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Die Hauptstadt der Flchtlinge

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An vier Orten Asiens häuft sich großer Reichtum auf kleinem Raum: in Kuweit, Brunei, Sin-gapore und Hongkong. Kuweits und Bruneis Reichtum beruht auf Öl, Singapores auf Gummi und Zinn, Hongkongs — auf Flüchtlingen. Es bietet ein Schulbeispiel dafür, daß Menschen keine Last, sondern ein Wert sind. Ein um so größerer Wert, je fleißiger sie sind — und Flüchtlinge sind die fleißigsten Menschen.

Als England 1841 die Insel von China erhandelte, wohnten dort fünfzig Fischerfamilien. Wer heute die Märchenstadt sieht, nach Rio de Janeiro die schönste Hafenstadt der Erde, kann es nicht glauben, daß damals ein britischer Bericht Hongkong „eine öde Insel mit kaum einem THaus“ anannr£, Vier Jahre später waren schon 20.000 Chinesen vom Festland herübergekommen, denen das Leben unter britischer Herrschaft besser behagte. Nach der Taiping-Revolution waren die Flüchtlinge auf 120.000, nach der chinesischen Revolution von 1911 und der japanischen Invasion Chinas von 1937 auf 1,6 Millionen angewachsen. Nach der Eroberung Hongkongs deportierten die Japaner eine Million nach dem Festland, so daß nach der Befreiung 1945 nur noch 600.000 Einwohner gezählt wurden. In den letzten 15 Jahren sind 2 Millionen dazugekommen. Könnte die Bevölkerung Chinas mit ihren Füßen frei wählen, so würden sich mindestens 590 Millionen auf der Milliarde Quadratmeter der einen großen, 197 kleinen Inseln und dem „Territorium“ auf dem Festland drängen, auf weniger als zwei Quadratmetern würde je ein Mensch liegen, das ganze Land würde so aussehen wie ein Strand um New York an einem heißen Sommersonntag.

Bei 2,6 Millionen Menschen entfallen immerhin 400 Quadratmeter pro Kopf, dazu kommen noch 60.000 Wohnboote für Menschen, die noch nie auf festem Land geschlafen haben. Aber weite Flächen auf dem Festland und manche auf den Inseln sind landwirtschaftlich genutzt, der weitaus überwiegende Teil der Menschenmassen drängt sich in den beiden Schwesterstädten Hongkong und Kowloon, die nur ein schmaler Meeresarm trennt, und einem Dutzend Dörfern zusammen.

Aller Reichtum Hongkongs kann nicht genügen, um diesen Massen eine Existenz zu verschaffen. Dieser Reichtum ist chinesisch. Selbst wenn alle 14.000 Engländer und 7000 anderen Nichtchinesen reich wären, würden sie doch unter der Viertelmillion wohlhabender Chinesen nicht ins Gewicht fallen^ Der reiche Chinese ist leichter bereit, für arme Volksgenossen zu sorgen als der Reiche irgendeines anderen Volkes. Jahrtausende seiner Volksgeschichte haben ihn gelehrt, daß der Reiche von heute nur zu leicht zum Armen von morgen wird.

Daher geschieht hier mehr für die Flüchtlinge als sonstwo. Täten die Reichen der arabischen und indischen Länder nur einen Bruchteil dessen, was hier geschieht, so wäre das Elend der zehn Millionen indischer, pakistanischer, arabischer Flüchtlinge längst beseitigt, und ihnen wie ihren Zufluchtsländern ginge es besser. Von den zwei Enden Asiens, von Hongkong und Israel, leuchten die Beispiele, was man aus Flüchtlingen machen kann, aber sie werden weder verstanden noch genutzt.

Damit soll gewiß nicht gesagt werden, daß in Hongkong keine Armut herrscht. Hunderttausende haben keine Arbeit, keine Wohnung und kaum Nahrung. Mehr als Gelegenheitsarbeit können sie kaum finden: Nahrung wird verteilt und schützt vor dem Hungertode; Wohnungen werden gebaut, ganze Stadtteile, die wie Bienenwaben aussehen, aber im Vergleich mit den verwahrlosten Hütten, die ganze Bergabhänge bedecken, wie Paläste. Was diese Menschen vor allem brauchen, ist Arbeit. Arbeit braucht aber erst Kapital, ehe es Kapital erzeugen kann. Am Anfang braucht Arbeit noch mehr “Kapital, als später Kapital. Arbeit braucht. Im vergangenen Jahrhundert strömte mit den Flüchtlingen Kapital in das sichere Hongkong, heute sickert es aus dem unsicheren Hongkong hinaus. Noch nie wurde aber so viel Kapital benötigt und noch nie hätte es menschlich und wirtschaftlich so fruchtbar wirken können wie jetzt. Bestünde nicht die Gefahr Rotchina, so wäre nicht nur das chinesische Volk, sondern die ganze Welt um viele Milliarden reicher.

Jeder in Hongkong weiß, daß es nur von einer Laune der roten Herren abhängt, ob sie die Insel besetzen wollen, und daß sie sie nur so lange nicht besetzen, als sie klug bleiben. Das Damoklesschwert hängt also an einem dünnen Faden. Der Zug des Kapitals folgt aber noch mehr der Sicherheit als dem Ertrage. Der wohlhabende Chinese opfert wohl einen erheblichen Teil seines Vermögens für seine Landsleute, schaut aber doch in die Ferne, wohin er den anderen Teil in Sicherheit bringen kann. Dabei fällt sein Blick nicht mehr nur auf die Vereinigten Staaten und auf England, sondern auch auf das nähere Australien, mit dem ihn wachsende Geschäftsfäden verbinden. Man hat sich in Sydney sehr aufgeregt, als bekannt wurde, daß ein greifbarer Prozentsatz der Grundkäufe, die die Preise so hinauftreiben, auf Chinesen zurückzuführen war. Weite Gebiete, an die man früher gedacht hätte, wie Indonesien oder Malaya, sind weggefallen. Formosa würde lok-ken, wenn es sicherer wäre.

Trotz allem wird ein überraschend großer Teil der Flüchtlinge bewundernswert schnell in den Produktionsprozeß eingegliedert. Sie sind alle arbeitswillig und fast alle arbeitsfähig. Ihre Arbeit schafft einen unter den herrschenden Verhältnissen fast phantastischen Aufschwung. 1950 war die Wirtschaft Hongkongs noch passiv. Vier Jahre später ist die eigene Erzeugung auf 800 Millionen Hongkong-Dollar gestiegen, deren jeder vier Schilling gleicht. Das Rückgrat der Wirtschaft ist aber nicht Erzeugung, sondern Handel. Die Einfuhr ist auf fast fünf Milliarden gewachsen, die Wiederausfuhr von zweieinhalb Milliarden aber stabil geblieben, Beweis gestiegenen Verbrauchs. 1947 wurden nur zehn Prozent der Industrieprodukte ausgeführt, 1952 war es schon ein Viertel, 1957 vier Zehntel und jetzt die Hälfte. Die Landwirtschaft trägt schon mit fast einer halben Milliarde Schilling zur Ausfuhr bei, obwohl die Durchschnittsgröße der Farmen nur einen halben Hektar, ein Zehntelhektar pro Kopf und vier Zehntelhektar auf den Erwachsenen, beträgt.

Am schwierigsten ist aber nicht die Versorgung mit Nahrung, sondern mit Wasser. In der Wüste wie im meerumspülten Land ist Süßwasser das kostbarste Gut. Es wird sorgsam gesammelt, und doch muß es im Winter auf zweieinhalb Stunden im Tag rationiert werden, denn der Bedarf ist bereits auf 1,4 Millionen Hektoliter im Tag gestiegen. Auch hier zeigt sich der Charakter einer belagerten Festung: in Trinidad wird bei Knappheit Wasser an der Börse gehandelt, in Hongkong wird es rationiert.

Es ist bemerkenswert, wieviel Erziehung man bei rationeller Wirtschaft mit nur 200 Millionen Hongkong-Dollar „erzeugen“ kann. In 400 öffentlichen und 800 privaten, meist Missionsschulen, werden mit 12.500 Lehrern 300.000 Kinder unterrichtet, eine Universität mit 200 Professoren bildet 1000 Studenten aus. 200 Kinder werden jährlich nach Australien geschickt, das nicht nur wirtschaftlich für Hongkong die Stelle der Schweiz vertritt. Die Sanitätspflege vollbringt ein Wunder: nur acht öffentliche, acht private Spitäler und zwölf Kliniken, und doch keine Seuchen! Die Justizpflege vollbringt ein anderes Wunder: Trotz der hungernden Mengen, trotz des Kampfes um die Arbeit ist die Sicherheit wesentlich größer als in den meisten Hafenstädten Amerikas und Europas. Britische Verwaltung bietet unter schweren Verhältnissen ein leuchtendes, stilles und darum nicht genug gewürdigtes Beispiel.

Mit mehr Kapital könnte auch ein richtiges Wirtschaftswunder vollbracht werden.' Die Arbeitskraft von mindestens 200.000 Familien ist nicht voll ausgenützt. Jede könnte leicht mehr Güter und Leistungen im Werte von 5000 Schilling im Jahr erzeugen. Nicht nur Hongkong, sondern die Welt würde um eine Milliarde Schilling im Jahr reicher. Jedes der Dörfer in den blühenden Tälern der Territorien könnte dreimal so viel Menschen ernähren, wenn sie von mehr als den derzeit bestehenden 3400 Fabriken umgeben wären. Zehntausende Wohnboote könnten Hunderttausenden bessere Unterkunft bieten. Mit mehr Motorbooten ließen sich aus dem Meere noch viel mehr Fische und Algen herausholen, die sich zu nahrhaften Lebensmitteln für die nicht zu heiklen chinesischen Massen verarbeiten ließen. Eine Algenart gehört übrigens, geräuchert und getrocknet, zu den größten Leckerbissen der chinesischen Küche, die Tausende von Kilometern weit überallhin ausgeführt wird, wo Chinesenileben. Nur Kapital ist nötig, das sich glänzendv verzinsen würde. Aber wer schickt Kapital unter das Damoklesschwert?

Das sollte allen, die von der Leistungsfähigkeit der Zwangserzeugung schwärmen, zu denken geben. In der Bilanz unserer Zeit stehen neben den Hunderten von Milliarden Dollars, die unter Drohung und Furcht erzeugt werden, Billionen, die aus Furcht vor der Drohung nicht erzeugt werden. Wer das wirkliche Rußland vor dem ersten und China vor dem zweiten Weltkrieg gekannt hat und den Vergleich mit Finnland und Formosa versteht, kann sich mit wirtschaftlicher Phantasie ausmalen, um wie viel reicher und glücklicher die Milliarde Menschen zwischen Weichsel und dem Pazifik wären, wenn dieses Riesengebiet sich in Freiheit entwickelt hätte und von dem Kapital der ganzen Welt befruchtet worden wäre; wieviel reicher und glücklicher die Welt außerhalb der Riesenfestung wäre, wenn sie sich nicht immer vor Ausfällen und Eroberungszügen fürchten müßte. Totalitäre Wirtschaftssysteme, vom Faschismus bis zum Kommunismus, haben wohl die Regierungen reicher, aber die Völker ärmer gema;ht, als sie in freier Wirtschaft wären. Wie in einer Retorte zeigt das die Flüchtlings-stadt Hongkong, die nichts hat als Menschen, die sich nach freier Arbeit sehnen.

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