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Die Heimkehr

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Kahle, herbstentlaubte Bäume begleiten das

graue Band einer Straße. Ein fahler Winterbimmel steht darüber, und der Blick in die Weite fängt sich an den dunstenden Nebeln, die wie graue Schemen aus farblosen Wiesen, stumpfbraunen Äckern und dunkel ruhenden Wä'dern steigen.

Über diese Straße geht ein Mann.

Er scheint es nicht eilig zu haben, denn er setzt langsam Schritt um Schritt.

Er geht, als wäre sein Weg ohne Ziel, als wiese die Straße ihn ins Uferlose.

Den Kopf zu Boden gesenkt, den Rücken unter der Last eines zerschlissenen Rucksackes gebeugt, achtet er kaum- vorüberbrausender Wagen. Sein Gesicht liegt halb verborgen im hochgestellten Kragen eines grauen, verblichenen Mantels.

Nur einmal hebt er es.

Dieses Gesicht! Ausgebrannt und leer, verzehrt und kraftlos, müde und zerbrochen.

Schleppende Schritte, gebückte Gestalt, erloschene Augen.

Mensch ohne Hoffnung — — Wo sahen wir ihn schon einmal? Wo sind wir ihnen begegnet, diesen Gesichtern?

Damals war es: auf dem Weg in die Schlacht, auf dem Weg aus der Schlacht. — So zogen sie dahin. Mann hinter Mann, eine endlose Reihe. Schicksal an Schicksal gereiht, doch eingeebnet jedes Schicksal, dem eigenen Willen entzogen, gleichgemacht durch einen Befehl.

Durch ein russisches Dorf zogen sie. Quatschende Stiefel versänken in aufgeweichtem Lehm. Gewehre hingen vor ihrer Brust und in den baumelnden Händen trugen sie Kästen voll Munition. Auf den Rücken war?' karges Gepäck geschnallt.

Genug zum Sterben.

Da setzten sie wie der, da auf der grauen Straße Schritt um Schritt. Sie duckten sich nicht vor heranheulenden Granaten. Sie waren zu stumpf. Verschüttet in ihnen der Wille zum Leben.

Was galt das Sterben schon! Heute oder morgen oder übermorgen: einmal mußte es sein. Ein Entrinnen aus dieser Mühle von Blut und Jammer konnte es nicht geben.

Sie haben zu vergessen, was einmal war. Die meisten haben es auch vergessen.

Dreck und Läuse, das gellende Bersten explodierenden Eisens, das Heulen, Zischen, Gurgeln und Hämmern, das Schreien und das lautlose Sterben.

Hier schließt sich der Kreis, denn nur der Augenblick hat Geltung. Und es heißt dem Befehl, mag er noch so sinnlos dünken, gehorchen. Wer nicht gehorcht — stirbt.

Fünf Jahre lang ist dies eingehämmert wnd erlebt. Tag um Tag.

Fünf Jahre sind gelebt und aus dem Buche des Lebens gestrichen.

Nun wird mit einem Male eine neue Seite aufgeschlagen, da soll das Leben wieder beginnen.

Eine neue Seite ohne Blut, ohne Tränen, ohne das Gespenst tiefkreatürlicher Angst. Wie einfach!

Ja, vielleicht wäre sie einfach, die Heimkehr, einfach und leicht, wenn man alles von sich werfen könnte, wenn man heimkäme zu einem Menschen, zu Frau und Kind.

Doch---nicht weiter denken.

Nicht beginnen zu denken!

Der Himmel ist noch trüber geworden, die Bäume verstümmelt.

Der Mann schlurft müde. Schritt um Schritt. Bei jedem Tritt schlapft die lösgerissene Sohle des Stiefels.

Schritt um Schritt. Näher dem — Nichts.

Ein rumpelnder Wagen. Kreischende Bremsen und eine fremde Stimme:

„He, du — steig auf!“

Aus dem Führersitz ein Gesicht — wo hat man es schon einmal gesehen?

Nutzlos das Grübeln. Man kennt ja sein eigenes Gesicht am wenigsten ...

Klamme Hände stemmen sich die Bordwand hoch, von oben wird nadigeholfen.

Gegen die rüttelnde Wand gelehnt, starrt er auf das Band der dahinfließenden Straße.

Eine Brücke. Wassergefüllte Trichter darum. Brandschwarze Mauern, leere Fensterhöhlen — ach ja — die Stadt.

„Woher?“ fragt ihn einer.

Widerwillig formen die schmalen Lippen sich.

„Rußland, sagt er rauh. „Ja“, sagt der andere, „ja..Und schweigt.

Er könnte genau so Frankreich gesagt haben, England, Italien, Norwegen oder Amerika. Oder Deutschland. Oder Afrika.

Sie kommen ja von überall her.

Eine Straßenbahn. Hastende Menschen und viele Wagen.

Die Stadt, in der er daheim ist. Ist? War!

Ohne Dank verschwindet er, als der

Wagen hält.

Es soll ihn keiner fragen. Er will kein Mitleid. Er hat Hunger.

Ein Schild, ein rotes Kreuz weist ihn.

Er zeigt seine Papiere.

Eine Schwester, die sie liest.

„Sie sind ja—“ — hier zu Hause! will sie hoch sagen, doch verstummt sie vor seinen Augen; Augen, die jetzt suchend sind und

gejagt, als möchten sie auf etwas ruhen, was sie nicht finden können.

Sie schenkt einen Teller mit Suppe voll und reicht ihm ein Stück Brot. Im Stehen taucht er den Löffel ein und ißt hastig, als könne er etwas versäumen.

Noch einmal hält er den Teller der Schwester hin und noch einmal bekommt er ihn gefüllt.

Dann geht er grußlos.

Es treibt ihn durch die Straßen, über Plätze, an Trümmern vorbei und an Schutt.

Schneller werden seine schleppenden Schritte; wer ihn sieht, mag denken, daß er es eilig hat, nach Hause zu kommen.

Der trübe Tag neigt sich einer frühen Nacht zu. •

In den weiten, gartendurchbrochenen Straßen einer Vorstadt ist er nun.

Zertrümmerte Zäune, die Ruinen einer Fabrik.

Hier hat er gearbeitet — vor einem Menschenleben.

Noch zwei Straßen weiter.

Bretterversdialte Fenster. Menschen, die seiner nicht achten.

Vor flbercinfn3efgetBi ncen Trßrrimern

bleibt er stehen.

Hier, an diesem abgetretenen Pflasterstein war die Haustüre. Merkwürdig, daß er sich dieser Stelle noch entsinnt. Der Stein hat die Zeit überdauert. Unverändert.

Er steht und starrt.

Ich meine darum, daß man nie und nirgends solche Feste, die sich das Volk selber gibt, um sich in Masse zu erfreuen, ausrotten soll, weil ein heiteres Volk auch ein gutes ist, weil der Österreicher in seiner gesunden Herzensgüte nirgends zu großen Exzessen geneigt ist, und weil der geringe Schaden, der sieb zeigt, wenn die Heusdireckenwolke wieder verflogen ist, leicht ausgebessert werden kann.

Adalbert Stifter: Aus dem Aufsatz „Ausflüge und Landpartien“

. Und wartet. Wartet, daß aus diesen Trümmern sich ein Haus aufbaut, in dem er die Treppen hochschreitet bis in den zweiten Stock. Eine schmutzige, steinerne Treppe, die vor einer braunen Türe endet, an der sein Name steht auf einem breiten Messigscbild, das er in einer glücklichen Laune gekauft. Der blecherne Briefkasten hängt daneben, zu dessen verbogenem Schloß er lange schon den Schlüssel verloren hat. Er wird klopfen.

Das Kindergeschrei drin wird verstummen und rasche Schritte sich nähern.

Ein Schlüssel dreht sich.

Was wird er sagen? „Da bin ich, Erna! Für immer daheim!“

Sie wird ihn nur anschauen, wird es nicht glauben können, nein, einfach nicht glauben können, daß er gekommen ist.

Dann, dann wird er daheim sein.

Während er steht und starrt, dies denkt und wartet, daß sich das Gebäude seiner Hoffnung aufbaute vor ;hm, brich'- es Stück um Stück von seiner Seele und fällt ins Nichts.

Gedanke um Gedanke, kaum gedacht, schon sinnlos geworden.

Denn nie mehr wird es so sein.

Nie! Nie, nie ...

Er möchte schreien,

Mödne an den Trümmern rütteln. - Er hat alles gewußt. Hier sieht er es.

Ob sie noch unter den Trümmern liegt? —-Ach nein, man schrieb ihm doch, wo sie begraben sei. Sie und der Kleine.

Aus.

Zögernd wendet er sich ab.

Wohin? Es wird Nacht.

Er geht ein paar Schritte, kehrt wieder um.

Klettert hinein in die Trümmer.

Ziegelsteine bröckeln.

Irgendwo haben zwei Mauertrümmer einen Winkel gebildet,

Da wirft er seinen Rucksack hin.

Er bleibt, Diese Nacht bleibt er hier.

Es ist dunkel geworden.

Aus einem Fenster, einer einzigen Scheibe im Hause gegenüber, fällt heller Lichtschein.

Die Decke hat der Mann um sieh geschlungen, den Kopf auf den Rucksack gebettet.

Auch diese Nacht wird vergehen.

Irgendwo rieselt Schutt.

Das Licht auf seinem Gesidit stört ihn nicht. Es hat etwas Tröstendes in sich. So leuchtete die kleine L&mpe in seinem Zimmer. 1 Leuchtete.

Ach ja, er ist ja daheim.., *

Eine rufende, scheltende Stimme. Das Rieseln von Schutt und dann auf der •Straße das helle Tappen schneller Füße. Der Mann in den Trümmern nimmt es nur im Unterbewußtsein wahr.

Er wartet auf den Schlaf, der nicht kommen will.

Verschwunden zwei neugierige, verständnislose Kinderaugen.

Der Mahn hat ihr Dasein nicht einmal geahnt. ■

Schritte, die näherkommen; Schritte, die sich in die Nacht entfernen. Stimmen. Ferne Geräusche. Für Sekunden ein aufheulender Motor und grelles Scheinwerferlieht.

Dann wieder nachtsdiwarzes Dunkel und nur der Lampensdiein vom jenseitigen Hause.

Wieder Schritte, wieder Stimmen. Sie verhalten, entfernen sich nicht. Eine Weile der Stille. Dann ein zögerndes, halblautes Rufen: „Hallo, ist da jemand?“ Sdiweigend horcht er. Wen die Stimme wohl meint? Es ist eine Frau, die ruft. Er denkt: mag sie rufen. Mich ruft hier niemand.

Fester zieht er die Decke an sich. Die Nacht wird kalt.

„Nein“, hört er nun eine andere Stimme, „bestimmt. Ganz bestimmt. Vielleicht schläft er.“

Wer schläft? Hellwach ist er.

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