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Die junge Republik

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Vierzig Jahre ist kein „Alter“ für einen Staat, für ein Volk, wenn man mit ihnen die tausendjährigen Kulturen und Volkskörper Asiens, die in Jahrhunderten gewachsenen politischen Traditionen Westeuropas vergleicht. Wie soll im Angesicht dieser Mächte und Ueber-lieferungen ein so „junges Ding“, wie eben der neue Staat Oesterreich, bestehen?

Jeder von uns, der diese vierzig Jahre Oesterreich 1918 bis 1958 miterlebt hat, weiß aber: Wie schwer belastet sind bereits diese Jahre einer jungen Republik gewesen. Belastet mit Hypotheken, die keineswegs abgetragen wurden, obwohl die Konjunktur der Wirtschaft und der gehobene Lebensstandard der letzten Jahre bei vielen Menschen das Wissen verdrängt und da Gewissen eingeschläfert habe.

Es hat nämlich nur dann einen guten, politischen Sinn, an die vergangenen vierzig Jähre der Republik Oesterreich heute zu erinnern, wenn wir uns, alle, bewußt'sind: Wir sind noch nicht über den Berg.

Dünn ist der Lebensfaden, an dem die Freiheit, die Demokratie hängen. Dünn sind die Fäden zur Vergangenheit, zum großen Zusammenhang des politischen und gesellschaftlichen Lebens in der Völkergemeinschaft Alt-Oesterreichs. Dünn, sehr dünn sind die Fäden, die heute im guten Sinn der Zukunft zugesponnen werden: der Föderation der freien Völker in Europa zu. Der „gelernte Oesterreicher“ (der Begriff stammt von Karl Kraus) hat die schöne Chance, sein in diesen letzten Jahren gewachsenes Selbstbewußtsein vor allem an einem solchen Gedenktag dazu zu nutzen, sich nichts „vorzumachen“. Jeder Scheinpatriotismus schadet gesundem politischem Selbstbewußtsein. Jeder falsche, konjunkturelle „Optimismus“ schadet ebenso wie ein hinterhältiger Pessimismus, da beide sich weigern, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen.

Mit dem 12. November 1918 begann eine graue Wirklichkeit. Daß in ihr auch die Samen für vieles Gute, Zukunftsträchtige enthalten waren, kam in den folgenden Jahren und Jahrzehnten manchen Verantwortlichen und den Massen kaum zu Bewußtsein. Wenn man, im Marsch auf 1938, auf den Zusammenbruch zu, bitter und böse später das Wort vom „Staat wider Willen“ geprägt hat, als eine falsche Münze, die doch von vielen in Zahlung genommen wurde, so hat doch dieses böse Wort einen harten Sinn. Die Politiker, Parteien und Parteimänner im Nebel um den 12. November 1918 besaßen, von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen, weder ein klares, überzeugungsstarkes Bild von Sinn und Weg des jungen Staates in die Zukunft hinein, noch besaßen sie ein Bild vom Zusammenhang dieser Neugründung mit der Vergangenheit. Die Tradition, die Kontinuität wurde — und wird - preisgegeben;, und keineswegs nur auf linker Seite. Diese Preisgabe der politischen Tradition war und ist durch nichts zu ersetzen, gerade auch nicht durch Sentimentalität und politische Privatkulte. .

Ohne verpflichtende Vergangenheit begann man auf sehr, gegensätzlichen Wegen in eine Zukunft zu gehen, an die man ebensowenig zu glauben vermochte wie an die nahe Vergangenheit, die man zu verdrängen suchte. Der Sanierung der Währung, 1 9 24, entsprach keine „Sanierung der Seelen“, wie sie Seipel selbst bereits forderte, und entsprach vor allem keine Schaffung einer politischen Währung, auf die sich Politiker, Parteien und Volk verpflichtet hätten. — So begann, parallel mit einer gewissen wirtschaftlichen Erholung, die politische Inflation sich auszubreiten. Stationen, blitzartig sichtbar werdend, dieser weitergehenden Inflation waren da zunächst: der Justizpalästbrand, die Ausbreitung antidemokratischer militanter Verbände links und rechts, der Abzug beträchtlicher Volksteile und nicht zuletzt der Jugend ins Elend, in den politischen Untergrund, in die Illegalität; nicht zuletzt in eine eigentümliche Heuchelei, in einen Scheinpatriotismus, der, von oben her gewünscht, ja befohlen, gerade das nicht ersetzen konnte, was fast allen fehlte: ein gesunder, nüchterner politischer Glaube an. den guten Sinn eines freien, unabhängigen, demokratischen Oesterreich, verwurzelt in den Traditionen und Verpflichtungen einer großen Vergangenheit.

In diesen zunächst ersten zwanzig Jahren des Unglaubens, der Scheinstabilisierüng und vorübergehender Konjunktur, des falschen Selbstbewußtseins im Stolz auf den „Alpendollar“ und des Spätsommerglanzes um die Salzburger Festspiele als Rendezvous einer internationalen Gesellschaft, gab es aber einen einzigen wirklichen Neuansatz, den heute die Gegner von gestern im wohlverstandenen eigenen Interesse wahrnehmen sollten: Es gelang einem kleinen Mann aus kleinbürgerlichem Geschlecht starke und an sich echte Kräfte eines politischen Glaubens im Volk wiederzuerwecken. Diese Tatsache sollte gerade heute von allen mitbedacht werden, die sich sonst mit dem politischen System und der politischen Ideologie dieses Mannes nicht befreunden können: Engelbert Dollfuß war mehr als die Ideologie des „Ständestaates“; er war der Anfang einer politischen Selbstbesinnung der Oesterreicher: Katholiken, Sozialisten und innerlich nach Oesterreich heimkehrende „Nationale“ haben ab Herbst 1938 hier . fortgesetzt, was eben dieser kleine Mann begonnen hatte.

1945 konnte — das sollte heute nicht vergessen werden — eben hier angesetzt werden: Bei dem politischen Glauben eines Mannes wie Dollfuß, bei den politischen Erfahrungen von Sozialisten und „Nationalen“ in den Jahren 1938 bis 1945. Die Zweite Republik Oesterreich nährt sich von diesen Realitäten. Sie vermag sich nicht zu nähren von den grauen Tagen um den 12. November 1918 und den Jahren nachher.

Eben dies ist aber zuwenig für die Zukunft. Zeichen der Zeit zeigen, daß wir politisch von diesem geringen Kapital, von der Hand in den Mund, von einigen bitteren und teuer bezahlten Erfahrungen 1934, 1938, 1938 bis 1945 nicht bis aller Tage Abend leben können. Wer den Ton in mancher politischen Auseinandersetzung, wer das wenig verhüllte Streben nach Alleinherrschaft hier und dort wahrnimmt, wer sieht, wie da Demagogie, Denunziation, Mißbrauch der Justiz und allerlei trübe Geschäfte mit Menschen, die bis zum heutigen Tage es kaum zu einem Lippenbekenntnis zu unserem Staat gebracht haben, an der Tagesordnung sind, der kann nicht ohne Sorge in die Zukunft blicken.

Jung, sehr jung ist unsere Republik.

Jung, sehr jung ist unsere Demokratie.

Jung, sehr jung sind die ehrliche Achtung vor dem anderen, der feste Wille, als Volk und Staat durch die Verkündigung der Neutralität einen klar umrissenen Platz im Herzen Europas einzunehmen — und diesen allen Drohungen und Verlockungen gegenüber zu halten. Eben diese Jugend verpflichtet: Oesterreich befindet sich heute in einer engverknüpften Partnerschaft mit vielen Völkern dieser Erde, gerade auch in den außereuropäischen Kontinenten. Hier überall sind junge Staaten und politische Gebilde, deren Gesicht von morgen noch nicht erkennbar ist. Wobei die gesunde Einwurzelung in der Vergangenheit für die Völker Asiens und Afrikas eine ebenso große Rolle spielt wie für Oesterreich und Zentraleuropa. Ohne größere Vergangenheit keine größere Zukunft.

Große Gefahren und große Chancen sind damit verbunden: täglich erlebt, erfährt, erleidet die Welt hier und dort ein neues Hineinscheitern in totalitäre und halbtotalitäre Regime; Niemand, kein Volk, kein Staat ist in einer solchen Zeitenwende über den Berg. Diese Tatsache sollte uns auch Trost spenden: das aber kann sie nur, wenn wir ihr ins Gesicht sehen. Warum sollten wir uns scheuen, zu bekennen, was für nahezu alle Völker dieser Erde heute gilt — von Tokio bis Wien? Also stehen wir am 40. Geburtstag des jungen Oesterreich im Tor der Zukunft: Sehen wir zu, daß die Schatten der Vergangenheit nicht wieder an Macht gewinnen. Nichts ist gesichert an Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, was nicht täglich neu erworben, erkämpft wird. Mit besseren Mitteln und auf anderen Wegen, als sie in der Republik ab dem 12. November 1918 so oft gesucht und begangen wurden.

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