Die kalte Seite der Nacht

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Mit den ersten Minusgraden schwindet jede Romantik des Obdachlosendaseins. Dreimal wöchentlich klappern Mitarbeiter der Gruft, einer Herberge für Obdachlose, die unbekannten Seiten Wiens ab.

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Mit den ersten Minusgraden schwindet jede Romantik des Obdachlosendaseins. Dreimal wöchentlich klappern Mitarbeiter der Gruft, einer Herberge für Obdachlose, die unbekannten Seiten Wiens ab.

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Es ist 19 Uhr in der Gruft. Pater Karl Gölles wartet auf einen freiwilligen Helfer. Der kommt nicht. "Gut, ich fahre alleine." Er steckt drei Packerln Zigaretten ein, nimmt sein Handy, steigt über die herumliegenden Schläfer und kämpft sich die belagerte Stiege hinauf.

Auf etwa 5.000 schätzt Pater Gölles die Obdachlosen in Wien. Draußen weht ein eisiger Wind, im Opel Astra ist es bitterkalt. "19 Uhr 24, Abfahrt Gruft", spricht Gölles ins Handy. Zu jeder Nachtfahrt gibt es ein Protokoll. Namen, Telefonnummern von Sachverwaltern, ehemaligen Arbeitgebern und neu entdeckte Orte werden sofort an die "Gruft" weitergegeben. Zwischen 30 und 50 Kilometer stehen jedes Mal im Fahrtenbuch.

Erste Station ist der "Kohlerhof", ein verlassenes Fabriksgelände hinter der Remise in der Engerthstraße. Gölles parkt seinen Astra. "19 Uhr 42, Kohlerhof", spricht er ins Handy. Zielstrebig begibt er sich in die alte Industrieanlage, ein lehmiger Weg führt ins Dunkel an den Baracken vorbei. Finster liegt die Fabrik in der Nacht, dünnes Eis überzieht den Boden, es ist rutschig. Wind peitscht unbarmherzig, die Finger frieren.

Da scheint Licht aus einem Container. Gölles klopft. Ein gedrungener Mann mit Vollbart und auffällig hellblauen Kulleraugen öffnet. "Hallo, Franz. Kann ich reinkommen?" "Charlie, alter Freund, schön, daß'd da bist! Is die Susi mit?" "Die kommt nächstes Mal. Am dreiundzwanzigsten nehmen wir den Amtsarzt mit, für die Emma. Wie gehts ihr denn," erkundigt sich Gölles. "Schlecht, sehr schlecht. Heut hamma wieder gstritten." Sechs Hunde bevölkern den winzigen Raum.

Am Tisch stehen eine Halbliterdose Gösser, eine Packung After Eight, ein Glas Nutella. Verschiedene Decken liegen über alten Sesseln, sie bilden die Couch. Einen Elektroherd mit zwei Kochstellen gibt es auch. Auf einer Kredenz türmen sich Teepackerln und Klopapierrollen. Es ist sehr dunkel, die Hunde und ein alter Mellerofen wärmen. Fenster gibt es keine, die Öffnungen sind mit Plastik vernagelt, der Wind trommelt laut dagegen und sorgt für eine bedrohliche Geräuschkulisse.

"Es ist alles wurscht" Aus dem Hintergrund dringt Gelalle. "Die Emma redt schon die ganze Zeit so. Es ist nicht zum Aushalten, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen." Heidi, die Lebensgefährtin vom Franz, sitzt auf der Couch. "Am Vormittag ist sie nüchterner, am Abend ist mit ihr nichts mehr zu machen. Heut is sie neben dem Bett gelegen, und fantasiert Sachen." Karl steht auf und schlägt den Vorhang zurück, der Emmas Schlafzimmer vom Wohnraum trennt. Der Geruch von Alkohol verschlägt beinahe den Atem.

Der Raum ist frostig, sehen kann man nichts, nur hören. Leise dringen unverständliche Silben aus dem Dunkel. "War sie nicht auf Entzug im Sommer?" fragt Karl Gölles. "Zwischendurch hat sie keinen Vodka getrunken, aber jetzt is sie bei einer Flasche am Tag, und den Obstler dazu." Franz ist 41, er war einmal Hilfsarbeiter. Seit dem Vorjahr wohnt er bei Emma. Sie ist großzügig, die einzige, die Notstandshilfe bezieht. Seit fünf Jahren lebt sie in der Baracke.

Heidi starrt lethargisch aufs Nutellaglas. "Ich trink nur Wein," sagt sie. Dünner Flaum bedeckt ihren Kopf, sie sieht aus wie ein Kücken, das gerade aus dem Ei geschlüpft ist. Schützend hält sie ihre rechte Hand an den Körper. Die ist gefroren, geschwollen, rissig und dunkelrot. "Hast Schmerzen?", fragt Karl. "Ich kanns nicht einmal abbiegen," wimmert Heidi, "aber ich mach kalte Umschläge und hab einen Schwamm draufglegt." Sie ist jünger als Franz, sieht aber aus wie 60. Aufgequollene Beine, rote, rissige Haut an den Füßen, und tiefe Falten im stupsnasigen Gesicht.

"Möcherts Ihr nicht woanders hin?" fragt Karl. "I mechert scho," antwortet Heidi. Auch Franz ist für einen Umzug. "Müßats a Heim sein?"fragt er vorsichtig. "Den Hund wollts schon mitnehmen, oder?" "Einen, den Hansi, der is so liab, den kömma nicht allein lassen." Karl überlegt kurz. "In der Gentzbachgasse könnt Ihr betreute Einzelzimmer haben, die lassen auch Tiere zu." Beide wirken interessiert. "Ich lass euch meine Nummer da, in der Gruft könnts immer anrufen, wir kümmern uns dann um das Finanzielle." Karl wirft einen Blick auf den Verschlag der delierenden Emma und läßt ein paar Zigaretten da "Guat, daß ma z'reden kommen sind," sagt Franz.

Mittlerweile ist es noch ein wenig dunkler und ein gutes Stück eisiger. Gölles gibt die wichtigsten Daten durch. "20 Uhr 45 Praterstern." Schnell schreitet Karl die Halle ab, öffnet die Tür zu den Pissoirs. Nichts, kein Mensch da. Die "Aktion scharf" der Exekutive hat gegriffen.

Die Zeit ist knapp, auf zum Südbahnhof. Im Warteraum des ersten Stocks sitzen zwei Männer. Geheizt ist, Martin kauert am Heizkörper. Gerald im fischgrätgemusterten Mantel lehnt lässig an der Glaswand. Karl verteilt Zigaretten.

"War der Canisibus schon da?" fragt Gerald. "Der kommt um halb zehn." Karl hat alle Fakten im Kopf. "Ich hab an Hunger, ich geh mir was holen." "Nimm mir auch was mit!" greint Martin. Er ist etwa 45, und vom Alkohol gezeichnet. Seine Sprache ist schwer verständlich, Karl muß sich schon ordentlich hinunterbeugen und sicherheitshalber nachfragen. "Und? Magst nicht kommen?" Pause. "Na, ich muß warten, auf eine Frau." "Und was, wenn die nicht kommt?" "Die kommt." "Und wenn sie dich so trifft?" Martin überlegt. "Ich bin am Ende, es is alles wurscht. Ich hab eine schlechte Phase," sagt er tonlos. "Ist Zeit, daß sie zu Ende geht, die schlechte Phase. Ich verschaff dir einen Platz in Ybbs." "Da war ich schon."

Schlafen im Pissoir Martin hat fast alles hinter sich: Kalksburg, die Baumgartner Höhe, Ybbs. Jetzt sitzt er auf der Straße. "Komm in die Gruft, da kriegst Handschuhe und einen Mantel. Und wärmer ist es dort auch. Ich führ dich." Martin will nicht. Auch Gerald nicht. "Vielleicht können wir heute da bleiben," hofft er. "Und wenn sie euch rausschmeißen, was tust du dann?" "Dann haben wir einander. Ich geh nicht, das ist Charaktersache!"

Von unten dringt Lärm, innerhalb weniger Minuten füllt sich der Warteraum mit etwa zwölf Obdachlosen. Es hatte einen Streit gegeben in der Halle. Einer wollte rauchen, die Polizei schloß sofort den Raum. "So ein Trottel!" Wilfried, 45, regt sich auf. Adolfo lacht. "Sind immer noch so viele Hasen in der Gruft?" fragt er. "Des is a alter Weiberer!" Wilfried erinnert sich an die Zeiten, als Adolfo, 67, eine Gründerzeitwohnung besessen hatte. Dort waren Orgien abgegangen. "Jeden Tag a Frau!" Noch immer ist Adolfo gepflegter Casanova im rot-weiß-blau gestreiften Schal mit langem, elegantem Mantel. Ein Doppler Rotwein steht zu seinen Füßen. "I bin a so a Trottel gwesen, mei Leben lang," jammert Wilfried "immer hab i alle mitsaufen lassen, wenn i was ghabt hab. Gibst du mir an Doppler, geb i da an Doppler. Des hab i mir denkt, dabei hams mi nur ausgnutzt." Mit Adolfo ist das anders, die beiden teilen Freud, Leid und Wein.

In die Gruft wollen sie trotz der Hasn heute nicht. Diese Nacht ist nicht zur Abstinenz geeignet. Sie hoffen auf einen milden Polizisten, der sie bleiben läßt, wo sie sind. Karl redet inzwischen mit anderen. Nach einer halben Stunde kommt einer mit in die Gruft. Georg. Er erzählt aus seinem Leben. Er schnorrt nie. Seit dem Fund eines Originalschlüssels von der MA 48 kann er alle Mistkübel öffnen. Sammeln und Verkaufen von Leerflaschen bringt bis zu dreihundert Schilling pro Tag. Manchmal hilft er Marktstandlern, "gegen das, was sie mir geben wollen." Meist ein Hunderter und ein Bier. Die Zigaretten lehnt er ab. "Ich misch meine selber." In den U-Bahnstationen finden sich genug Stummel.

In der Gruft herrscht Bettstimmung und Übervölkerung. Auf der Waschmaschine kauert ein Schlafender. Das Licht ist gedämpft, Georg nimmt eine Schlafmatte und wirft sich unter die Waschmuschel. Pater Gölles steigt über liegende Körper, nimmt drei Stück Brot, schmiert Inzersdorfer drauf, trinkt ein "Cappy" und fragt nach Vorkommnissen.

Aufgewärmt geht es dann weiter. Von einer Toilettenanlage in die nächste. Am Südtirolerplatz liegen fünf Männer und eine Frau auf Decken im stinkenden Pissoir. "Verpiß dich, wir brauchen dich nicht! Wir kommen nicht mit! Laß uns schlafen!" brüllt einer. Karl bleibt ruhig. Er findet zwei, die mit ihm reden. Vor dem Pissoir tauschen sie Namen und Adressen aus. Morgen vormittag rufen sie an. Karl verschenkt ein paar Zigaretten und wünscht gute Nacht.

Nach Mitternacht. Wotruba Promenade. Die Zeit drängt. Schlafende weckt man nicht. Der Wind ist unerbittlich. Karl zieht seine wattierte Jacke enger um sich. Er geht Richtung Donaukanal, er biegt vor der Kunstakademie ab. Unter dem Vorsprung des Gebäudes stapeln sich Kartons. Ein zitterndes Bündel Mensch in einer buntgemusterten Decke schlottert im Schlaf. Hinten, an der Mauer, hat sich jemand einen Kartonverschlag gebaut. Kerzengerade und steif ruht einer im papierenen Sarg.

"24 Uhr 15. Wotruba Promenade, zwei Menschen, schlafen schon," diktiert Karl. Dann Bahnhof Landstraße Wien Mitte. Eine Person, in der Telefonzelle. Nummerntausch. "24 Uhr 45, Karlsplatz." Vier Kontakte vor dem "Köstli", drei Termine, zwei Gespräche im Pissoir.

Am Jonasreindl ist es nach zwei, zweieinhalb Packerln Zigaretten sind verschenkt. Auf dem Herrenpissoir Reinhard und Manfred aus Favoriten, zwei Doppler, drei Decken und die Reste der Gulaschsuppe vom Canisibus auf dem Heizkörper. Zwei Kollegen pennen, die beiden philosophieren. "Hallo, Charlie, Habschi!" Es dreht sich um Frauen, Ausländer, Alkohol und alle Probleme der Weltgeschichte. Daß Karl unverheiratet und Priester ist, verstehen sie nicht. Er muß sich ein bißchen frotzeln lassen. Was solls, Vertrauen ist alles. Kurz vor drei Uhr lassen sie ihn endlich gehen.

In der Gruft ist es immer noch warm, mittlerweile schläft auf jeder Stufe der Treppe zum Waschsalon ein Obdachloser. Leises Schnarchen dringt durch den Raum, einige unterhalten sich. Karl gibt seine letzten Zigaretten zurück in den Schreibtisch, für die nächste Fahrt.

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