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Die große Illusion

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Wer ist Dr. Hans Grümm? Dr. Hans Grümm (geb. 1919 in Melk) geriet am 1. Februar 1943 bei Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft, kam in eine Antifaschule und kehrte als Kommunist nach Oesterreich zurück. Für sein Studium an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität wählte er sich als Hauptfach Physik, als Nebenfach Mathematik. In der Hochschulpolitik hatte der scharfsinnige Vertreter seiner Fraktion bald einen Namen. Auch publizistisch trat Dr. Grümm hervor. Beruflich war er zuletzt in Dresden (DDR) als stellvertretender Leiter am dortigen Kernforschungsinstitut tätig. Seine gründliche philosophische Bildung ließ ihn alle die inneren Widersprüche im System des Dialektischen Materialismus entdecken, und seiner Beobachtung entgingen auch nicht die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis des Kommunismus, bis er schließlich nach den Posener Ereignissen seinen in schweren inneren Kämpfen errungenen Entschluß, mit der Partei zu brechen, in die Tat umsetzte. Grümm, der Rußland ebenso wie Rot-China in den letzten Jahren mehrfach bereiste, war der prominenteste Repräsentant der jungen kommunistischen Intelligenz Oesterreichs. Die Redaktion

Die weltpolitischen Ereignisse der letzten Monate haben die Aufmerksamkeit erneut einer eigenartigen, in sich stark differenzierten, schwer abgrenzbaren und doch sehr realen Menschengruppe zugewendet: den Intellektuellen und Künstlern. Im Westen haben zahlreiche Austritte und Proteste gezeigt, daß der Kommunismus bereits tiefer in diese Gruppe einge- diungen war, als man sich eingestehen wollte. Im Osten trat eine noch überraschendere Erscheinung an den Tag. Die Intelligenz — wohlgemerkt, die „neue", vielfach aus Arbeiter- und Bauernkreisen stammende und unter ideologisch sterilen Bedingungen herangezüchtete — erwies sich als infiziert und begann als eine der führenden Kräfte der „zweiten Revolution“ aufzutreten.

Beide Erscheinungen lösen eine Reihe von Fragen aus, die mit dem Verständnis der heute an den Bestand der Menschheit rührenden Weltkrise Zusammenhängen und eine ernste Untersuchung verdienen. Vor allem wird darauf zu antworten sein, wie es möglich war, daß zum Denken erzogene und im Denken zum Teil berufsmäßig erfahrene Menschen der Faszination des Kommunismus unterlagen, daß viele von ihnen erst des ungarischen Menetekels bedurften, um sich zu lösen, daß andere auch heute noch — wenn auch zutiefst erschüttert — in ihren Grundauffassungen verharren.

Die Antwort, die ich (zum Teil pro domo sprechend) zu geben vermag, ist, dem kurzen zeitlichen Abstand vom Geschehen entsprechend, nur vorläufig und kursorisch. Sie bedarf der Verbreiterung und Vertiefung. Meines Erachtens wäre es verfehlt, die Erscheinung „Kommunismus“ als das Produkt aufrührerischer Schriften oder eines Häufleins entschlossener Agitatoren aufzufassen. Aufrufe und Losungen können nur dort ansetzen und geschichtswirksam werden, wo umfangreiche Menschengruppen aus einer als quälend empfundenen Lage heraus — zunächst noch unstet und unklar — nach Abhilfe und Aenderung streben. An solchen Situationen ist unsere Zeit wahrlich nicht arm. Kaum ein Mensch der mittleren Generation, dem nicht die Erinnerung an durchgemachte und die Furcht vor bevorstehenden gesellschaftlichen Katastrophen tief ins Bewußtsein gegraben ist! Millionen, die aus bitterer Erfahrung wissen, was Töten, Quälen, Gefangensein, Stellenloswerden, Mißachtetsein heißt! Die Ursache? Ganz offensichtlich klafft zwischen dem enormen technisch-intellektuali- stischen Aufschwung unseres Jahrhunderts und den herrschenden gesellschaftlich-sittlichen Beziehungen ein erschreckender Abgrund. Der Kommunismus hat diesen Zwiespalt nicht geschaffen, nur vertieft: er ist sein Nutznießer. Es ist die Problematik der bürgerlichen 'Welt selbst, die den Kommunismus als historisches Korrektiv auf die Bühne gerufen hat.

Der Intellektuelle, der Künstler, schöpferischen Arbeitsfrieden und Anerkennung seines Schaffens durch die Mitmenschen suchend, empfindet die Zerrissenheit der Welt, ihre Katastrophenträchtigkeit besonders quälend. Wesentlich scheint mir dabei eines: Zwei Jahrhunderte des Bemühens um Verständnis und Besserung der menschlichen Beziehungen haben im Bewußtsein des denkenden Menschen eine Art universeller Magna Charta herausmodelliert, über deren Grundzüge weiteste Uebcreinstim- mung zu bestehen scheint. Kaum eine politische Strömung, die nicht solche oder ähnliche Grundsätze für sich proklamierte! Die Ablehnung des Krieges gehört hierher, als des abscheulichsten und würdelosesten Mittels zur Austragung von Konflikten; weiter die Unverbrüchlichkeit der Menschenrechte für die Einzelperson, wie für jede diese Rechte achtende Vereinigung. Auch die Notwendigkeit, rationelle Methoden und soziale Gerechtigkeit in die Güterproduktion und -Verteilung hineinzutragen, dürfte heute kaum mehr in Frage stehen. Schließlich kann sich kaum ein Mensch der Vision einer erdumspannenden, friedlichen humanitären Gemeinschaft entziehen, die die schlimmsten materiellen und sittlichen Nöte bezwungen hat und ein auskömmliches, gesichertes, in der Freizügigkeit des einzelnen minimal beschränktes Leben für alle garantiert.

Das ist die Wünschbarkeit, vielleicht sogar die Möglichkeit (die technischen Voraussetzungen dieser Zukunftswelt sind ohne Zweifel schon vorhanden). Die Wirklichkeit ist von diesem Idealbild weit entfernt. Gibt es ein Konzept, das möglich Scheinende zu verwirklichen? In der Bürgerwelt hat sich die naturwissenschaftliche Methode entfaltet und ihre Triumphe errungen. Eine ähnlich großartige Konzeption der Triebkräfte und Steuerbarkeit des histor i sehen Geschehens ist uns das Bürgertum bis zum heutigen Tage schuldig geblieben. Lehrmeinungen gibt 'es viele, größenordnungsmäßig so viele wie Lehrkanzeln. Aber das große, humanistische, begeisternde Konzept? Hier hakt der Marxismus ein: „Folge mir nach, und ich werde dir die Geheim nisse der Natur, der Gesellschaft und des Denkens entschleiern — im Prinzip zumindest!“ Und nicht nur Erkenntnis, allseitige, abgerundete, aus einem Guß; wird hier versprochen, auch der archimedische Hebel zur Umwälzung der Gesellschaft — die Macht der organisierten Arbeiterklasse.

Die meisten seiner intellektuellen Anhänger hat der Kommunismus unter bestimmten örtlichen und zeitlichen Bedingungen gewonnen, vor allem während der Zeit des Faschismus, des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Zusammenhang mit dem Wirken anti faschistischer Kräfte, der Resistance ist offenkundig. Später stagnierte der Zustrom jahrelang, um seit dem XX. Parteitag in einen Rückgang umzuschlagen. Ungarn hat diesen Prozeß folgerichtig erheblich beschleunigt.

Der Intellektuelle oder Künstler hat es in der kommunistischen Partei auch im Westen nicht leicht. Zumeist entstammt er dem Kleinbürgertum und gehörte daher ursprünglich laut Klassencharakterologie zu den qualifizierten „Helfern der Bourgeoisie“ oder er war mit dem Hauptcharakteristikum des Kleinbürgers behaftet — er „schwankte“. Dieses Odium wird er nie ganz los, selbst wenn er sich dem Lebensstil der Arbeiterbewegung anpaßt, auch wenn er seinen Sonntagmorgen opfert und mit der Parteizeitung von Tür zu Tür hausieren geht. Stets ist er verdächtig, wenn ihm nicht sofort jede neue Schwenkung Moskaus klar ist, wenn er zu denken beginnt. Hat er das Pech, auf einem Gebiet tätig zu sein, von dem irgendein mittlerer Funktionär etwas zu verstehen glaubt, so muß er einer ständigen überheblich belehrenden Einmischung in sein Schaffen gewärtig sein — ein Faktum, das manchen Schriftsteller oder Maler im Westen in schwerste Konflikte getrieben, im Osten aber zur fast völligen Sterilität der Literatur, der bildenden Kunst und des Filmes geführt hat. Womit entschädigt der Kommunismus seine intellektuellen Anhänger? In der ersten Nachkriegszeit hatte er zu bieten: den Nachruhm des entschlossenen antifaschistischen Kampfes; ein auf den ersten Blick ziemlich fugendicht scheinendes Weltbild, das dem einzelnen „Kämpfer für die sozialistische Zukunft“ die Illusion gibt, Vollstrecker eines unausweichlichen kosmischen Entwicklungsgesetzes zu sein; die Gewißheit, in Gestalt der Sowjetunion, der Volksdemokratien, der Kolonialvölker eine sich stetig festigende Realisierungsgarantie hinter sich zu haben. Für den nichtreligiösen Menschen konnte darin eine optimistische und humanistische Sinnerfüllung für das Leben liegen, eine zunächst solide wirkende Basis im Kampf zur Weltveränderung und -Verbesserung.

Die ersten Kontakte mit der Realität der Volksdemokratien werfen bereits Bedenken auf. Sie werden mit einer nicht minder bedenklichen

These beschwichtigt: „Wir können nicht warten, bis alle durch die Klassengesellschaft verdorbenen Menschen Engel gewor-den sind, um eine bessere Ordnung aufzubauen. Man muß realistisch mit den vorhandenen Menschen unter Berücksichtigung ihrer Schwächen und Fehler arbeiten. Ist erst die Gesellschaftsordnung verbessert, so muß rückwirkend die Vervollkommnung der Menschen eintreten. Die Mängel in den Volksdemokratien sind Entwicklungs- und Wachstumsschwierigkeiten, die der Tatsache entspringen, daß auch die Kommunisten Menschen mit Fehlern sind!“ Und auf dieses Konto werden alle nicht ins Konzept passenden Fakten geschrieben. Und das Konto wird immer schwerer belastet, manch ein Vertrauenswechsel auf die Zukunft ausgestellt und immer wieder prolongiert.

Gewiß, es gab viele, die es „immer schon gesagt“ hatten. Es kommt aber auch darauf an, w i e etwas gesagt wird. Da wußten verschiedene Blätter schauervolle Geschichten über Straflager, über Machtkämpfe im Kreml zu berichten. Das paßte nicht ins Konzept. Offenbar stellte sich der kleine Moritz in den Redaktionen so den Kreml vor. Doch dann dröhnte ein Schlag nach dem anderen ins Gewissen: der Aerzteprozeß, der Geheimbericht von Chruschtschow, die Rehabilitierungen, Polen, Ungarn. Und es blieb kein Zweifel — es war viel schlimmer, als die Phantasie des kleinen Moritz es sich ausmalen konnte. Dieser vernichtende Schlag wurde nicht vom „Klassenfeind“ geführt, er kam aus dem Lande der ersten sozialistischen Macht.

Seit dem XX. Parteitag schwanken nicht nur die Intellektuellen Mancher greift nun zu einem vergessenen kleinen Bändchen, das man sich einst für ein paar Schilling vom „Lit-Mann“hat anhängen lassen und liest mit starren Augen die amtlichen Berichte über den Rajk-Prozeß. Man hätte sie früher genauer lesen müssen! Die Belastung des Gewissens, der intellektuellen Selbstachtung werden unerträglich. Abgründige, perverse Verbrechen sind geschehen, Verbrechen auch an den besten eigenen Leuten. Jahrelang wurde man mit Nachrichten, Statistiken, Zahlen, Kommentaren versorgt und durch die Parteidisziplin angehalten, alles das anderen gegenüber propagandistisch zu vertreten. Nun auf einmal ist das meiste zur Lüge geworden. Nicht der „Klassenfeind" sagt das, sondern das offizielle Dokument.

Die Partei fordert einen erneuten Vertrauensvorschuß. „Es ist ja schließlich die Partei selbst, die enthüllt hat und nun Aende- rung verspricht. Alles, alles wird nun besser werden!“ — In Ungarn wäre Gelegenheit gewesen, zu zeigen, daß wirklich ein neuer Weg beschritten werden soll. Die gleichen Männer der zentralen Parteiapparate, die jahrelang für alles, was geschah, voll verantwortlich waren, fordern nun, statt abzutreten, unter Hinweis auf ihre fachliche Unentbehrlichkeit erneut Vertrauen. Aberjetztgibtesnurnoch eine Möglichkeit, für alle, dieb i s- her die große Illusion in sich nährten: Hände weg!

(Schluß folgt)

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