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Die Kulturmaschine läuft

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Die Kulturmaschine läuft, und man braucht nur auf- und abzudrehen nach Belieben. Sie bringt alles nahe, sie bringt es bis ins Schlafzimmer. Sie bringt schlechthin alles nahe, was es gibt: fremde, ferne Länder, Modeschauen, Luftmeetings, Gedichte, Kulturdenkmäler, Festspiele, Königskrönungen, Skispringen, Kirchenfeiern, Unterwasserballette, Negertänze, Hochgebirgs- und Meeresszenerien. Löwenjagden, . Ęxistentialistenkeller, Raketenstarts, Literaturpreisverteilungen, K.-o.-Schläge, neuentdeckte Milchstraßensysteme, tibetanische Bestattungsrituale, Araberaufstände, Gangstercoups, exotische Kostüme, Industriemessen,’ Hurrikane, Revolutionen, Kinderchöre, Schiffsuntergänge, Streiks, Weihestunden ...

Mit der Kultur kommt auch alle Unkultur ins Haus, aber diese kommt im kulturellen Gewand, neutralisiert, sie kommt als Nachricht, als Reportage, als Kritik und Diskussion.

Immer ist dabei der Mensch in der Zwangslage, sich für etwas zu entscheiden, ja oder nein zu sagen. Wenn er es nicht kann, wird er zum bloßen Lauscher und Gaffer, der sich „nichts dabei denkt“, der als Person ausgeschaltet ist. Aus dem Gebotenen wird dann etwas anderes, als es ist. Der geistig nicht aktive Hörer und Zuschauer verwandelt es. da er es als etwas anderes nimmt, als es ist. Er macht daraus Anlässe für flüchtige Stimmungen und Affekte, die ihn von seiner eigenen Existenz ablenken. Er bezieht Anregungen, die nicht ernst genommen werden, Erheiterungen -und ' Freuden ohne T-Ursache, Schauer und Erregungen! ohne echtfe Bet' teiligung. Er läßt sich nach Bedarf spannen oder entspannen. Alles Gebotene, ob Kultur oder Unkultur, wird so zum unverbindlichen Spiel.

Mit den „Kulturwerten“, die über die Massenmedien übermittelt werden, verhält es sich ebenso: Man kann von allem naschen, ohne wirklich davon zu essen: hier ein bißchen christliches Mittelalter, eine Portion Mykene oder Byzanz, einen Happen Osterinsel, dann zum Nachtisch chinesische Spruchweisheit oder

Inkatöpferei. Später wendet man sich wieder der barocken Kunst zu. Ein andermal nimmt man zur Abwechslung australische oder afrikanische Primitive, oder Eskimoschnitzerei, russische Volkslieder, griechische Tragödien, Schwarzwälder Volksbräuche, Kasperlspiele, indische Tempelgesänge ... Was fängt der Mensch, der hier nicht auswählt, der sich nur damit berieseln und bestrahlen läßt, mit alledem an? Was wird aus einem solchen Menschen? Er nimmt alles an, was ihm geboten wird, als etwas anderes, als es ist. Er macht ein unverbindliches Spiel daraus. Er kann zwischen unverstandenen Kulturen umherhüpfen wie Kinder in einem von den Erwachsenen verlassenen Haus.

Aber auch für jenen, der auswählt, der sich mit Interesse und Unterscheidung der Massenmedienprodukte bedient, verändern sich die kulturellen Voraussetzungen. Nicht nur, daß auch für ihn die vielen leicht zugänglich gemachten inkommensurablen Werte verwirrend wirken und diese dadurch in ihrer eigentlichen Qualität aufgehoben werden können — es tritt auch für ihn infolge des erleichterten Zuganges die neue Situation des Konsumenten ein. Auch er bekommt ja hauptsächlich Fertigprodukte geliefert, leicht zugänglich gemachte Konsumwaren, denen alles Schwierige, das Verständnis Erschwerende, Spröde, Entgleitende usw. genommen ist. Solche Präparierungen verleiten zur oberflächlichen, die Kräfte übersteigenden Hinnahme des Gebotenen. Dabei entsteht zu leicht statt Verständnis ein Pseudoverständnis. Es werden keine eigenen Erkenntnisse vollzogen, sondern fertige Urteile übernommen.

Eine weitere Gefährdung des Menschen durch die Konsumkultur ergibt sich durch die Verdrängung seiner schöpferischen Kräfte. Wenn alles fertig ins Haus geliefert wird, vom Strudelteig angefangen bis zum Wiegenlied, werden die Fähigkeiten zum eigenen Tun brachgelegt. Man denke etwa daran, daß die Massenmedien für jedes der großen Feste nicht nur die Konsumwaren liefern, sondern auch die passende Musik, die stimmungsvollen Gedanken, die feierlichen Texte — alles gebrauchsfertig wie in Stanniol verpackt. Die Hausmusik, das Erzählen, der Gesang, das Laienspiel werden so wie manche kunstfertige Arbeit im Haushalt durch die perfekten Industrieprodukte verdrängt und müssen durch kulturpolitische Maßnahmen wiederbelebt werden.

So ist in das private Leben jedermanns, in dip intimen Bereiche der kleinen Lebensgemeinschaften, Familien, Gruppen, mit der modernen Zivilisation auch die universale Weltkultur ein- ebröcheh. Mit den Nachrichten übet 'Kalfefetts- a krišeh; ' Boiiibenlvūrfė? KapitalVfetBrėčherii' Bähk-- skandale, Explosionen, Ueberschwemmungen und so weiter kommen auch die einander paralysierenden „kulturellen Werte" in jedes Heim.

Zugleich damit wird die ganze Welt zu einem größeren Zuhause. Nicht nur in jener Form, daß mancher in einer falschen Weise die Vorstellung von der „einen, erschlossenen" Welt realisiert, nämlich, daß er meint, die Welt wäre ihm tatsächlich so vertraut, wie es ihm die Breitwandfilme, Originalreportagen, Reisebücher und

Features erscheinen lassen — nein, sondern in jener Form, daß er, wohin er auch in seinen Urlauben und auf seinen Reisen geht, sich so verhalten kann, als wäre er zu Hause. Denn die vereinheitlichten zivilisatorischen Bedingungen seines Daseins findet er ja in jedem besseren Hotelzimmer, und sogar ins Camping begleiten ihn mit dem üblichen Komfort der Radioapparat, die Magazine, das Kino, das Pocketbook, die Zeitung.

Es gibt zwei Richtungen der kulturpolitischen Bemühung. Beide verurteilen das an der Konsumfront mit der Kultur betriebene Geschäft; aber während die „revolutionäre“ das „niedere Niveau des Gebotenen" beklagt, wendet sich die „konservative“ gegen die „Verschleuderung des Unersetzlichen“. Die Positionen scheinen einander auszuschließen. Von links wird beklagt: „Mit großartiger Niedertracht hat die bürgerliche Welt in unseren Tagen mit ihrer Vergnügungsindustrie sich der erkämpften Freiheit der Arbeiterschaft bemächtigt und auch in der Arbeiterschaft das große Geschäft erkannt“ (Josef Luitpold Stern). Von rechts wird beklagt: „Die gegenwärtige kulturgeschichtliche Situation ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß das antik-abendländische Erbe verramscht wird" (Clemens Münster).

Der größte Teil der Masse kümmert sich wenig um „Kulturanweisungen“, die von oben kommen. Eher lassen sich die Massen gegen unverstandene kulturelle Erscheinungen aufputschen als für sie gewinnen. Sie greifen nach leicht konsumierbaren Gütern. Sie stimmen zwar in die Forderung nach Kultur ein, aber sie verlangen, daß sie „verständlich" sei. Sie sind unzufrieden, wenn ihnen von ihren Unterhaltungsmitteln zu große geistige Bemühungen abverlangt werden. Es sind auch im allgemeinen nicht die hohen Preise der „kulturellen Güter“, die sie abschrecken. Der Zutritt zu zahlreichen Kulturformen ist heute umsonst oder fast umsonst. Was gefällt, darf sogar teuer sein; die Leute schimpfen über die hohen Preise, aber sie zahlen sie. Oft wird für eine Fußballmatchkarte mehr Geld ausgegeben, als Goethes „Gesammelte Werke" in der Buchgemeinschaft kosten.

Der Körper ist gewachsen, der Geist nicht. Alle gutgemeinte Kulturpolitik versucht, das zurückgebliebene Wachstum des Geistes zu düngen und hochzuziehen. Doch ihre Chancen sind gering.

Die kulturpolitischen Bemühungen der Linken gehen noch immer dahin, den „Bildungshungerstreik" (Karl Kraus) der Massen zu brechen. ‘„Wit' haben Macht, Sshr haben”' Geld, jetzt'müssen wir uns noch die Kultur'erobern", kann man in der sozialistischen Presse lesen. Welche Kultur? Soll es eine proletarische Eigenbaukultur sein, soll es eine moderne zivilisatorische Lebenskultur sein? Das ist ideologisch nicht geklärt, sichtbar ist nur, daß die Verewigung der politischen Kampfhaltung immer mehr durch die Anpassung an die allgemeine bürgerliche Lebensform verdrängt wird. Die Konsumfront ist stärker als rote Fahnen, Marschierkult und Menschheitstempel; sie geht darüber hinweg. Der demokratische Sozialismus beginnt dem Rechnung zu tragen. So spricht zum Beispiel der Wahlaufruf der SPOe 1956 von „produzierten Kulturgütern", die „konsumiert" werden sollen. Eine Kultur aber, die nach Belieben produziert und konsumiert werden kann, gibt dem Druck der Massen und dem Gesetz der Konsumfront nach; die Kulturpolitik paßt sich an das Kulturgeschäft an.

Die kulturpolitischen Bemųhungen der Rechten sind nicht weniger zwiespältig. Zur „konservativen Lebensform" gehört die wenigstens teilweise Aufrechterhaltung der freien Konkurrenz und des offenen Marktes. So sehr sie vor dem Verschleiß und der Profanierung der „kulturellen Werte" bangt, so wenig kann sie es verhindern, daß Geschäft und Industrie sich ihrer bemächtigen. Sie mag zuweilen Gewissensqualen leiden, aber sie kann dem Zugriff der Händler, Bearbeiter, Vermittler und Manager, die „Kultur“ dem Konsum zugänglich machen, keine direkten Beschränkungen auferlegen.

In beiden Richtungen ist also der Zug zur Befriedigung der Marktbedürfnisse vorherrschend. Alle Kulturpolitik unterliegt dem Gesetz der Konsumfront; dieses Dilemma ist in unserer demokratischen Welt unvermeidlich.

Tatsächlich „verramscht“ links und rechts die „kulturellen Werte“, und links und rechts macht sein „Geschäft“ mit der Vergnügungsindustrie. Tatsächlich diktieren die Maschinen und die Konsumenten das Treiben, die Geschäftemacher und die Politiker schalten sich nur ein. In sozialistischen Zeitungen, die im Leitartikel gegen die Schundliteratur wettern, findet man hinten Comic strips, die der Primitivität des Publikums entgegenkommen, etwa Edgar Allan Poes Kriminalerzählung „Mord in der Rue Ravignon". reduziert auf primitive Zeichnungen und Gestammel. Die postulierten idealen Standpunkte sind dort wie da gleich isoliert.

Linke oder rechte Kulturpolitik? — das ist also gar nicht die Frage. Dazu müßten sich die ideologischen Richtungen nicht nur klar darüber sein, wie weit die Eigengesetzlichkeit der verwendeten Mittel, die der Maschinen, diese Absichten fördert oder behindert. Gewiß wirkt links noch immer die vage Hoffnung auf eine neue totale Menschheitskultur, und ebenso gewiß hält sich rechts eine hartnäckige Ueber- zeugung, daß die ganze Gesellschaft nicht direkt und unmittelbar Substanz und Material des Quantitativen sein könne. Aber die Maschine setzt sich darüber hinweg, sie setzt nicht nur die Massen frei, sondern sie verändert auch die

„kulturellen Werte", deren sie sich bemächtigt.

In der neuen Situation, in der die Maschine und die Masse in gleicher Weise Produktion und Konsum diktieren, werden alle ideologischen Vorstellungen von der Erhaltung einer alten oder der Gewinnung einer neuen Kulturform hinfällig. Die tatsächlich neue Kulturform ist die universale Konsumkultur, eine spannende und entspannende Beschäftigungstherapie für gelangweilte und aufgereizte Massen. Etwas anderes „Neues" gibt es nicht. Es gibt keinen neuen kulturellen Inhalt, keinen neuen Glauben, keinen neuen Mythos, nicht einmal ein neues Ideal oder eine neue Idee. Alles, was die Kulturindustrie durch die Zentrifuge dreht, ist alt. Aber dieses Alte ist nachher nicht mehr das, was es war! Das Neue ist das, was dabei herauskommt: eine Dreigroschenkultur für die Masse.

So erfüllt das Kulturgeschäft die ideologische Forderung, die lautet: „Kultur soll nicht Klassenbesitz derer sein, die sie sich leisten können, sondern selbstverständliches Eigentum all derer, die für sie arbeiten. Nicht einer bestimmt die Kultur — das Volk, die Masse bestimmt sie. Es soll innerhalb dieser Kultur keine Tendenzen zur Diktatur, zur geistigen Aristokratie geben.“ (Aus einem Wahlprogramm der SPOe.) Die „Niedertracht des Geschäfts“ mit der Kultur erfüllt den ideologischen Anspruch besser als die kärglichen und kläglichen Versuche einer ideologischen Eigenkultur.

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