ bildeten, die man einmal von anderen — vorgegangenen und nachfolgenden — unterscheiden sollte. Sie hätten wahrscheinlich gelacht, wie das Leben immer der Theorie spottet.

Und gar der Vergleich mit den „Achtzehnhundertachtund-vierzigern“, mit den federgeschmückten Ahnen auf den Barrikaden! Zu groß war freilich der Unterschied: Keine schimmernde Wehr zierte die „Neunzehnhundertfünfundvierziger“. Sie waren für ein übertragenes Hemd, für einen geschenkten Rock dankbar. Und statt des hochfliegenden Idealismus war Nüchternheit, eine Nüchternheit, wie sie eben die Überlebenden einer Weltkatastrophe auszeichnet, in ihren Herzen zurückgeblieben. Nüchternsein heißt aber nicht abgestumpft, nicht ohne inneren Schwtiug sein. Keinen hochfliegendett Utopien-nachjageth'heißt nicht ohne Ideen tntd Vorstellungen über den.Weg in,die .Zut-kunft sein. Mag dieses Wollen auch nicht ausgeprägt, nicht in großen Manifesten formuliert gewesen sein, so waren doch zwei Triebkräfte unschwer zu erkennen: die Liebe zur langersehnten Freiheit und das Bekenntnis zum wiedergewonnenen Vaterland Österreich.

„Freiheit“ und „Österreich“: Zwei Wörter, die tausende Male in den eineinhalb Jahrzehnten gesprochen wurden. Abgegriffen, Scheidemünze von Wirtshausrednern erscheinen sie jetzt oft! Allein, ohne Hintergedanken sie aufgenommen — und bewahrt zu haben: das scheint mir ein Charakteristikum der Generation zu sein, von der wir sprechen.

Allein die Schlacken haben sich bald gesondert. Heute ist die Generation, die sich 1945 in Österreich formiert hat, bereits tief in unser öffentliches Leben eingedrungen: au hervorragender Stelle arbeitende Staatsbeamte, Publizisten, deren Namen nicht mehr unbekannt sind, junge Gelehrte, die als eine Hoffnung der Wissenschaft gelten. Zu ihnen gesellt sich eine stattliche Zahl von Dichtern und Schriftstellern, die ihre „literarische Durchbruchsschlacht“ nicht selten freilich — warum es verschweigen? — ausländischen Verlagen verdanken. Sie alle haben ihre zweite Feuerprobe bestanden. Im harten, ermüdenden Alltag.

Es gibt freilich jemand, der an der Generation, die 1945 mit Recht die Fahne der Jugend trug, wenig Bedarf zu haben scheint: die Politik. Im Nationalrat, in den Landtagen und Gemeindestuben sowie in den führenden Gremien der Parteien werden wir Vertreter jener Generation, von der wir sprechen, spärlich finden. Politische Jugend beginnt heute hierzulande mit der Vollendung des 50. Lebensjahres. Mit der Formierung der dichten, durch keinen Krieg und keine Gewalt gelichteten Reihen der Nachkriegsgeneration wurden jene Menschen, von denen wir sprechen, außerdem „in die Zange“ genommen. Lange marschierten sie mit der Fahne: „Wir Jungen.“ Nur nach vorn waren ihre Blicke gerichtet. Heute, wo es, wie zum Beispiel in der österreichischen Publizistik, keine Väter mehr gibt, haben sie bereits die nachrückenden Jahrgänge im Nacken: jene, denen der Name Hitler auch nicht viel mehr sagt als der Dschingis-Khans.

Viele schöne Worte wurden in den vergangenen Zeilen den „Neunzehnhundertfünfundvierzigern“ gewidmet. Es ist Zeit, einen Vorwurf an ihre Adresse zu richten: daß sie nach jenen Wochen und Monaten, die sie zu einer Generation formten, auseinandergingen, daß sie seit jener Zeit nicht engeren Kontakt halten, ist schade. Vielleicht, vielleicht wäre es doch gelungen, manchen Dingen in Österreich ein anderes Gesicht zu geben. Allein, das Leben wollte es anders. Der diese Zeilen schreibt, glaubt jedoch, eines festhalten zu dürfen: Wann wieder einmal eine Schicksalsstunde schlagen, wann immer es in naher oder ferner Zukunft um Österreich und seine Zukunft gehen sollte, dann werden Menschen still vortreten, wie sie ebenso still sich vor mehr als 15 Jahren nach getaner Arbeit in ihre Kanzleien, Archive, Redaktionen, Laboratorien und hinter ihre Schreibmaschinen zurückgezogen haben.

Die Generation von 1945 wird sich dem Anruf der Ge. schichte nie entziehen. später geschnaubt, als er aus den Kopfhörern Näheres über den Hergang des Attentates wußte. „Putsch“, war vorher gesagt worden, und er konnte mit diesem Wort, das er noch nie gehört hatte, nichts anfangen, außer daß es ihm häßlich klang. Es erinnerte an „futsch“, war aber durch das P vorne gewaltsam und drohend, es schmerzte wie ein Faustschlag. „Wenn die mich hinausführen auf den Balkon“, der Onkel, „auch mit der Gewehrmündung im Rücken, dann gibt es doch nur eines... wozu ist man denn OffizieT...?“, und er richtete sich im Bett auf und reckte die geballte Faust in die Luft, daß das fleischige Handgelenk aus dem Ärmel des Nachthemdes kam: „Sturm! Der Kanzler ist gefallen!“ Die Tante hatte ihm einen bewundernden Blick zugeworfen, aber dennoch gesagt: „Reg' dich nicht so auf, loh bitte dich, denk' an deinen Blutdruck!“

Draußen klapperte noch immer die Klapoteza, bald näher, bald weiter weg, einmal rasend schnell, dann wieder ganz langsam, je nachdem wie die Stärke des Windes zu- oder abnahm, und in verschiedenen Tonhöhen, immer aber knarrend, fast wie eine Ratsche am Karfreitag. Im Vorzimmer klirrten die kleinen geschliffenen Glasstücke am Luster im Luftzug.

Die Tante war 1943 im Spital gestorben. Der Onkel, zu der Zeit wieder einmal in Gestapohaft, war von einem SD-Mann zum Begräbnis begleitet worden. Es lag nicht viel gegen ihn vor, und ab ehemaligem Offizier kam man ihm etwas entgegen. 1953 war auch er einem Krebsleiden erlegen. Dollfuß steht in den Geschichtsbüchern, wenn auch immer nur mit ein paar Sätzen. Der kleine Detektorapparat ist kurz nach jenem fernen Sommer auf den Dachboden gewandert, wo er neben anderen ausrangierten Dingen verstaubte, bis man ihn schließlich wegwarf. Es gab bereits die Röhrenapparate. Mit einem solchen hörte er bei Onkel und Tante in den ersten Kriegsjahren oft die Nachrichten der BBC mit den charakteristischen Paukenschlägen, Radio Beromünster oder Moskau. Davor verblaßte schließlich die Nachricht vom Tode des kleinen Kanzlers.

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