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Die künstliche Natürlichkeit auf unseren Tischen

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Raten Sie mal, woraus „Würze" besteht? Zum Beispiel aus Soja-expeller, der in Salzsäure aufgelöst wurde.

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Raten Sie mal, woraus „Würze" besteht? Zum Beispiel aus Soja-expeller, der in Salzsäure aufgelöst wurde.

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Ahnen Sie, welches interessante-Gelier schlußendlich als „Suri-mi" im Meeresfrüchtesalat enden kann? Wissen Sie, woher der „Flüssigrauch" für unsere sauberen deutschen Wurstwaren kam? Aus der Bauchgasreinigung besonders ergiebiger Schlote. Ks gibt kaum etwas, was nicht als Bohstoff herhalten mußte, angefangen von den Sulfitablaugen der Papierfabriken zur Vanillingewinnung, bis hin zu den sprichwörtlichen Chinesen-Häaren für den Cystein-Zu-satz im Brötchen. Bisher hat die Krnährungswirtschaft versäumt, diese Anstrengungen zur Minderung des Abfallberges herauszustreichen. Warum soviel ökologische Bescheidenheit, es ist doch alles völlig harmlos, oder?

Solange es dem Kunden schmeckt, ist die Welt noch in Ordnung, glaubt der Hersteller. Irrtum! Nur solange er nichts davon merkt. Was aber, wenn er dahinterkommt, daß edler „Deutscher Kaviar" nichts anderes ist als das gefärbte, aromatisierte Gelege eines knorpeligen Fisches namens Lump? Daß sein vermeintlich vornehmes „Tafelwasser" ein Arme-Leute -Imitat ist, und der „Nektar" weniger einen Göttertrank als ein Wunder der Lebensmittelchemie darstellt. Wie werden Allergiker reagieren, die erkennen müssen, daß die Etiketten auf den Verpackungen mehr verschweigen als offenbaren? Solange der Kunde seiner Marke vertraut, ist die Welt noch in Ordnung. Wenn er dies aber nur noch gezwungenermaßen tut, weil er einfach etwas kaufen muß, bewegt sich der Anbieter auf dünnem Eis. (...)

In Zeiten des Überflusses predigen Heerscharen gehörheischender Ernährungsberater, mal mit Hochschulzeugnis in der Hand, mal mit Frischkornbrei auf den Lippen, einen Mangel an allen möglichen Spurenstoffen. Speziell von Substanzen, die entweder sowieso reichlich in der Nahrung enthalten sind oder die sogar zu technologischen Zwecken extra zugesetzt werden oder die, wie das Jod, als unvermeidlicher Bückstand diverse Bohstoffe verunreinigen. Sie schüren dabei die Angst vor vermeintlich ernähmngsbedingten Krankheiten.

Hier hat die Margarinewirtschaft mit ihrer Cholesterintheorie Pionierarbeit geleistet. In meiner langjährigen Tätigkeit als Unternehmensberater habe ich noch keinen Hersteller gefunden, der ernsthaft an einen solchen Zusammenhang geglaubt hätte. Aber jede Menge Mediziner, die bar der Kenntnis über die Herstellung unserer Nahrung, Stein und Bein auf diesen „Bisikofaktor" schwören.

Vor uns die Fitneßkost

Unübersehbar wird in absehbarer Zukunft das Angebot an Krankheitsund Fitneßkost für Stuhlverstopfte und Postinfarktler, für schwermütige Katzen, allergische Senioren und lernunwillige Vorschüler, für fußlahme Joggerinnen und ausgemästete Schleifbauchdackel. Selbst der unbeherrschte Hochdruckpatient darf hoffen. Wer es trotz seiner Krankheit nicht lassen kann, Salziges zu essen, auf den warten deftige Fertiggerichte mit imprägnierten Algenextrakten. Sie fangen nach erfolgtem Gaumenkitzel das Kochsalz im Darm ab. Außerdem können sie nach Belieben mit modischen Spurenstoffen beladen werden, um sie „im menschlichen Körper freizusetzen", wie ihre japanischen Erfinder versichern.

Wir gelangen ins Zeitalter der „künstlichen Natürlichkeit", wie es Nestle 1986 in seiner Studie „Mensch und Ernährung 2000" trefflich formulierte. Damit sind nicht nur unsere „natürlichen Aromastoffe" als Schimmelpilzkulturen gemeint, sondern auch die Folgen realer Umweltprobleme. Schließlich weiß niemand, wie lange in russischen Flüssen noch der Stör schwimmen wird. Sein Lebensraum wird rücksichtlos zerstört. Gerade noch rechtzeitig ersann das Institut der Hochseefischerei und Fischverarbeitung in Bostock eine rationelle Kaviarsynthese: Beim Eintropfen von einer Mixtur aus Weizenkleber, Binderblutplasma und Gelatine in ein heißes Fixierbad verfestigt sich diese zu Kügelchen. Sie werden anschließend gefärbt und „mitei-ner haftfähigen fischaromahaltigen Lösung beschichtet". Ein Vorschlag an den Gesetzgeber zur Namensgebung: Wie wär's mit „Altdeutschem Premium-Kaviar"?

Der Autor ist

Wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Inst aus für Lebensmittel und Ernährungsforschung. Sein Beitrag ein Auszug aus „Umwelt-Erziehung" 1197

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