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Die große Illusion

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Im ersten Teil seiner Darstellung (siehe „Furche" Nr. 6) behandelte der Verfasser die Anfälligkeit der Intellektuellen für den Kommunismus in Krieg und Nachkriegszeit und die große Vertrauenserschütterung durch den Aerzteprozeß, den Geheimbericht Chruschtschows, die Rehabilitierungen und die Vorgänge in Polen und Ungarn.

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Im ersten Teil seiner Darstellung (siehe „Furche" Nr. 6) behandelte der Verfasser die Anfälligkeit der Intellektuellen für den Kommunismus in Krieg und Nachkriegszeit und die große Vertrauenserschütterung durch den Aerzteprozeß, den Geheimbericht Chruschtschows, die Rehabilitierungen und die Vorgänge in Polen und Ungarn.

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Die große Vertrauenskrise begann.

Angeblich handelt es sich bei diesen erschütternden Vorgängen um eine „Entartung", die aus einer besonderen historischen Situation, noch mehr, aus den Eitelkeiten einer Einzelperson zu erklären sei. Diese These läßt sich nicht einmal auf dem Boden des Marxismus halten. Nach meinen persönlichen Erfahrungen an beruflich einflußreicher Stelle in einem Land des „sozialistischen Lagers“ liegen die Ursachen tiefer, im System, im Konzept selbst. Ent- Scileidende Mängel und lebensfremde Thesen der „marxistisch-leninistischen Theorie" haben, in die Praxis umgesetzt, dazu geführt, daß in einer bestimmten historischen Situation ein ganzes System entarten und die persönlichen Schwächen eines einzelnen zur Vernichtung von Tausenden führen konnten. Ueber der abstrakten Liebe zur Menschheit des Jahres 3000 ist der konkrete Mensch von heute vergessen worden.

Der Marxismus hat — und damit kommen wir meiner Meinung nach auf eine der zentralen Fragen zu sprechen — offenbar den be- dingungs- und skrupellosen Weg zur Macht strategisch und taktisch gut durchgearbeitet und praktiziert. Nicht vorhergesehen war der korrumpierende Einfluß der unumschränkten Macht auf die zur Macht Gelangten. Daher war auch kein wirksames Korrektiv vorgesehen, und ein des dialektischen Gegenspielers beraubter Prozeß mußte mit furchtbarer Einseitigkeit abschnurren. Lenins bekannte Formel vom „demokratischen Zentralismus" hat unberücksichtigt gelassen, daß die zentralistische Seite (der mit realer Macht ausgestattete Partei- und Staatsapparat) automatisch die demokratische Seite (die nur mit äußerst eingeschränkten Wahlmöglichkeiten ausgestatteten Volksmassen) an die Wand drücken muß, wenn nicht Kritik und Opposition organisierte und vom Apparat unabhängige Form annehmen können. Mit dem EįtĮgar eįpns.ystem regiert,es sich leicht .fc-, fai- mindest bat ps einige Zeit hindurch den Anschein. Aus der „Diktatur des Proletariats'' (konzipiert als „Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit“, die „millionenfach demokratischer“ sein sollte als die bürgerliche Demokratie) ist jedoch auf diese Weise nicht einmal die Herrschaft der einen Partei oder auch nur ihres Zentralkomitees geworden, sondern die Diktatur des augenblicklich führenden Flügels im „Polbüro“. So kann man höchstens regieren, wenn man allwissend ist. Wenn man aber nicht allwissend ist — und die dauernde Selbstanpreisung des Marxismus als „einzig wissenschaftlich" hilft hier nicht weiter —, sich aber de facto dafür hält, muß jede Stimfne unabhängiger und wesentlicher Kritik als Stimme des „Klassenfeindes", jeder selbstverschuldete Planungsmißerfolg als „Sabotage" erscheinen, die der grausamsten Verfolgung würdig sind. Der durch Gegenauslese gebildete, gefügige mittlere und untere Apparat verschlimmert die Sache nur noch mehr durch servile und rosig gefärbte Berichte.

Die Entartung des Apparats scheint verschiedentlich so weit gegangen zu sein, daß das entscheidendste Charakteristikum des Sozialismus, die Beseitigung von „Ausbeuterklassen", in Frage steht. Die marxistische Theorie legte immer Wert darauf, daß man Verstaatlichung nicht mit Sozialisierung verwechseln dürfe, daß . es auf die Frage, wer den Staat, wer die Betriebe beherrscht, ankomme. Heute ist offenbar geworden: die Arbeiterklasse, die um das Streikrecht, um bescheidene Formen von Betriebsräten kämpft, herrscht nicht. Die .führenden Kreise des Apparats dagegen haben eine unumschränkte Verfügungsgewalt über die gesamte Produktion und Verteilung erreicht, von der ein Superkönzern nicht zu träumen wagte. In diesem Sinne kann man die Aneignung des Mehrprodukts nur als „privat“ bezeichnen. Hinzu kommt eine deutliche Absonderung von den Volksmassen (Propusk-Büros!) und Entfaltung eines protzigen Luxus (alles nach Kadar- Zeitungen, die den Rakosi-Apparat kennzeichnen). Es fehlt nur noch die Erblichkeit dieser Privilegien.

Sehr fragwürdig erscheinen auch verschiedene ökonomische Grundauffassungen, wenn man sie im Lichte der Tatsachen prüft. Das zeigt sich z. B. in der Einschätzung des gegnerischen Systems. Seit Lenins „Imperalismus“ (1914) ist keine gründliche Untersuchung über die Veränderungen im Kapitalismus mehr verfaßt worden.

Die Existenz der Sowjetunion z. B. hat die Stellung der Arbeitnehmer in der westlichen Welt gefestigt und weitgehende Ausgleichserscheinungen zwischen Unternehmerschaft und Arbeitern beschleunigt, wodurch anderseits — objektive Dialektik! — revolutionäre Tendenzen gedämpft wurden. Unter dem gleichen Aspekt sind offenbar auch neue Methoden der wirtschaftlichen Stabilisierung entwickelt' worden. Diese Veränderungen paßten nicht ins Konzept der „absoluten Verelendung" und wurden nicht zur Kenntnis genommen, wie aus den grotesk plumpen Agitationslosungen hervorgeht, die an die westeuropäische Arbeiterschaft gerichtet werden.

Noch fragwürdiger als die Einschätzung der Oekonomie des Gegners dürfte die Selbsteinschätzung geworden sein. Auch hier die verhängnisvolle Praxis einer sich allwissend fühlenden Partei. Es bestand keine Klarheit darüber, wie weit die Verstaatlichung zu gehen habe, was alles man planen kann und was nicht, und wie man den entscheidenden Faktor, den Menschen, im Apparat und außerhalb des Apparats anzusetzen habe. Man hat radikal drauflos verstaatlicht, womöglich bis hinunter zum Friseur, ohne sich realistische Vorstellungen über die fachliche Kapazität der neuen Leitungsorgane zu machen. Hier wirkt sich die Gegenauslese, genannt „Kaderpolitik“, verheerend aus Fachkönnen ist nicht entscheidend, sondern „Zuverlässigkeit“ (ein Könner an verantwortlicher Stelle könnte ja mehr Schaden anrichten als ein „ergebener" Nichtskönner). So tritt der die neuesten Losungen nachplappernde, ständig „auf der Linie“ bleibende Karrierist in den Vordergrund, bis er wegen totaler Unfähigkeit durch den nächsten abgelöst wird.

Die erzielten Produktionsziffern? Auch wenn man einen die Propaganda in Rechnung stellenden Prozentsatz abzieht, sind sie auf dem Gebiet der Grundstoff- und Schwerindustrie besonders im Fäll der Sowjetunion sehr beacht--' lieh. Da aber die Produktivität des Einzel- arbeiters gemessen an westlichen Verhältnissen klein ist, steht der Erfolg in einem ungünstigen Verhältnis zum Aufwand. Bisher ist nur ein „Ueberlegenheits“-Beweis geführt worden: es ist möglich, in industriell unterentwickelten Ländern bei vollständiger Beherrschung der Bevölkerung unter erzwungenem Konsumverzicht ganze Industrien aus dem Boden zu stampfen. Der Beweis, daß diese Form des Aufbaues rationell ist, wenn wir schon von der Unmenschlichkeit des Systems “ absehen, steht aus. Bekanntgewordene riesige Fehlinvestitionen lassen das Gegenteil vermuten.

Die Planungsmethoden selbst stehen nicht auf der Höhe der Zeit. Während es im Westen bereits Großkaufhäuser gibt, die mit elektronischen Rechenmaschinen kalkulieren und bilanzieren, werden in manchen östlichen Planungsabteilungen noch Kugeln auf einem Draht hin- und hergeschoben. Eine realistische Erfassung der Bestände und Kapazitäten ist angesichts der universellen Schönfärberei kaum erzielbar. Ebenso unrealistisch müssen natürlich die Planansätze und Prognosen ausfallen. Hier liegt das Tätigkeitsfeld von „starken Persönlichkeiten“ im Wirtschaftsapparat, die die Planziffern ins Endlose lizitieren, um sich mit soundsoviel Tonnen Stahl oder Kohle, die „ihr Ministerium“ produziert, Pyramiden der Aufbauschlacht zu setzen. Im Endeffekt können keine elastischen Reserven gebildet werden, und der Weg der Industrie führt von einem Engpaß in den anderen. Lange Stehzeiten, Desorganisation in den Betrieben sind die Folge, und an Stelle der erwarteten „Masseninitiative“, die die Privatinitiative ersetzen sollte, tritt die Mißstimmung der Arbeiterschaft und die „aufrüttelnde“ Resolution, die vom Parteisekretär in der Betriebsversammlung durchgepeitscht wird.

Innen- und Außenpolitik eines Landes stehen in innigem Zusammenhang. Die Beziehungen der Sowjetunion zu den Volksdemokratien stellen nur eine Widerspiegelung der inneren Beziehungen zwischen Apparat und Volk dar. Nach der marxistischen Terminologie kühn das Verhaften den „befreundeten Staaten" gegenüber nur als „imperialistisch“ bezeichnet Vier den. Derartige Beziehungen ließen sich aber nur aufrechterhalten, weil die herrschenden Apparate in den Volksdemokratien bereit waren, die Interessen ihrer Länder vollständig denen der Sowjetunion unterzuordnen.

Die meisten tonangebenden Mitglieder dieser Apparate hatten in der Emigration oder während der Schulungsjahre spezifisch russische Lebensgewohnheiten angenommen und pfropften, zurückgekehrt, diese Gewohnheiten ihren eigenen Ländern auf. Diese Uebertragung erfolgte, abgesehen von der üppigen Verwendung nationaler Volkskunstmotive, zumeist schematisch und stumpfsinnig. Die Namen von zu schaffenden Organisationen, Institutionen, Titeln (wie der des „verdienten Künstlers des Volkes") wurden — z. T. sogar sprachlich schlecht — einfach von russischen Listen übersetzt. Auch Literatur, bildende Kunst, Film, Architektur wurden gleich- und vielfach zurückgeschaltet. Die Berliner Stalinallee etwa könnte ganz gut das Neueste aus Nowosibirsk darstellen Alles das aber ging unter dem Schlagwort „Pflege der eigenen nationalen Besonderheiten und des kulturellen Erbes" vor sich. So weit hat die Praxis eines unbeschränkt und unkontrolliert tätigen Apparates weggeführt von Grundsätzen, die 1913 gerade von Stalin als „Recht auf Selbständigkeit bis zur Loslösung" proklamiert worden war. Ungarn hat es versucht, sich loszulösen . ..

Unter diesen Bedingungen, bedrückt vom schreienden Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Propaganda, eingeengt in ihrer schöpferischen Freizügigkeit, abgesperrt vom Ausland, zu seichten „Schulungen“ genötigt, in ihren Nationalgefühlen beleidigt und mit Gütern mangelhaft versorgt, lebten und leben die Intellektuellen und Künstler. Kein Wunder, daß sie nun zum Sprachführer der allgemeinen explosiven- Bewegungen wurden und werden. Dabei muß man die materiellen Voraussetzungen der intellektuellen und künstlerischen Produktion als großartig bezeichnen. Alles, was gut und teuer ist, wird in Hochschulen, Laboratorien, Ateliers usw. hineingesteckt. Die Gehälter der Spitzenkönner erreichen das Zehn- bis Zwanzigfache des Durchschnitts. Spezielle Lebensmittelkarten, Sonderkohlen, Großwohnungen, Theaterabonnements — alles für die „werktätige Intelligenz“. Und doch ...

Was wird werden, was soll werden? Meine Prognosenlust ist stark gedämpft; dennoch wage ich die Vermutung, daß die gegenwärtig im Osten vor sich gehenden Prozesse, der Drang nach Demokratisierung, nach einem freieren,, froheren und besseren Leben, bereits zwangsläufigen Charakter angenommen haben. Am XX. Parteitag ist etwas bisher Unerhörtes geschehen, das die überzeugten Kommunisten viel tiefer betroffen hat als die Mitläufer. Das Unantastbare wurde bloßgestellt, ein Unfehlbarer als pathologisch, Vielgepriesenes als verwerflich enthüllt. Die Massen, voran die Intellektuellen, haben begonnen, in Frage zu stellen — wo wird das enden? Wie kann das aufgehalten werden? Die Gewalt ist hier das schlechteste Auskunftsmittel. Sie verstärkt den Zweifel nur, auch wenn sie ihn in die eigene Brust zurückzudrängen vermag. Voraussichtlich wird der Apparat (Hauptaufgabe der Zentrale ist, Zentrale Zu bleiben — sagt Tucholski) Widerstand leisten und sich zu behaupten versuchen. Die Hauptgefahr besteht darin, daß er bis zum Aeußersten gehen kann, auch in dem Versuch, die inneren Schwierigkeiten nach außen abzulenken. In diesem Sinne sind die inneren Probleme des Kommunismus heute zu Problemen der Welt geworden.

Eine der entscheidendsten Lebensaufgaben des Westens besteht heute meines Erachtens darin, alle zur „Flucht nach vorne" provozierenden Anlässe aus dem Wege zu räumen, um dem Gärungsprozeß im Osten ruhige und stabile Randbedingungen zu schaffen. Unserem Lande obliegt7 dabei die strikteste Erhaltung seiner Neutralität, die bewußte Steigerung des Lebensstandards und die Schaffung eines kulturell günstigeren Klimas. Das ist auch das Beste, was wir für die Menschen „drüben" tun können.

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