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Die Kräfte des Aufbaues

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Zwei Ereignisse werden von Österreich in den nächsten Jahren den Beweis seiner Lebensfähigkeit oder, besser gesagt, seiner Lebendigkeit fordern: der Staatsvertrag und und das in drei Jahren eintretende Ende der ERP-Lieferungen.

Man sieht die Frage nach der Lebensfähigkeit Österreichs immer in erster Linie als wirtschaftliche im engsten Sinne dieses Wortes. Sicherlich ist 6ie das in hervorragendem Maße. Es will uns aber gerade deshalb scheinen, daß man die Pflege gewisser Kräfte in unserem sozialen Leben zu wenig beachtet, ohne die die vorhandenen wirtschaftlichen Möglichkeiten niemals zu fruchtbarer Entfaltung werden kommen können, jener Kräfte der Eigenlebendigkeit, die uns befähigen, aus einer schweren Gegenwart den Sinn unserer Bemühungen in eine weite Zukunft zu verlegen, aufgebürdete Lasten zu tragen und abzutragen und gleichzeitig unser eigenes Leben aufzubauen.

Nach Jahren maßlosen Verbrauches, maßloser Abnützung und maßloser Verluste, die der Krieg und seine Folgen mit sich gebracht haben, müssen die zerstörten Kräfte der Produktion neu aufgebaut werden. Da dies nicht ohne Hilfe von außen möglich ist, wird Österreichs Wirtschaft infolge dieser Hilfe, nicht zuletzt aber auch mit Rücksicht auf die politischen Verschiebungen in den nachbarlichen Wirtshaftsräumen die Struktur seiner Produktion einer neuen weltwirtschaftlichen Situation anpassen müssen. Österreich muß daher alle menschlichen und sachlichen wirtschaftlichen Potenzen aktualisieren und die technische Apparatur wie die organisatorischen Formen seiner Wirtschaft den neuen Erfordernissen zuordnen, um eine dauernde und stetige Produktivität zu sichern. Das aber bedeutet unter den gegebenen Voraussetzungen: Verzicht, also Widmung der verfügbaren Wirtschaftskräfte für den Neuaufbau der Produktion, Einschränkung des Konsums. Es hieße sich selbst täuschen, wollte man nicht sehen, daß der Gedanke des Opfers für die Zukunft trotz so klarer Sachlage bei uns derzeit nur äußerst geringen Widerhall hat. Die meisten meinen immer noch, einen jeweils anderen finden zu können — .Klassengegner oder ähnliches —, der zum Opfer verpflichtet werden müßte. Man kann sich oft des Eindruckes nicht erwehren, als würde in der itagespolitischen Diskussion das Auge der öffentlichen Meinung bewußt vom Wesentlichen und Dauernden abgelenkt und an die Oberfläche und den Augenblick geheftet. Diese Haltung des „carpe diem", des Für- und In-den-Tag-Lebcns, ist ein nicht unbedenkliches Symptom des Mangels an jener spontanen sozialen Lebenskraft, ohne die aber auch wirtschaftliche Lebens- möglichkeiten niemals zu Iebens- wirklichkeiten werden können.

Uns fehlt vor allem das Staatsbewußtsein, besser: der schlichte, spontane, opferbereite und darum sozial schöpferische Patriotismus, der Sache jedes Wirtschaftenden sein müßte, des Unternehmers, des Angestellten, des

Arbeiters und gleichzeitig Ebene ihres gemeinsamen Wollens. (Wer die Augen öffnet, sieht, daß bei uns dieser Mangel ein allgemeiner ist, der bis in die kleinen Akte dos Konsums reicht.) Friedrich List, der in seinem wirtschaftlichen Denken aus geschichtlichem Bewußtsein den Blick auf die Dauer der sozialen Einheiten richtete und nicht auf den Erfolg des Augenblicks, hat mit allem Recht den Patriotismus zu den „produktiven Kräften" der Wirtschaft gezählt.

Kraftvolles staatliches Eigenbewußtsein kann aber nur auf lebendigem Geschieh ts- bewußtsein ruhen. Es ist — zumindest seit 1918 — das Verhängnis österreichischen Staatsbewußtseins, daß es nicht getragen ist von einem die Generationen überdauernden und in die Zukunft weisenden geschichtlichen Bewußtsein, Und daß es deshalb der politischen Gestaltungskraft entbehrt und zum Surrogat streng statischer bürokratischer Reglementierung greifen muß. In unserer Lage genügt nicht das Heimweh nach alter Kultur, um politisches Eigensein zu formen, nicht die Aditung einzelner Teile der Welt vor kultureller Vergangenheit, um sich politisch in ihr zu sichern, und nicht die finanzielle Hilfe, um diese Sicherung wirtschaftlich zu unterbauen. Hier bedarf es der Liebe zur eigenen Geschichte, des gelebten Bewußtseins der Kontinuität, die Umstürze und Umbrüche überdauert, der Solidarität, die Spannungen zu überbrücken und fruchtbar zu machen vermag. Täuschen wir uns nicht: wir brauchen dieses Bewußtsein, wollen wir nicht der Eigenformung unseres Daseins beraubt werden. Was der Öffentlichkeit zur Bildung „geschichtlichen Bewußtseins“ geboten wird, ist manchmal liebenswürdig, sehr häufig beschämend, fast immer aber trägt es den Charakter des Begräbnisses, nicht den der Besinnung zum Leben. Wenn wir etwa an die Weise denken, in der im vorigen Jahre die drei „Jubiläen" in einem Großteil der österreichischen Presse begangen wurden — das hundertjährige der Revolution Und de Regierungsantrittes Franz Josephs und das dreißigjährige des Zusammenbruchs der Monarchie —, so wird man erkennen, daß der österreichischen Öffentlichkeit G e- schichte nur im Ge wand von I d e o 1 o g i en geboten wird, die einander bis aufs Messer bekämpfen und sich im Grunde nur darin einig sind, daß sie den. übernationalen, christlich-europäischen Kern von Österreichs Geschichte hassen, wie alle Ideologie das Vollmenschliche haßt, und daß in der öffentlichen Meinung die Geschichte Österreichs zu seiner Gegenwart in gar keiner positiven Beziehung zu stehen scheint. Ist aber wirklich für die österreichische Gegenwart der geistige Kern der österreichischen Geschichte erstorben, so wird sie, den ideologischen Einseitigkeiten wehrlos ausgeliefert, im „Anschluß" an ideologische Kollektive sich einen Lebenssinn zu erborgen suchen. „Untreue gegenüber der eigenen Vergangenheit macht un- wert der Zukunft" (Srbik). Wenn es nach der derzeitigen politischen und ideologischen. Situation dem Österreicher nur erlaubt wird, die Zeit’ von 1918 bis 1933 (1929?) als positive Tradition1 zu pflegen, ohne feudal - kapitalistisch - imperialistisch - faschistisch-reaktionär „verdächtigt" zu werden, so dürfte dies wohl kaum als Basis politischer Gestaltung und jener patriotischen Opferfreudigkeit genügen, deren wir zum Aufbau unseres Lebens so notwendig bedürfen.

Ist es da erstaunlich, daß so viele bei uns keine Zukunft sehen, daß sie keinen Sinn für die Dauer haben, die es sinnvoll macht, Opfer zu tragen? Ist es da erstaunlich, daß es dem Österreicher' so'vielfach, geräde 'auf dem Gebiet der Politik und der Wirtschaft, an jener Würde fehlt, die ihm die Achtung anderer erwirbt?

Auß diese Krankheit . unseres sozialen Körpers: muß einmal hingewiesen werden. Es muß .verstanden werden„ daß — zumal in Notzeiten — Demokratie nur bestehen kann, c . wenn in ihr die gesellschaftlichen Kräfte der - geschichtlichen, Kontinuität und der politischen Stabilität gepflegt werden, die die .konkrete . Grundlage sozialer Solidarität sind, wenn die Kräfte freiwilliger Einheit. stärker sind als der Drang zu zwingender Bindung, der den einseitigen Ideologien eigen ist. Österreichs Lebensfähigkeit ist nicht nur ein wirtschaftliches, sie ist auch ein moralisches Problem. Caveant consulesl'

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