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Die Kinder der Gewalt

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Das Anwachsen der Kriminalität ist eine Welterscheinung. Aber in keinem amerikanischen Lande hat sie die öffentliche Ordnung in dem Grad ausgeschaltet wie in Kolumbien. Abends traut man sich zu Fuß. nicht einmal in die Straßen des Zentrums der Haupstadt Bogota. Sie ist in zehn Jahren von 600.000 auf 1,700.000 Bewohner gewachsen. Pro Kopf der Bevölkerung werden auf dem Land etwa 500 österreichische Schilling im Monat verdient. Der städtische Arbeiter bekommt mehr als deh doppelten Löhn'des ländlichen. So zieht die aktive Jugend hoffnungsvoll in die Stadt. Aber sie kann meist nicht einmal lesen und schreiben. Alle Voraussetzungen für eine technische Arbeit fehlen. Außerdem hält die Industrialisierung in keiner Weise mit dem Zustrom Schritt. So finden sie keine Beschäftigung und verkommen in Elendssiedlungen Die Landgebiete werden zum großen Teil von Banden unsicher gemacht, die aus dem Bürgerkrieg seit zehn Jahren übriggeblieben sind. Jahrelang war eine „Nationale Kommission zur Untersuchung der derzeitigen Ursachen der Violencia“ tätig „Violencia“ ist das spanische Wort für „Gewalt“). Beamte, Sozio logen, Psychiater und Pädagogen haben historische, politische, wirtschaftliche, soziale und kriminelle Ursachen festgestellt. Aber in der letzten Zeit sind sich die Beobachter darüber einig geworden, daß die „Violencia“ vor allem durch die „ve- lorene Jugend“ weiter besteht.

Nun fällt das Problem der verwahrlosten Jugend jedem Besucher Bogotas in die Augen. Tausende schlafen auf Bäumen, in Höhlen oder sogar auf Grasstreifen zwischen zwei Autobahnen. Sie hängen wie die Affėn an den Autobussen, und niemand traut sich, sie aufzuheben, wenn einer verletzt auf der Straße liegt.

Die fünfzehnjährigen „Kämpfer“

Während des eigentlichen Bürgerkriegs begann die Tragödie der

Kinder. In dem „Gesetzbuch“, das die Freischärler verkündeten, wurde der Beginn der Volljährigkeit von 18 auf 15 Jahren zurückverlegt, weil sie sich in diesem Alter schon als „erfahrene Kämpfer“ bewährt hätten. Nach dem Ende des offiziellen Bürgerkriegs, in der zweiten Epoche der „Violencia“, etwa seit 1957, sind die Menschen, die ihre Kindheit in der Atmosphäre des Guerillakrieges ver lebt hatten, zu Männern geworden.

Ein führender katholischer Soziologe in Kolumbien, Monsignore Germon Guzman, gilt als der beste Kenner dieser Situation. Er beschreibt (in „La Violencia en Colombia“, Band 2, Seite 326) den Typ des Jugendverbrechers, wie er sich als die „tragische Frucht der Gewalttätigkeit“ gebildet habe:

„Er ist in seiner psychischen Entwicklung tief getroffen, weil er als Kind das brutale Schauspiel der Tragödig .miterletye,Er ist jer Enteignete, der Waise, der Verwandte, der Bruder oder der Sohn der geschändeten Frau, ln seinem Wachstum trägt er den wilden, vernunftlosen und unkontrollierten Haß... er hat die Beziehung zum Boden verloren ... ein Mann, fast ein Kind, irrt herum. Darauf beruht seine sexuelle Gier und das häufig Pathologische seiner Verbrechen. Seine Form des Liebeslebens ist die eines ständigen Räubers oder einer gelegentlichen Geliebten. Die Banden nehmen jetzt oft junge Mädchen mit oder rauben sie, wobei diese sich mit erstaunlicher Leichtigkeit an das Leben der Gefahr... gewöhnen. Wenn sie glauben, daß die Frau fliehen will, weil sie des Lebens oder des Mannes überdrüssig oder schwanger ist, wird sie ermordet...“

Zuwenig Schulen

Nun sind die meisten Guerillabanden in den letzten Jahren von den Truppen besiegt oder durch interne Zwistigkeiten geschwächt worden. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß die derzeitige Kriminalität zum großen Teil wirtschaftliche Ursachen hat. Wenn man die Masse am Stadtrand wirtschaftlich einordnete, würden Verbrecher zum großen Teil zu Bürgern. Die alarmierende Not auf dem Lande verführt zum Aufstand. Aber eine wirkliche Befriedigung Kolumbiens ist nur möglich, wenn die Kinder zu „Staatsbürgern“ erzogen werden. Dazu müssen sie zunächst überhaupt in die Schule gehen. Vor vier Jahren betraten 42 Prozent der Schulpflichtigen keinen Klassenraum. 44 Prozent sind Analphabeten. Die meisten Landschulen haben überhaupt nur zwei Klassen. So kommt es, daß von 1000 Landkindern überhaupt nur sechs in die fünfte Klasse kommen, in der ein staatsbürgerliches Bewußtsein frühestens geweckt werden könnte. In den letzten vier Jahren sind aus Mitteln der „Allianz für den Fortschritt“ 2000 neue Schulen errichtet worden, so daß die Zahl der Grundschüler von 1,7 auf 2,1 Millionen gewachsen ist. Aber diese Bemühungen reichen in keiner Weise, um der großen Aufgabe gerecht zu werden. Die „Kinder der Gewalt“ bilden weiter den explosiven Kern eines der gefährlichsten Revolutionsherde in Lateinamerika.

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