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Die im Elend leben

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Es erübrigt sich, in diesem Bericht Statistiken anzuführen. Ist es doch allgemein bekannt, daß der größte Teil der Bevölkerung Lateinamerikas unterernährt ist, daß Erwachsene und Kinder Hungers sterben, daß diese Menschen in Krankheit und unvorstellbarem Elend leben. Allein im Nordosten Brasiliens leben von den 22 Millionen Einwohnern über 20 Millionen in größter Not, ja auf den Zuckerplantagen werden die Landarbeiter nicht selten wie Sklaven in Abhängigkeit von ihren Herren gehalten. Immer wieder kommt es vor, daß Arbeiter aus ihren Reihen wegen geringfügiger Vergehen — wohl zur Abschreckung — niedergeschossen werden.

So sahen wir zum Beispiel in Lima, Peru, Tausende von Indianern, die auf den Müllhalden der Stadt siedeln, in unbeschreiblichem Gestank, und dort die Schweine züchten, die das Fleisch für die Reichen liefern. Kinder, Schweine und Hunde hausen dort in Schmutz und Elend. In den meisten Großstädten ist es ähnlich. Wie ist es zu erklären, daß die Menschen noch nicht revoltiert haben? Das Unrecht, das ihnen angetan wird, übertrifft jedes Maß. Aber sie sind wohl wie Kinder, die nicht wissen, wie sie für ihre Rechte kämpfen sollen. Ihre Geduld übersteigt alles für den Europäer Vorstellbare. Und im Grunde ihres Herzens lieben sie immer noch die Kirche. Doch sie sind enttäuscht, und in ihrer Enttäuschung haben sie die kilometerweit im Jeep fahren, um die Kapellen dier Elendsviertel und Missionen zu besuchen, sondern die anderen...“ Jetzt, am Ende unserer Reise, haben wir erst ganz verstanden, was sie uns damit sagen wollte. Ein junger Brasilianer, den wir kürzlich bei einer Jugendveranstaltung in Moskau, der wir als Beobachter beiwohnten, kennenlernten, löste die Frage für uns. Wir hatten ihn im Gespräch gefragt, ob er noch Katholik sei. „Ja“, anwortete er, „ich glaube, daß der Sozialismus wirtschaftlich die Lösung für unser Land ist, aber ich bringe es nicht über mich, aus der Kirche auszutreten, denn ich kenne einen Priester in meiner Heimat Brasilien, der mit den Armen lebt, sich für sie opfert und für sie sterben wird. Er tut etwas, was kein anderer Mensch tut — auch kein Kommunist. Er ist Christ.“

begonnen, sich von ihr abzuwenden und sich jenen zuzukehren, die ihnen Hoffnung machen. Wie überall in der Welt ist die Hoffnung auch hier essentiell mit dem menschlichen Leben verbunden. Sie beginnet zu hoffen, daß der Sozialismus oder Kommunismus sie aus der Situation eines unterentwickelten Volkes zu einem menschenwürdigen Dasein führen wird. Das Christentum, auf das sie vertrauten, hat diese Hoffnung nicht erfüllt. Wer kann es ihnen verargen, daß sie Erlösung aus ihrem Elend suchen? Für sie gab es nie „Freiheit“ oder „Demokratie“ — Politiker besuchen ihre Stadtviertel nur zur Wahlzeit mit Geschenken und Versprechungen, um ihre Stimmen zu erhalten, und „Padres“ zu ihrer Betreuung gibt es nur allzu wenige.

Mystik und Marxismus

Würden die—Christen diesen Menschen nur einr“Venig Hoffnung bringen, „Hoffnung“ in Form von realistischen Handlungen, die das Leben aufbauen, würden sie nur einen Schritt zu diesen Menschen tun, viele wären auch heute noch zu gerne bereit, einen christlichen Weg der Entwicklung und Menschwerdung, des Aufstiegs zu gehen. Tun aber wir Christen diesen Schritt nicht, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis die Geduld dieser Massen erschöpft sein und das Land in den Flammen der Revolution und des Krieges aufgehen wird. Als wir Paranä, das

Kaffeeland, besuchten, wurde es uns mit Schrecken bewußt, wie leicht es wäre, in den unermeßlichen Landgebieten die wenigen Verwalter und Aufsichtspersonen zu beseitigen ... und einen Bürgerkrieg zu entfachen, der nur noch größeres Elend für die Armen bringen würde. Das darf nicht geschehen - Christus darf nicht weiterleiden in dieser Bevölkerung. Wir können und müssen eine Lösung herbeiführen.

Indem wir diese Menschen dem Elend überlassen, fügen wir nicht nur Gott in ihnen Leid zu, wir berauben die Christenheit auch des mystischen Reichtums, der vor allem ift der indianischen Bevölkerung ungenützt ruht. Ein Pater, der in Lima seit mehreren Jahren in den „barriadas“ arbeitet, erzählte uns: „Diese jungen Menschen sind noch nicht in der Lage, abstrakt oder streng logisch zu denken, aber sie lieben es über alles, aus dem Evangelium vorzulesen und lange darüber zu meditieren. Dann erzählen sie mir: ,Gott sprach zu mir in mein linkes Ohr'...[“

Liegt nicht hier eine wertvolle Quelle, aus der wir geistige Kräfte schöpfen können, deren unsere moderne, technisierte Welt so sehr bedarf? Besteht nicht die Gefahr, daß diese Mystik marxistisch wird?

Der Ausweg

Was tun? Will man hier einen Ausweg finden, so ist es nicht möglich, mit einer Lösung von heute auf morgen zu rechnen. Das Problem ist zu unermeßlich. Es muß von dem Aspekt aus ins Auge gefaßt werden, menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen; und dies in einer Form, die den Armen die Möglichkeit bietet, sich dieses menschenwürdige Dasein selbst zu erarbeiten. Sie dazu erziehen, selbständige und verantwortungsbewußte Menschen zu werden. Das verlangt eine radikale Änderung des herkömmlichen Verhaltens der führenden Gesellschaftsschichte diesen Menschen gegenüber — eine Wende von Verachtung zu Achtung und Liebe; Vertrauen auf das Menschliche und Göttliche in den Armen muß in den Herzen der Verantwortlichen entwickelt werden. Nur so gelangt der Christ zu der essentiellen Unterscheidung von den Materialisten westlicher und östlicher Prägung — diese glauben nicht an den Menschen, sie benützen ihn, mißbrauchen ihn. Der Kommunist glaubt an die revolutionäre Kraft des Intellektuellen, aber er rechnet mit der

Unzufriedenheit der Massen, um die Revolution durchzuführen. Je größer das Elend, desto besser, desto williger das Werkzeug. Der unchristliche Kapitalist rechnet mit der Passivität und Primitivität der Massen, die er nicht zu ändern bemüht ist, um noch bis zum letztmöglichen Augenblick dieses Menschenmaterial auszunützen.

Aufstand der Jugend

Nur der Christ kann diese Menschen wahrhaft lieben. Nur er kann ihnen das (materielle und geistige) Leben geben, das sie erwarten. Wir müssen alles daransetzen, um diese Verantwortung zur Realität zu machen. Die Uberwindung des egozentrischen Denkens und Handelns und die Hinwendung zu wahrhaft christlichen Initiativen wird den verantwortlichen Gläubigen den Weg zur Lösung weisen.

Die 19jährige Tochter eines der größten und zugleich sozial fortschrittlichsten Grundbesitzers von Uruguay sagte zu ihrer Mutter im Anschluß an eine Aussprache innerhalb eines Elternkreises, zu der auch die Jugend eingeladen war: „Du bist weiter in deinem Denken, als ich dachte, wenn du fortfährst, Fortschritte zu machen, wirst du vielleicht in drei Jahren verstehen, was ich selbst im Hinblick auf unsere Gesellschaftsordnung erkannt habe...“

„Wir können das indifferente und egoistische Leben unserer Eltern und ihrer Generation nicht ertragen, noch ihr sogenanntes Christentum. Wir bereiten uns darauf vor, als Ärzte, Sozialarbeiter und Rechtsanwälte in einer Gemeinschaft in den Elendsvierteln unserer Stadt zu leben und unser Wissen und unsere Kräfte den Armen zur Verfügung zu stellen. Vielleicht werden wir dann wirklichem Christsein näherkommen ...“, erklärte uns eine Gruppe von Studenten in Montevideo.

Brücken abbrechen

„Wenn man einmal die Klasse der Besitzenden, aus der ich stamme, in ihrer ganzen Korruption und Verdorbenheit durchschaut hat. so kann man nur mehr die Brücken abbrechen und alles versuchen, um dieses Unrecht zu überwinden. Selbst wenn dieser Kampf uns im Laufe einer Revolution auf die Seite der Marxisten führen sollte.“ So ein junger Christ in Kolumbien.

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