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Peter Härtling überlebte Herzinfarkt und Hirnschlag und schrieb darüber sein neuestes Buch.

Hier vergeht mir die Zeit nicht. Ich entgehe ihr. Mein Zeitgefühl ist erbärmlich. Ich falle durch die Stunden. Jetzt, schon wieder jetzt. In meinem Bewusstsein sammeln sich Reste, Fragmente. Das Hirn arbeitet gleichsam ohne meinen Impuls. Ich kann nicht mehr nach meinem Muster denken."

Der Autor Peter Härtling, der eindringlich das Schicksal Hölderlins, Schuberts, Schumanns geschildert hat, erlebte in seinem 70. Lebensjahr zwei Schläge: Einen Herzinfarkt und einen Hirnschlag.

Tausende trifft dieses Los, doch nachvollziehbar wird es erst, wenn ein genauer Selbstbeobachter überlebt und darüber schreibt. Härtlings Buch "Die Lebenslinie" ist keine Nah-Tod-Erfahrung wie etwa Peter Nádas' erschütternder Bericht "Der eigene Tod".

Mensch als Objekt

Dem 1933 in Chemnitz geborenen Härtling, traumatisiert durch den Zweiten Weltkrieg, an dessen Ende sein Vater umkam und seine Mutter sich umbrachte, geht es um die Rettung der Selbstbestimmung.

Im Spital wird der Mensch zum Objekt, auch wenn er gut behandelt wird. Wie kann er sich als fühlendes, denkendes Wesen retten? Indem er außen und innen trennt. Sobald er innere Bilder heraufbeschwört, wird er im Tiefsten unerreichbar von außen. Härtling erlebte aber auch die Besessenheit, mit der ein Kranker sich mit seinen Defiziten beschäftigt. Auf Ängste reagiert er kleinlaut, was heißt: Klein und laut.

Aber dann kommt das besondere Geschenk an den Leser: Die Einsicht, dass ein Mensch, der seine Phantasie nicht verkümmern ließ, den Krankheitsweg besser geht, wenngleich ihm der Verlust etwa seiner Konzentrationsfähigkeit deutlicher wird als dem unbewusst Dahinlebenden.

Als schöpferischer Mensch litt Härtling furchtbar unter der Kluft, schreiben zu wollen und nicht zu können. Das Buch beweist, dass die Kraft zurückgekehrt ist. Und welch präzise Sprache - bisweilen blitzt sogar Humor auf, wenn er das Gerangel der Ärzte um Kompetenzen beobachtet.

Die Tiefe nicht mehr sein

"Die Lebenslinie" ist sicher nicht als Trostbuch geschrieben und vermittelt doch Einsichten, die nur von einem Dichter kommen können. "Ich begriff - ja: begriff! -, dass ich schon viel vom Leben verlernt hatte und in die große Gleichgültigkeit einsank." Wie einen Rettungsring wirft ihm seine Erinnerung Verszeilen zu: "Bald wird die Grundharmonika verhallen / Die Seele schläft mir ein, / Bald wird der Wind aus seiner Höhe fallen, / Die Tiefe nicht mehr sein." Es ist die letzte Strophe von Oskar Loerkes "Pansmusik".

Wie lebt einer, der zwei Schläge überlebt hat? Hier öffnet Härtling den so genannten Gesunden die Augen. Kurze Entfernungen zu Fuß zu gehen: Ein Problem, das Angst auslöst. Reste des früheren Berufslebens zu retten: Eine tägliche Mutprobe.

Und wieder wartet er mit einer Einsicht auf: Als es ihm besser geht, fährt er ins niederösterreichische Zwettl, wo sein Vater starb. Das Grab findet er nicht, wohl aber die Dankbarkeit, dass er, der Kranke, fast Gefällte, bereits dreißig Jahre länger leben durfte als sein Vater.

Peter Härtling ist ein von seinen Lesern geliebter Autor. Dieses kleine Buch macht ihn noch liebenswerter, schon allein, weil er es sich abgerungen hat. Für Herz- und Hirninfarkt-Gefährdete, also für uns Sterbliche alle, eine unverwechselbare Gabe.

Die Lebenslinie

Eine Erfahrung

Von Peter Härtling

Kiepenheuer & Witsch Verlag,

Köln 2005

110 Seiten, geb., e 14,90

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