6591963-1952_32_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Geschichte Idol oder Wirklichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Daß es eine Gesthichte gibt, das will nicht huf heißen, daß Dinge geschehen: sie könnten vorübergehen, intensiv erlebt werden und keine Spur in dem Gedächtnis eines einstigen Wesens in der Welt hinterlässen, sei dieses nur ein begrenztes oder ein universelles Bewußt sein, Das will niöht nur heißen, daß es Gedächtnisse gibt um diese Erzeugnisse oder einen Teil von ihnen su behalten, die Koexistenz einer gewissen Zahl von Erinnerungsvermögen läßt nur noch Geschichten entstehen, Behaupten, daß es eine Geschichte gibt heißt bejahen, daß die Gesamtheit der den Menschen oder vielleicht die Ganzheit von Mensch und Natur betreffenden Ereignisse nicht ein reines Chaos, eine »Geschichte der Narren ist, sondern eine Kontinuität und in der doppelten Auffassung des Wortes einen Sinn offenbart! eine Richtung und eine Bedeutung.

Nun ist diese Idee nicht, wie man glauben könnte, eine Evtdehz des menschlichen Geistes, Sie fehlt dem orientalischen Denken, sie war dem griechischen Denken vollkömmen fremd, Die Zeit erschien ihm als eine Sinnlose Uh- vollkommenheit, unwürdig jeder Beachtung. Das echte Sein war für es die Unbeweglichkeit. Wenn es nicht leugnete, daß die Welt wirklich existierte, wie es das hinduistisdie Denken tut, war für es das einzige Mittel, um jener eine Realität zuzubiligeh, das, der Zeit letzten Endes diese kreisförmige Bewegung zuzuschreiben, die die am wenigsteh schlechte Nachahmung der Unbeweglichkeit ist, Dort, wo wir uns die Zeitdauer als eine vor uns ins Unendliche gerichtete Gerade vofstellen, hatte die griechische Vorstellungswelt das unbezwing- liche Bedürfnis, auch auf jene das Bild einer sinnlosen Kreisbahn anzuwenden. Sie dachte die Irrationalität der Geschichte zu neutralisieren, indem sie sich diese als eine ewige Wiederkehr vorstellte. Was dieses Bild für unseren modernen Blick mildert, ist eine Art gefälliger Absurdität: zugeben, daß es vor Tausenden von Jahren denselben Tag unter dem selben blauen Frühlingshimmel über den selben verstreuten Primeln gegeben hat, an dem der selbe Artikel von der selben Hand für die selbe Zeitschrift und das selbe Publikum geschrieben worden ist! Man glaubt, manchmal, daß die artesische Seite des Ereignisses seine überströmende Neuheit der Idee einer sich entfaltenden Bedeutung widersprich . Die Griechen bezeugen das Gegenteil: sie leugnen die Existenz einer Einheit der Geschichte, die zur Gänze die gleißte Bewegung ist, und seufzen über das Unglück einer Welt, auf der nichts jemals neu ist. — Nun, die Juden haben im Altertum der Menschheit eine historische Bestimmung zuerkannt, die an ein- z:gartige und unwiederholbare Ereignisse, von der Genesis an bis zur Weihe Abrahams und der Reihe der Propheten, geknüpft ist und sich auf ein allesheili- gėndes Ziel der Geschichte hinbewegt: die Ankunft des Messias. Das Christentum erbte die jüdische Schau und vergeistigte sie durch die Universelisierung der erlösenden Mission, die bisher den Juden Vorbehalten war, und durch die Verinnerlichung des Reiches Gottes. Man hebt nicht genug hervor, wie sehr die christliche Botschaft auf die Geschichte zentriert ist. Sie bringt dem Menschen nicht eine GnoBis, ein neues Wissen Uber Mensch oder Welt oder eine Philosophie, im eigentlichen Sinne erzählt sie ihnen eine Geschichte, die des Christus oder der Menschheit in Christus. Diese Perspektive hat lange ihren neuen und skandalösen Charakter in den Schriften der Kirchenväter bewahrt, zum Beispiel beim hl. Irenäus. Und dann mengte das Erbteil der Antike seine faulen Wässer darein, die gräko-lateinischen Denk- förmen, in die das Christentum zuerst seine Lichter hineinwarf, wurden nicht auf einen Schlag durch es verwandelt. Ein Begriffssystem, vorerst platonisch, dann aristotelisch, wird gewiß wahrheitsgetreue, jedoch beschränkte Übertragun gen der christlichen Botschaft bieten und unter Mithilfe der menschlichen Trägheit werden die beständigen Ideen akzeptiert. Diese unverrückbare Vergöttlichung der Ideen nimmt bei Hegel ihre definitive Form an. Sie ist bei ihm so gelehrt, daß er dazu kommt, ein System der Geschichte selbst zu schaffen, das ihr den Primat zu Verleihen scheint, während es sie versteinert. Das ist es, warum Marx von Hegel sagen konnte, daß er zugleich Höhepunkt und Ende der Philosophie, zumindest einer bestimmten Art von Philosophie, kennzeichnete. Gegen diese Immobilisierung und Kristalisation der Vorstellungen von der christlichen Welt (wir sprechen weder vom Glauben noch vom Dogma) fjpgieren heute zahlreiche Theologen, die wieder entdecken, daß das Christentum der Welt die Geschichte gebracht hat und daß die Wahrheit auch Weg und Leben ist, das heißt innere und äußere Entwicklung.

Es gibt noch eine andere Art, die Geschichte zu verneihen, als sie in ein unbewegliches System zu fixieren. Es ist die, keine Kontinuität und keine Bedeutung innerhalb der Welt anzunehmen, weder eine horizontale noch eine vertikale, weder eine logische noch eine zeitliche. Das Universum wird als eine zusammenhängende Absurdität, ein unförmiges Knurren von Ereignissen und Beziehungen aufgefaßt, deren jede ihren eigenen Verlauf nimmt und eiher anderen nur durch Zufall begegnet. Der Zufall ersetzt die Geschichte. Das war die klassische Ansicht der Skeptiker. Sie ist heute durch gewisse Formen des Existentialismus erneuert worden, die nur anerkennen, daß die aus Zufall entstehenden Existenzen sich in eine

Welt ohne Ziel oder Logik hineinverströmen und nur der einzigen Leidenschaft ihres hoffnungslosen Todes ausgeliefert sind. Was das Denken Merleau- Pontys zu einem leidenschaftlichen und dramatischen macht, ist das leidenschaftliche Bemühen, daß es dazu führen möge, die Voraussetzungen mit dem echten Sinn für Geschichte, der seine Philosophie durchwaltet, in Einklang zu bringen. Aber insofern, als der philosophische Existentialismus einem verworrenen Zustand des Geistes in der Welt der Gegenwart seinen Ausdruck gibt, erscheint es tatsächlich so, als ob viele Menschen sich so verhielten, wie wenn die Ereignisse der Geschichte nur Ergebnisse des Zufalls der individuellen oder kollektiven Kräfte wären und sich weigerten, sich Vor dem menschlichen Gewissen, das sich umgekehrt gegen jede Verantwortlichkeit ihnen gegenüber wehrt, zu recht- fertigen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung