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Die Id een welt Mahatma Gandhis

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Anfangs der dreißiger Jahre, als der von Gandhi geführte Kampf um die indische Unabhängigkeit seinen Höhepunkt erreichte, fand in Wien ein von sozialistischer Seite veranstalteter Vortragsabend über Indien und Gandhi statt. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob Gandhi nach marxistischer Terminologie als „Revolutionär” oder als „Reaktionär” zu bezeichnen sei. Für beide Thesen wurden Argumente ins Treffen geführt, so daß am Ende der Eindruck haftenblieb, daß eine so eigenartige, aus einer ganz anderen Welt stammende Per-. sönlichkeit sich mit den aus der historischen Situation des europäischen neunzehnten Jahrhunderts abstrahierten Kategorien und Etikettierungen eben nicht erfassen läßt. Dasselbe Bild aber zeigt sich heute wieder in den Nachrufen nach dem die ganze Welt in Trauer und Sorge stürzenden Märryrertod des großen indischen Volksführers. Wenn etwa ein linksradikales Blatt Gandhi, den unermüdlichen Anwalt der Schwachen und Wehrlosen, den moralischen Überwinder des britischen Imperialismus, einfach als „Vertreter der indischen Bourgeoisie” bezeichnet, dessen Versuche, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen”, die „Entfaltung einer allindischen breiten nationalen Bewegung hinderten und den britischen Imperialisten halfen,’ ihre Herrschaft über das Land zu erhalten”, so wird auch hier wieder die für den Europäer fast unübersteigbare Schwierigkeit deutlich, von unserem Denken her Gandhi und seine Ideenwelt zu verstehen — ein Umstand, der viel zu seinem Erfolg im Ringen mit den britischen Staatsmännern beigetragen hat. Wer sich in seine Schriften vertieft, wer seine Erinnerungen liest, der ist immer wieder erstaunt, wie wenig Gandhi von dem spricht, was ihn in der Weltöffentlichkeit berühmt gemacht hat, von seinem Kampf um die Unabhängigkeit Indiens, und wie sehr religiöse, philosophische und sittliche Probleme sein Denken beherrschten. Ein Politiker oder Volksführer im europäischen Sinn ist der Mann, dessen wirksamste politische Waffe bis zuletzt sein persönliches Fasten war, bestimmt nie gewesen. Sein Leben und seine Lehre sind daher nur gegen den Hintergrund der religiösen und philosophischen Traditionen Indiens zu verstehen und vor allem in seinem Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit haben die Ideen der altindischen Religion und Philosophie gleichsam eine moderne Reinkamation erlebt. So erscheint Gandhi vielfach wie ein Buddha des zwanzigsten Jahrhunderts, ein in unserem weltpolitischen Zeitalter eben fast zwangsläufig in die Weltpolitik verschlagener indischer Weiser und Religionsstifter.

Doch auch diese Formel, die sein Wesen allein aus der Tradition seines Volkes zu erklären sucht, ist zu eng und daher im Grunde irreführend. Denn sein Entwicklungsgang, der Gandhi schon in seiner Jugend nach England und dabei überaus nahe an die Europäisierung heranführte , hat ihm auch die geistige Bekanntschaft’ mit jenem Mann vermittelt, dessen Ideen sein ganzes weiteres Denken entscheidend beeinflussen sollten: mit dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau, dem jüngeren Freund und Hausgenossen von Emerson. Thoreau, der von 1845 bis 1847 zwei Jahre in einer selbstgebauten Hütte am Waiden Pond lebte, und dessen Buch über sein Leben in der Wildnis „Waiden” ein Klassiker der amerikanischen Literatur geworden ist, war ein überzeugter Pazifist und eine Art philosophischer Anarchist, der von dem Satz, daß „die Regierung die beste ist, die am wenigsten regiert”, schließlich zu der Überzeugung gelangte, daß „die Regierung die beste ist, die überhaupt nicht regiert”. Als Protest gegen den seiner Meinung nach ungerechten mexikanischen Krieg verweigerte er die Steuerzahlung, mußte dafür eine Nacht im Ortsgefängni zubringen und verfaßte darauf 1849 jene Schrift über die Pflicht zum „Bürgerlichen Ungehorsam” („Civil Disobedience”), die nicht nur den Namen, sondern auch die wesentlichsten Grundideen zu Gandhis Un- gehorsamsfeldzug des passiven Widerstandes liefern sollte. Gewiß war Thorean kein Politiker, auch nicht eigentlich ein politischer Denker, sondern ein Künstler und Natur- philcxsoph, in dem sich das von Emerson in der Nachfolge Goethes entwickelte „transzen- dentalistische” Persönlichkeitsideal mit einem starken, natumahen Unabhängigkeitswillen verband, dessen tiefste Wurzeln wohl in dem Erlebnis von der Unberührtheit und Weiträumigkeit der amerikanischen Wildnis zu suchen sind. Er verlangte vom Staat, daß er das Individuum als eine höhere und unabhängige Macht anerkenne, von der der Staat seine eigene Macht und Autorität nur ableite, und er hat mit seinem anarchistischen Individualismus gerade auf jene Menschen einen besonderen Einfluß ausgeübt, die wie Tolstoi und Gandhi dem im Abendland ent. wickelten Machtbegriff ablehnend gegenüberstanden. Neben den politischen Ideen hat Gandhi vor allem die ökonomischen Gedankengänge Thoreaus, sein Lob des freien, die Unabhängigkeit des Individuums gewähr, leistenden Handwerks übernommen, und wenn Thoreau, der sich selbst als „guten Nachbarn, doch schlechten Untertan” bezeichnete, das Recht der Gemeinschaft auf gegenseitige Nachbarschaftshilfe durchaus aner. kannte und sich nur gegen das unpersönliche Wirken einer machtgierigen Staatsmaschine auflehnte, so finden wir dieselben Gedanken auch bei seinem indischen Gefolgsmann.

Die von Gandhi geführte Bewegung gehört doch in den großen Ström des farbigen Nationalismus, der sich unter dem Einfluß und zugleich am Gegensatz zum europäischen Nationalismus entzündete. Vor allem zur Zeit der Londoner Konferenz von 1931 spielte der nationale Gedanke in Gandhis Vorstellungswelt eine überragende Rolle. In den letzten Jahren allerdings hat er deutlicher als die anderen indischen Führer mit der tiefen Einsicht des Weisen die Gefahren eines hemmungslosen Aufpeitschens der nationalen Leidenschaften erkannt und das moralische Gewicht seiner Persönlichkeit immer wieder zugunsten einer Versöhnung der nationalen Gegensätze in die Waagschale geworfen. So kam es, daß er, der Führer im nationalen Freiheitskampf, zuletzt den extremen Nationalisten im Wege stand und dem Mordanschlag eines nationalistischen Fanatikers zum Opfer fiel.

Zu den ideellen Einflüssen, die sich tejls aus dem Erbe der indischen Tradition, teils aus der Begegnung mit der westlichen Geisteswelt herleiten lassen, kommt als dritte bestimmende Komponente der Einfluß seiner frühen Erlebnisse, vor allem in Südafrika, wo der Eindruck der sozialen Mißachtung seiner indischen Landsleute Mitleid, Hilfsbereitschaft und nationales Solidaritätsgefübl wachrief, während seine Erlebnisse als Krankenpfleger im Burenkrieg und im Zuluaufstand die Abscheu gegen Krieg und Gewalt noch verstärkt haben. Es ist doch die schicksalhafte Tragik dieses der reinen Gewaltlosigkeit verpflichteten Lebens gewesen, daß es immer wieder der Gewalt in ihrer brutalsten mörderischesten Form begegnen mußte. Sein erstes politisches Auftreten in Indien im Jahre 1919 rief das Blutbad von Amritsar hervor, als das von den Soldaten des Generals Dyer auf waffenlose Demonstranten er- öffnete Maschinengewehrfeuer das Opfer von fast 2000 Toten und Verwundeten forderte, die Erreichung seines Lebensziels, die Unabhängigkeit Indiens, brachte eine Woge blutigster Greuel und noch sein Märtyrertod wurde der Anlaß zu blutigen Unruhen.

Indisches Erbe, abendländische Gedanken und persönliche Erlebnisse sind in der überragenden Gestalt des indischen Weisen durch die Kraft einer sittlichen Persönlichkeit zur Einheit zusammengefaßt worden. Über alle standortbedingten Unterschiede hinweg war er uns verbunden als ein Mensch unserer Zeit, als ein Mensch, der im Grunde immer wieder vor denselben Fragen stand, die sich auch vor uns auftürmen. Er hat sie zu lösen versucht nach bestem Wissen und Gewissen und ist sich dabei stets der unvermeidlichen Fehler und Sünden alles menschlichen Handelns bewußt geblieben. Denn er war nicht nur ein großer und weiser, sondern vor allem ein guter Mensch.

Siehe „Furche” Nr. 37/1947.

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