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Die Legende vom ewigen Brot

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(Fortsetzung und Schluß)

Ja, ein Gottesgericht vollzog sich an dem Bojaren Boris Borisowitsch Artamonov; und die Kunde davon hatte sich mit jener unfaßbaren Geschwindigkeit des Gerüchts verbreitet, welche heute noch dem Telegraphen vorauseilt. Niemand wußte, wer zuerst auf den Gedanken gekommen war, diesen Vollzug der ewigen Gerechtigkeit auf Erden durch seinen Besuch zum Schauspiel zu machen. Aber kein Herr wagte, seine Bauern von der Fahrt nach Swjatyj Krest abzuhalten, obwohl Erntezeit war. Manche Adelige waren selbst an der Spitze ihres Dorfes ausgezogen, wie unser Fürst.

Und die sittliche Macht dieses lebendigen Gleichnisses machte sich ganz offenbar. Alle Standesrücksichten waren in Artamonovs Hof aufgehoben, vergessen. Fürst Matwej Jurjewitsch machte gar keinen Versuch, den Bojaren zu begrüßen. Er verfiel wahrscheinlich gar nicht auf den Gedanken. Nicht als Gast war man gekommen. Die strafende Hand Gottes hatte Artamonov aus seinem Stande herausgehoben und an den Pranger gestellt — aller Welt zu Erbauung und Zerknirschung. Ja, Artamonov genoß nicht einmal das Mitleid, welches meine Landsleute auch dem schlimmsten Verbrecher nicht vorzuenthalten pflegen: er stand außerhalb aller Ordnung.

Jetzt trat der Bojar an den größten Getreidehaufen heran und begann, ein Korn . nach dem anderen beiseite zu tun, indem er sich vor jedem, nachdem er es niedergelegt hatte, unterwürfig verneigte, mit den Fingerspitzen den Boden berührend.

„Wie vor dem Zaren”, murmelte ein altes Weiblein neben uns. Ihre Worte hatten keine Stimme und drückten doch das tiefste Grauen aus.

Auf den Boden warf sich jetzt Boris Borisowitsch vor jedem Korn, das er vom Haufen nahm, und schlug dreimal die Stirn an die Erde.

Die Alte an meiner Seite verhüllte das Gesicht: „Wie vor dem Zaren, wie vor Gott!” Sie bekreuzigte sich. Gewiß, damals war allen Menschen das Brot heilig. Fiel bei Tisch ein Stück Brot zu Boden, dann galt das Mahl als geschändet und ein Gebet mußte es wieder reinigen. Aber diese Gebärden des Bojaren waren sündhaft, das verstand auch ich schon.

Plötzlich wandten sich alle Augen nach der hölzernen Tr-eppe, welche vom Herrenhause in den Hof führte. Dort war eine leichenblasse Frau aus der Tür getreten, gefolgt von einem Dutzend Mägde. Herrin und Dienerinnen waren mit Eierkörben beladen, die sie kaum zu tragen vermochten.

„Die Bojarin Irina Andrejewna!” ging es flüsternd durch die Reihen.

Artamonow war vor einigen Jahren verwitwet und hatte kurz darauf zum zweiten Male geheiratet. Irina Andrejewna war sehr jung und galt für sehr schön. Wie sie jetzt, totenbleich, mit angstvoll aufgerissenen Augen, die abgezehrte Gestalt vorgeneigt und verzerrt, von den Stufen herabstieg, erschien sie meinem kindlichen Auge al’er- dings beinahe ebenso schrecklich wie der Bojar selbst. Die Erwachsenen empfanden anders. Alles Mitleid, das sie dem rasenden Sünder verweigerten, wandten sie der geprüften Gattin zu. „Und sie war doch so schön, so dick!” hörte ich Oheim Iwan voll tiefer Rührung sagen. Nicht nur für seinen bäuerlichen Geschmack, auch in den höchsten Schichten galt damals Leibesfülle als entscheidender körperlicher Vorzug.

Der vielgereiste Oheim Iwan hatte die Bojarin Artamonova in Moskau gesehen, wo in einzelnen Häusern des Hochadels die strenge Abgeschiedenheit der Frauen bereits leichter gehandhabt wurde. Auch B-’ris Borisowitsch hatte seine zweite Gattin wahrscheinlich mit eigenen Augen nicht auf Grund der Beschreibung gewerbsmäßiger Ehestifterinnen gewählt.

Als Irina Andrejewna jetzt ihre Eierkörbe niederstellte und mit klagender Stimme ihren Gatten anrief, wurde offenbar, so begreife ich heute, da mir der jammervolle Ton wieder gegenwärtig wird, daß sie den alten Bojaren leidenschaftlich liebte. So wie ich ihn vor wenigen Monaten kennen gelernt hatte, war Artamonov ohne Zweifel geeignet gewesen, die Phantasie eines jungen Weibes zu entzünden. Seine gräßliche Veränderung hatte jetzt auch das junge Blut zur Greisin gemacht.

„Boris Borisowitsch!” so rief sie, „sieh, wie Gott uns begnadet hat! Unsere Hühner legen jede Stunde ein Ei! Geruhe zu befehlen, daß wir dir einige Eier zubereiten!”

Wie mir mein Bruder Iwan später erzählte — wir sprachen in den Jahren, die uns Gott zusammen leben ließ, gar oft von Artamonov —, wirkte Irina Andrejewna damals unentwegt falsche Wunder, die in rührendem Gegensatz standen zu dem harten, echten Wunder, wolches sich an dem Bojaren vollzog. Auch die Getreideberge im Hofe, die dem wahnsinnigen Gatten hundertfältige Erntefrucht vortäuschen sollten, hatte sie unter Preisgabe all ihrer kleinen Schätze gekauft.

Boris Borisowitsch beachtete die Eierkörbe nicht. Mit einer Knochenhand faßte er die wächsernen Fingerspitzen der Gattin, mit der anderen wies er auf das angehäufte Korn.

„Siehst du, wie Gott uns begnadet hat!” schrie Irina Andrejewna. „Geruhe zu befehlen, daß man dir ein Brot bringe! Sieh doch, wieviel Getreide dir Gott gegeben hat!”

„Zuwenig!” heulte Artamonov auf, „zuwenig für die Ewigkeit!” wandte sich von der Gattin ab und begann von neuem einzelne Körner aus den Getreidehügeln zu nehmen.

Diese Tätigkeit schien ihn zu beruhigen. Die Grimasse eines Lächelns spannte seinen verdorrten Mund, während er, kaum hörbar murmelnd, in der Totenstille des Hofes die Lippen bewegte.

„Mein Gott, er zählt die Körner!” flüsterte mein Vater. In der Tat lallte der Bojar Ziffer auf Ziffer mit dem grauenvollen Behagen des Wahnsinns. Plötzlich aber warf er das Häuflein gezählter Körner in schauerlicher Verzweiflung zurück auf den Berg:

„Unzählbar!” brüllte er, „unzählbar! Und doch zu wenig für die Ewigkeit!”

Und dann geruhte Boris Borisowitsch uns Gaffern eine Ansprache zu halten:

„O ihr Unglücklichen!” schrie er, „ihr Sünder, die ihr euch mästet wie die Schweine, die ihr euch täglich mit Kot füllet bis zum Halse! Wo ist das Brot, das ihr in der Ewigkeit essen werdet? Habt ihr es den Armen in Verwahrung gegeben? Nein! Es steckt schon in euren Eingeweiden! Wovon werdet ihr euch in der Ewigkeit ernähren? Seht, alles, was hier liegt, ist nur wie ein Korn in der Ewigkeit! Ich werde alle diese Haufen auf meinem Handteller halten, wenn ich vor Gott trete. Aber Gott wird sagen: Zuwenig, Boris Borisowitsch! Zuwenig für die Ewigkeit!” Artamonov begann markerschütternd zu weinen.

Wir verließen den Herrenhof, denn meiner Mutter war übel geworden.

Unser Volk war zu damaliger Zeit an Predigten nicht gewöhnt. Das religiöse Wesen der Masse lebte, soweit es entwickelt war, im Zeichen und nicht im Wort. Ja, auch das Wort selbst war Zeichen. Die schwersten Zerwürfnisse zwischen den Kirchenreformern und den Altgläubigen waren über die Frage, ob das Kreuz mit zwei oder drei Fingern zu schlagen sei, über die Schreibung des Wortes Jesus ausgebrochen.

Wäre nicht der Wahnwitz E’ngeber gewesen, hätte der Bojar nicht übel zum Prediger getaugt. Nicht jeder, der das Schauspiel des Rasenden ertrug, vermochte standzuhalten, als sich dieser Gerichtete an ihn persönlich wandte. Boris Borisowitsch drängte sich auf diese Weise in die Gemeinschaft zurück.

Wehklagend sank die Menge in die Knie. Völlig unerwartet hatte Artamonov die unmittelbare Verbindung zwischen dem Schauspiel und dem Volke hergestellt.

Wir zogen uns, wie gesagt, zurück, weil meine Mutter schon durch die vorangegangenen Szenen erregt, von der unvorhergesehenen Erschütterung übermannt worden war. Ich selbst blieb merkwürdigerweise still, während sie hemmungslos schluchzte. Mein Vater tröstete sie nur durch ein in der Tat seltsam beruhigendes, wohl eine Viertelstunde lang wiederholtes: Nu-nu-nu-nu. Besonnenheit und Zärtlichkeit erfüllten zu gleichen Teilen jeden Tropfen dieses Nu-nu-nu-nu, das langsam erquickend herabträufelte, wie in einer dürren Wildnis Wasser aus einem barmherzigen Fels.

Wer aber denkt, daß wir, nachdem meine Mutter sich wieder gefaßt hatte, diesen Ort des Grauens verließen, der irrt. Ich weiß nicht, wie oft noch wir den Herrenhof wieder betraten. Aber ich entsinne mich noch deutlich einzelner Bilder:

Einmal versuchte Artamonov unter gräßlichen Verwünschungen eine Vogelschar, die sich auf den Getreidehaufen niederlassen wollte, zu vertreiben und forderte die Gattin, das Gesinde, die Umstehenden, bald mit flehenden, bald mit gebietenden Worten auf, ihm dabei zu helfen. Aber sonderbar, niemand mehr gehorchte dem dräuenden Bojaren, vor dem, nur wenige Wochen war es her, noch Hunderte von Menschen gezittert hatten. Nicht einmal Irina Andrejewna leistete ihm Folge, die doch ihre Versuche, ihn zur Speisenaufnahme zu verlocken, immer noch in die demütige Form: „Geruhe zu befehlen … !” kleidete.

Ein anderesmal brachten die Bojarin und ihre Mägde frischgebackene Kuchen aus dem Hause. Boris Borisowitsch schlug seine Gattin ins Gesicht, bat sie gleich darauf auf den Knien um Verzeihung und befahl ihr zuletzt, das sündhaft vergeudete Gut an die Umstehenden zu verteilen:

„Ich bitte euch, Christen!” rief er, „nehmt die Sünde von meinem Hause! Esset die Kuchen. Speiset mich in der Ewigkeit!”

Die Besonderheit seines Wahns lag ja darin, daß er mit der durchaus folgerichtigen Unlogik des Irrsinns bald darauf ausging, das Korn als solches für die Ewigkeit zu sparen, bald in einem übertragenen Sinne die Enthaltung vom Brote und dessen Zuwendung an die Armen als Speise in der Ewigkeit auffaßte.

Meine kleine Wenigkeit fand die Kuchen lecker genug, um das Grauen des Ortes und der Stunde für eine kleine Weile zu vergessen. Viele schienen meiner Ansicht zu sein. Die Stimmung wandte sich abermals zugunsten des Unglücklichen. Meine Mutter wollte nicht essen. Aber ein Blick des Bojaren traf sie — und sie begann tapfer zu kauen.

Endlich entsinne ich mich noch der Ankunft des Archimandriten’ des Boriso- Glebskij-Klosters. Er führte, begleitet von zahlreichen Mönchen, die Ikone der Heiligen Boris und Gleb, heran, auf welche Irina Andrejewna ihre letzte Hoffnung setzte. Das Volk lag auf den Knien. Wie Blumen, welche der Sonne nachgehen, so folgten die demütig geneigten Häupter langsam dem heiligen Bilde. Staunend, den kleinen Hals emporgeredet, sah ich dieses magnetische Feld der Andacht zum ersten Male, bis mir mein Bruder Iwan meine anstößige Haltung verwies.

Die allgemeine Befriedigung wuchs. Durch die Ankunft der Ikone kam die Fahrt nach Swjatyi Krest jetzt einer Wallfahrt gleich.

Boris Borisowitsch aber verlor die wenigen Sympathien, welche er im Laufe des Tages erworben hatte, endgültig — denn er kehrte dem Heiligenbilde hartnäckig den Rücken zu: weder gütige noch zürnende Ermahnungen des Archimandriten vermochten seine Verstocktheit zu überwinden.

Nichts konnte deutlicher beweisen, daß der Bojar Artamonov, von dieser Welt losgelöst, in seiner Qualenhölle stand, unmittelbar vor dem strafenden Angesichte Gottes. Die irdischen, vermittelnden Tröstungen der Religion hatten für ihn keine Wirkung mehr.

Fürst Matwej Juriewitsch gab jetzt seinen Leuten ein Zeichen. Es war Zeit, aufzubrechen. Unterwegs überraschte uns die Nacht. Je weiter wir uns von Swjatyj Krest entfernten, um so gesprächiger wurden unsere Dorfgenossen. Die meisten Menschen sind die Nußknacker ihrer Erlebnisse: je härter das Erlebnis, um so gründlicher muß es zwischen den Zähnen zermahlen werden. Auch der Fürst und die Fürstin beteiligten sich mit lebhaftem „Ach” und „Och” und „Jej-jej”.

Etwa vierzehn Tage später starb der Bojar Boris Borisowitsch Artamonov. Er hatte mindestens siebenmal länger gelebt, als irgendein anderer Mensch, dem wider seinen Willen die Nahrung entzogen würde, stand- zuhalten vermöchte.

(Ende)

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