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Die Iieben Verwandten

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Endlich verfrachtete uns Frau Kommerzialrat in den Wagen und blieb mit rotem Gesicht davor stehen. „Also, liebe Kinder! Ihr fahrt zunächst unbedingt zu Koljas Verwandten und erst nachher besucht ihr die Ge'neralin und die Baronin Schepping“, wiederholte zum zehnten Male meine Schwiegermutter. „Und vergeßt nicht, den Damen meine besten Grüße zu übermitteln und mich damit zu entschuldigen, daß ich wieder einmal an Migräne leide. Oh, wie ihr mich anglotzt! Man sfeht euch an, daß ihr erst seit drei Tagen verheiratet seid!“

Ich war froh, daß sie endlich ins Haus ging und der Kutscher die Knute hob.

„Meine Mutter hält alle für vergeßlich, weil sie selber so ist“, sagte meine Frau und küßte mich, um mich für das Erduldete zu entschädigen. „Ach, diese schrecklichen hochzeitlichen Besuche“, fuhr sie fort, „man wird überall beguckt, ' abgeschätzt und bestaunt. Ab und zu muß man sogar Taktlosigkeiten über sich ergehen lassen, ohne sich wehren zu können.“

Das Gesicht meiner Frau, so schien es mir, nahm trotzdem einen triumphalen Ausdruck an, während ich den Kopf hängen lief und in Melancholie verfiel. Kein Wunder, daß sie stolz war. Ihr Notizbuch war mit lauter vornehmen Namen bekritzelt. Da war die Baronin Schepping, die Generalin Marschalowa, Graf Teufelburg usw. Was mich betraf, so führte ich sie zu meinem Onkel, den Leihhausverwalter Jegor Jegorowitsch Puppkin, dann zu einer Tante, deren Mann sich in Trunkenheit zu erhängen versuchte, allesamt Säufer, von denen keiner je in besserer Gesellschaft zugelassen würde.

Um die Schande zu vermeiden, hätte ich lügen müssen, daß ich keine Verwandten hätte. Aber ich tat es nicht, aus Angst, daß es einmal herauskommen würde. Also fuhren wir zu Jegor Jegorowitsch Puppkin, dem ich eigentlich vieles zu verdanken hatte. Er hatte mich unterstützt, als ich mein Doktorat machen wollte.

„Onkel Jegor ist ein Mann aus dem vorigen Jahrhundert. Er gehört noch zu dem Stamm der — Bojaren, also ein seltsamer Mensch. Du wirst es gleich sehen, Sonja!“

Der Kutscher machte Halt vor einem dreieckigen, etwas vernachlässigten Haus auf der Moskowskaja-Straße 33. Sogleich erscholl im Vorzimmer Hundegebell und hinterher ein dünnes „Halts Maul, du Rindvieh!“ Die Tür wurde aufgerissen. Es war Olga, meine kleine Kusine, in Mutters unsauberer Bluse und mit einem Rußfleck auf der Nase, die uns laut begrüßte. Ich tat so, als hätte ich sie niemals in meinem Leben gesehen, führte meine Frau zum Kleiderhaken, auf dem neben Onkels Fuchspelz eine alte Hose und ein gestärktes Kleid baumelten. Während ich meiner Frau aus dem Pelzmantel half, blickte ich verstohlen in den Saal. Dort, beim Tisch, saß mein Onkel in einem weiten Hausrock und mit Hausschuhen über den bloßen Füßen. Mit verkniffenen Augen mühte er sich, mit einem Draht Kirschen aus der Wodkaflasche herauszuholen.

Wir traten ein. Als er uns erblickte, fiel ihm die Karaffe aus der Hand. „Oh... ach!“ Er sprang beschämt auf, hob die Enden seines Schlafrockes auf und verließ eilig das Zimmer.

„Ich komme gleich, wartet ein wenig“, rief er, vor freudiger Ueberraschung fast mit erstickter Stimme.

„Nummer eins, Liebling“, lachte ich, brennend vor Scham, und wagte kaum meiner Frau ins Gesicht zu blicken. „Ist er nicht komisch, der Herr Puppkin? Du mußt ihm aber aufmerksam zuhören, wenn er etwas erzählt. Ein seltsamer Mensch! Und guck dir die Möbel an. Der Tisch steht auf drei Füßen, das Klavier hat wohl einen Schlag erlitten. Und diese Uhr mit dem altersschwachen Kuckuck! Ha-ha-ha!“

Meine Frau blieb aber ernst und betrachtete aufmerksam verschiedene Photographien an der Wand. „Wer ist dieser Mann?“ fragte sie interessiert.

„Dieser da? Das ist der Vikar Serann zur Zeit, als er noch Inspektor im Seminar war, allerdings eine prominente Persönlichkeit, ein Vetter oder so was... Ich... ich muß mich schneuzen, entschuldige!“ Nichts warf mich so zu Boden, wie der Geruch von Wodka und der sauren Kirschen, die auf dem Teppich lagen. Zu meiner Rettung erschien Mitja, mein kleiner Vetter, mit großen abstehenden Ohren und einem Wischlappen in der Hand. Er lächelte uns frech an, sammelte die Scherben und die Kirschen. Dann wischte er den Staub von dem Klavier und den Sesseln und verließ grinsend das Zimmer.

„Da bin ich, meine Lieben“, meldete sich der Onkel, während er seine Weste zu Ende knöpfte. „Sehr erfreut, euch zu sehen, überaus! Setzt euch, aber nicht auf den Diwan. Der hintere Fuß ist entzwei... Du siehst prachtvoll aus, Kolja. Und diese junge Frau ... Na, so was Liebes!.

Schweigen trat ein. Während sich Puppkin zärtlich über die Knie strich, gab ich mir Mühe, meine Frau nicht anzublicken.

„So ist's also“, fing der Onkel an, „du hast dich verheiratet? Recht so, mein Junge! Einerseits ist es wundervoll, ein junges Wesen neben sich zu haben, es zu lieben und manchmal zu tadeln, wenn etwas schief geht. Ja, ja, die Romantik heutzutage! Anderseits, wenn Kinder kommen, ist man Vater, dann Großvater, und schließlich eines Tages ein alter Mann. Nitschewo! Auch das muß sein!“ Puppkin winkte resigniert mit der Hand ab.

„Wie geht es mit Ihrer Gesundheit^Onkel Jegor?“ fragte ich, um rasch das Thema zu wechseln.

„Schlecht, Brüderchen! Neulich mußte ich den ganzen Tag im Bett liegen bleiben, £in Druck in der Brust. Einmal Hitzewelle, dann wieder Frost. Der Arzt verbietet mir zu trinken, weniger essen, mehr in der Luft und in Bewegung bleiben... Ich soll Wodka und Likörchen aufgeben? Nie und niemals, hab ich ihm gesagt. Na. da hättest du seine Fratze sehen sollen. Unbezahlbar!“ Puppkin seufzte. „Meine Verdauung, das ist wirklich ein Uebel! Wüßtest du vielleicht einen Rat...?“

Mir wurde kalt und heiß vor Scham. Ich erhob mich. „Sonja“, sagte ich zu meiner Frau, „wir müssen gehen. Wir haben noch eine Menge vor!“

„Wohin denn, um Himmels willen?“ rief Puppkin verblüfft. „Gleich kommt die Tante, um den Tisch zu decken. Ihr sollt unseren Slibowitz probieren. Und Geselchtes ist auch da. Es gibt auch Börscht und Pyroschkil Es wird sozusagen ein russisches Mahl sein, und ihr wollt fort? Warum seid ihr so unnahbar? Besonders du, Kolja. Seit du Doktor bist, bist du nicht mehr wiederzuerkennen!“

Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir zum Wagen kamen, ich weiß nur, daß ich mich vernichtet, bespuckt und erniedrigt fühlte. In diesem Augenblick hätte ich 'zehn Jahre meines Lebens hergegeben, um einen General oder einen Diplomaten zu Verwandten zu haben ...

„Verzeih mir“, wandte ich mich zu meiner Frau. „Ich hoffte, dir Gelegenheit zu geben, einen originellen Typ zu beobachten. Es ist nicht meine Schuld, daß er sich so fad und geschmacklos aufführte!“ Nun wagte ich Sonja endlich anzusehen. Und was ich sah, erschütterte mich bis in die tiefste Seele. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, auf den Wangen brannte eine Röte, die sie noch verschönte, mir aber einen Schrecken einjagte.

Alles ist aus, dachte ich. Sie wird mich verlassen. „Ich kann nichts dafür, Sonitschka“, begann ich zu jammern. „Es ist grausam und ungerecht von dir, mich zu verachten. Schließlich habe ich Puppkin mir nicht zum Onkel ausgesucht!“

„Ach, Liebster“, seufzte meine Frau, „wenn dir schon-, dein einfacher, gutmütiger Onkel nicht gefällt, was wirst du erst sagen, wenn du meine Verwandten und Freunde kennenlernst? Wir fahren jetzt zu Baronin Schepping. Sie wird dich süß anlächeln und dir gleich erzählen, daß Mama ihre Gesellschafterin war, daß sie sie mit einem reichen verwitweten Kommerzialrat verheiratet hat, daß sie jetzt verarmt ist und wir beide undankbar und nicht hilfsbereit seien. Aber du darfst ihr nichts glauben. Diese Unverschämte liebt es zu lügen, ich schwöre dir, daß wir ihr zu jedem Weihnachtsfest zehn Kilo Zucker und ein Kilo Tee schicken und zum Geburtstag jedesmal ein paar Schuhe oder einen neuen Hut.“

„Du machst wohl Witze, Sonitschka?“ rief ich in höchster Verblüffung, fühlte aber, wie das schwere Blei aus meinem Körper schwand.

„Und wenn du mit der Generalin sprichst, lach sie nicht aus, Kolja“, flehte meine Frau, „sie ist sehr unglücklich/ Wenn sie stets weint und stottert, so ist es deshalb, weil sie der Graf Teufelburg ausplündert, Sie wird klagen und dich wahrscheinlich gleich anpumpen wollen. Du aber ... hör nur, gib ihr nichts... Wenn sie es wenigstens für sich brauchen würde, dann ja. Aber sie gibt alles wieder dem Grafen.'“

„Mütterchen, Engelchen ... Sumbumbum-tschik mein! Das ist die schönste Ueberraschung meines Lebens!“ Ich küßte meine Frau innig, hielt sie fest umschlungen und rief dem Kutscher so laut ich nur konnte zu:

„Iwan, umkehren, nach Moskowskaja, zu Jegor Jegorowitsch Puppkin! Aber rasch, Brüderchen, sonst versäumen wir den guten Mittagstisch!“

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