Die lange Fahrt nach Montenegro

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Es wird getanzt in diesem literarischen Frühjahr. In Franzobels politisch hoch motiviertem "Rechtswalzer" zum Beispiel, sobald der Startschuss zum Wiener Opernball fällt. Oder - wenn auch deutlich metaphorischer - in Vea Kaisers Roman "Rückwärtswalzer", der, wie man es von dieser Autorin nicht anders erwartet, schon nach wenigen Seiten auf Hochtouren läuft. Die 1988 geborene Kaiser hat sich mit ihren ersten beiden Büchern "Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam" und "Makarionissi oder Die Insel der Seligen" einen guten Ruf als überschäumende Fabuliererin erarbeitet, die keine schräge Idee ungenutzt vorüberziehen lässt und dabei stilistisch bisweilen übers Ziel hinausschießt.

Diesem Erfolgsmodell bleibt sie in ihrem neuen Buch -wie schon die Titelgebung andeutet -treu. Vea Kaiser gibt sich nicht mit kleinteiligen Milieustudien oder psychologisch genauen Figurenporträts zufrieden, nein, sie geht aufs Ganze und spannt wieder einmal einen weiten Bogen, der von den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart reicht. Die aus dem Waldviertel stammende Familie Prischinger steht im Mittelpunkt des permanent turbulenten Geschehens, allen voran die drei Schwestern Hedi, Mirl und Wetti. Diese bilden im fortgeschrittenen Alter eine verschworene Gemeinschaft und kommen bevorzugt in Wiens dreiundzwanzigstem Gemeindebezirk, in Liesing, zusammen.

Viel erlebt dieses Trio im Lauf der Jahre, und auch an Liebes-und Beziehungserschütterungen herrscht in ihren Leben kein Mangel. Mirl zum Beispiel ehelicht einen subalternen Beamten, der eine nicht zu zügelnde Vorliebe für weibliche Gesäße hat - was letztlich zur unschönen Scheidung führt. Hedi hingegen, die zwischenzeitlich ihren Seelenfrieden als Nonne suchte, lernt im Krankenhaus Willi kennen, der eigentlich Koviljo heißt und aus Montenegro stammt. Während die Prischinger-Schwestern für das Althergebrachte stehen und ihre Küche den unverlierbaren Kindheitsgeruch von "Knoblauch, Schweineschmalz, Petersilie und Kümmel" verströmt, versucht Neffe Lorenz -ein Mann Anfang dreißig -aus den vertrauten Bahnen auszuscheren und als Schauspieler zu reüssieren. Mit mäßigem Erfolg, wie sich bereits im ersten Kapitel zeigt: Engagements bleiben aus, das Bankkonto leert sich zusehends, und zu allem Überfluss geht seine Fernbeziehung mit der in Heidelberg lehrenden Altphilologin Stephi in die Brüche. Deren Dissertation "Wenn Manen mahnen. Kommunikation zwischen Lebenden und Toten in der römischen Literatur" erinnert nicht nur daran, dass Vea Kaiser selbst - "inzwischen zum Ausgleich", wie sie sagt - Altgriechisch studiert und mit diesen Kenntnissen ihre Prosa gern anreichert, sondern regt ihren abservierten Freund am Ende sogar künstlerisch an.

Illegale Überführung

Bis es jedoch so weit kommt, hat Lorenz noch einen wichtigen Job zu erledigen. Als Hedis Gefährte Willi überraschend stirbt, wollen Lorenz' Tanten ihm seinen letzten Wunsch erfüllen: in der Heimaterde von Montenegro begraben zu werden. Da man die Wucherpreise der Bestattungsunternehmen nicht zu zahlen bereit ist, beschließt man kurzerhand, die Überführung illegalerweise selbst in die Hand zu nehmen, Willi in einem alten Fiat Panda Richtung Montenegro zu kutschieren und Lorenz als Chauffeur anzuheuern. Über eintausend Kilometer quer durch Slowenien, Bosnien und Kroatien gilt es zurückzulegen, und so ist es nützlich, dass sich ein befreundeter Metzger bereit erklärt, den Toten vorher in den Gefrierzustand zu versetzen. Fortan sitzt der mit Sonnenbrille ausgestattete und zurechtgeschminkte Leichnam im klapprigen Gefährt und soll, ehe die Verwesung einsetzt, an misstrauischen, selbstverständlich korrupten Zollbeamten nach Montenegro gelangen.

Komische Begleitpersonen

Natürlich steht diese abenteuerliche Autofahrt mit all ihren komischen Begleitepisoden im Zentrum des Romans. Vea Kaiser reiht sich damit in einen merkwürdigen Trend der europäischen Literatur ein. Spätestens seit Graham Swifts "Letzte Runde" ist es angesagt, den Toten nicht sofort ihre Ruhe zu gönnen und ihre Asche stattdessen auf eine Reise quer durch Europa zu schicken. Terézia Mora oder Catalin Dorian Florescu haben dieses aparte Motiv zuletzt aufgegriffen, und es nimmt nicht wunder, dass sich Vea Kaiser damit nicht zufriedengibt und ihren Verstorbenen nicht dezent in einer Urne reisen lässt.

"Rückwärtswalzer" ist ein Buch im typischen Vea-Kaiser-Sound, das seine Erzählstränge aus Vergangenheit und Gegenwart gut miteinander verknüpft, vor Klischees nicht zurückschreckt, Bruno Kreisky und Franz Vranitzky Nebenrollen gibt, in Wiens Gasthof Plachutta Dialoge über die mütterliche Schuld an ausbleibenden Orgasmen anzettelt und einen eleganten Mann aus dem Kamerun ins Leben einer der Schwestern eintreten lässt. Das alles ist routiniert gemacht, hat mitunter großen Charme und Witz und erzeugt doch zuletzt ein leichtes Unbehagen, ja Erschöpfung. Denn Vea Kaisers Erzählmaschine ist zu gut geölt, lässt für Ernsthaftes keinen Platz, so oft auch suggeriert wird, es gehe um Ernsthaftes.

"Wenn er so etwas in einem Film gesehen hätte, hätte er es nie geglaubt", heißt es an einer Stelle, als gelte es, etwaige Zweifel am Romangeschehen gleich außer Kraft zu setzen. Vea Kaiser weiß, was sie kann, und das können nicht allzu viele ihrer Kolleginnen und Kollegen. Doch es wäre schön, wenn sie sich darauf nicht zu sehr verlassen würde.

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