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Die Hinrichtung

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An einem unwirklichen, grauen Herbsttag, alles scheint den Augen und Händen entglitten, Wolken verhängen den Himmel, Wolken wie eine Abschirmung, grau, grau in grau über dem Land und vor dem Tag. Allerseelen ist nicht weit. Das schwarzdorre Geäst der geschundenen Bäume regt sich unter keinem Windhauch, Bewegungslosigkeit, Starre ringsum, nur mit ängstlichen, leisen Schritten wagt man zu gehen, immer wieder haltmachend, sich umsehend, ob nicht eine Gefahr hinter einem herfolgt. An einem solchen Tag vor Jahren.

Die Straße, die aus der Stadt herführte, hart am Lager vorbei in die Landschaft aus Hügel, Bächen, Wiesen und Gräben einfallend, eilte in die Ferne, Wäldern entgegen, die wie schütteres Haar eines alten Mannes Kopf 'den Horizont absäumten. Das Gesicht des alten Mannes war zerfurcht, rissig und grau.

Ein grauer Tag in grauem Land unter grauem Himmel. Wir alle wußten, daß der Pole hängen sollte, weil er einen Fluchtversuch unternommen hatte. Er selbst war der einzige, der nichts wußte. Denn sonst hätte er vielleicht trotz seines erschöpften Zustandes — sie hatten ihn in der Nacht eine lange Zeit verhört — etwas unternommen, sich zu retten, irgend etwas, was sinnlos gewesen wäre. So lag er in seinem Bett, teilnahmslos, und wir wußten Bescheid, und wir schwiegen. Mit Absicht, denn es war nichts mehr für ihn zu tun.

Ich lag damals auch in der Krankenbaracke, und an jenem Tag war ich frühmorgens in der Kleiderkammer gewesen, ein Paar Pantoffel wegen, die ich durchgelaufen hatte, und dort hatte ich mit dem Kapo, einem Rotspanienkämpfer, gesprochen, der immer gut unterrichtet war. Er erzählte mir, daß ein General zu Besuch erwartet würde, bei welcher Gelegenheit der Pole gehängt werden sollte. Und ein anderer dazu, wußte er. Wer aber, das wußte auch er nicht. Es war vielleicht auch nur ein Gerücht, jagte er.

Ich zog mit meinen eingetauschten Pantoffeln ab und kehrte in die Krankenstube und in mein Bett zurück. Gegen Mittag erschien der Sanitäter und fragte nach der Nummer 12202, das war meine. Ich mußte mit ihm kommen. Er telephönierte mit der Verwaltung und fragte mich nach Geburtsdaten und dergleichen aus. Ich stand am Schreibtisch und sah auf ein Stück Papier herab, das da lag, und auf dem zwei Nummern standen: die eine war meine, die andere 12395 ... ich weiß es noch ganz genau. Als der Sanitäter mit dem Telephonieren fertig war, sagte er mir, ich solle mich am Nachmittag bereithalten. Wozu, wußte er nicht. Bereithalten, das konnte heißen: Vernehmung, Postempfang, Rapport, konnte Versetzung heißen, Strafarbeit, Bunker, Moor, konnte auch ein Irrtum sein... Bereithalten hieß, sich dem Schicksal bereithalten. Aber ich war ohne Angst.

Angst bekam ich erst später, als ich von dem Gefühl des Mitleids und einer unentrinnbaren, erschauernden Neugier getrieben, wieder einmal an dem Bett des Polen vorbeiging, wie schon ein paarmal an dem Tag, und dabei die Nummer auf dem Krankenblatt, das dort hing, las ... 12395 ...

Aber ich bekam auch jetzt nicht sogleich Angst, eine Weile verstrich, ehe ich begriff: ich war der andere, der andere, der wie der Pole* hängen sollte. Und dann hatte ich auch nur einen Augenblick lang Angst, und ich weiß nieht einmal sicher, ob es Angst war. Ich legte mich in mein Bett zurück und starrte die weißgetünchte Decke an, die jetzt orangefarben war, dann wurde sie glührot, dann blau, zuletzt schwarz. Schwindel und Ohrensausen befielen mich. Wieder nur ein paar Sekunden lang. Dann wurde ich ruhig. Ruhiger als je zuvor. Ich dachte daran, daß wir den Galgen, der auf dem Appellplatz aufgerichtet war, mit derselben Gleichgültigkeit ansahen wie den verhangenen Himmel, wie das teigige Brot am Morgen, wie die grünlichgrauen Leichen in den Kistensärgen im Schuppen hinter der Baracke.

In der Folgezeit hörte ich wie stets meinem Bettnachbarn, einem Franzosen aus Lyon, zu, der mir seine alte Klage vorbrachte: Er hatte noch immer keine Nachricht von seiner Susanne erhalten. Ich fand Zeit, ihn zu trösten, wie ich es gewohnt war, und es war nicht anders als sonst, vielleicht waren die Dinge ein wenig unwirklicher, weggerückt, aber es waren die gleichen Dinge, und ich lag da und sprach mit dem Franzosen neben mir.

Später stand ich auf und schritt langsam durch die fünf Stuben der Baracke, die hintereinander angelegt waren, so daß man durch die Türen hätte Kegelschieben können... wie mir einfiel, nachdem ich fünfundfünfzig Schritte gezählt hatte Darauf sah ich einige Zeit aus dem Fenster auf die Schlote des Treibstoffwerkes, an das das Lager arbeitstechnisch angeschlossen war. Ich sah Halden. Bahndämme, ein Gedränge von Straßen und Plätzen, Bretterbuden, die um den Fabrikskomplex rundum angelegt wären. Und Beten und Beichten, Tod und Gott? Etwas unterschied mich von früher: ich war noch müder geworden, ganz müde, ich glich einem Spielzeug, das auseinandergenommen worden war. zu nichts mehr nütze. Ich weiß nicht, ob ich einen Fluchtweg, der sich mir etwa plötzlich aufgetan hätte, benutzt und zu entkommen versucht haben würde... ich weiß es nicht...

Dann-holten sie den Polen. Zum Unterschied zu früheren Exekutionen hatten wir strengsten Befehl, die Baracken nicht zu verlassen. Wohl um dem General das Schauspiel nicht zu beeinträchtigen. Und ich wartete. Die Zeit verging schleppend. Nach einer Stunde ging der Ruf nach mir durch die Baracke. Ich stand schnell, bereit, auf und trat hinaus. Der Sanitäter begleitete mich über den Appellplatz. Der Galgen lehnte hochaufgerichtet am niederen Himmel. Ich sah nicht hin. Wir traten in eine Verwaltungsbaracke ein. Ich mußte warten. Der Sanitäter ging wieder. ,

Durch ein Fenster ging mein Blick auf das Lagertor, durch das eine Autokolonne ausbog, der Posten grüßte, die Schranke ging zu. Die Wagen fuhren in schnellem Tempo über die Straße, stadtwärts, und Staub wehte hinter ihnen auf oder es war der niedere Himmel, der gebeugt über der Straße hing. Da wurde mein Name gerufen.

Jetzt erschrak ich. Die Knie zitterten mir und mein Blick blieb weg. „Blöde Sau“, hörte ich eine Stimme, dann sauste ein Hieb quer über mein Gesicht. Das brachte mich zu mir. Ich saß auf dem Boden, ein Aufseher stand vor mir und lachte aus vollem Halse. „Du fällst um wie ein Sack,. wenn man dich anrührt. Wohl zuviel gebummelt gestern, was? Weibergeschichten, was?“

Er lachte und stieß mich in die Schreibstube hinein. Ich mußte an der Wand stehen bleiben, er trat zum Schreibtisch und nahm ein Papier auf. „Daß du, Schwein, uns Umstände machst!“ schimpfte er. „Da ist ein Brief. Ich denke von deiner Mutter. Schöne Grüße schickt sie dir — es steht noch mehr solcher Blödsinn drin. Aber du weißt ja sicher, was dir deine Mutter schreiben kann, was? Ist also überflüssig, daß du es liest. Kann man sich schenken, was?“ Er zerriß den Brief und warf ihn in den Ofen. Dann jagte er mich hinaus. Ich saß auf meinem Bett und versuchte, das rinnende Blut in meinem Gesicht zu stillen. Dabei lachte ich in einemfort leise vor mich hin, redete zwischendurch auf den Franzosen aus Lyon ein, d“er mir half, und von Zeit zu Zeit stieß ich kleine, fröhliche Jauchzer aus, wie ein Kind, das glücklich ist.

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