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Die Lehren der Geschichte

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„Das einzige, was die Geschichte lehrt, ist, daß man niemals aus der Geschichte gelernt hat “ Die bitteren Erlebnisse unseres Zeitalters scheinen dieses pessimistische Wort Hegels tausendfach zu bestätigen. Die Klage über den mangelnden Lernerfolg der Menschheit in der Schule der Geschichte ist daher heute zu einem Gemeinplatz geworden, zu einem leider meist berechtigten Vorwurf, den jeder jedem macht. Ist es da verwunderlich, wenn das alte Römerwort von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens — „historia magistra vitae“ lernten wir im Gymnasium — fast nur mehr im ironischen Sinn gebraucht wird und wenn weitgehend ernstliche Zweifel an der Lehrbefähigung der Lehrmeisterin selbst laut werden? So wird die seit Nietzsche immer wieder gestellte Frage nach Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben heute meist im negativen Sinne beantwortet.

Von drei Seiten werden die Angriffe gegen die Geschichte vorgetragen, wobei oft an sich richtige Erkenntnisse, durch einseitige Betrachtung aus dem lebendigen Zusammenhang gelöst, zu den so gefährlichen Halbwahrheiten verzerrt werden. Da sind zunächst die Enttäuschten. Sie haben der Geschichte den Weg genau vorgeschrieben, den sie hätte gehen sollen, „weil sie sonst ihren Sinn verloren hätte“. Und weil die Geschichte sich diesen Vorschriften nicht gefügt hat, sind sie nun an ihr irre geworden. Wo sie selbst keinen Sinn zu sehen vermögen, kann auch kein anderer, tief-rer Sinn verborgen sein, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“ (Chr. Morgenstern). Welch gottverlassene größenwahnsinnige

Vermessenheit liegt doch in solcher Geistes haltung, die überall, wo sich nicht sofort eine platte Lesebuchmoral aufdrängt, gleich mit dem Schlagwort von der „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ zur Hand ist. Wäre es, wenn der Ablauf des Geschehens unseren Berechnungen und Erwartungen nicht entsprochen hat, nicht vielleicht doch einigermaßen naheliegender, den Fehler bei unserer mangelhaften Erkenntnisfähigkeit und nicht beim Weltenlenker zu suchen?

Die zweite Gruppe der Geschichtsverächter stellt die bunte Schar der Nachfolger Nietzsches — und zum Teil auch der Rousseaus —, der „zurück zur Natur“ gewandten Propheten, die den Geist als den „Widersacher der Seele“ verfemen, der Öriginalgenies, die um ihre Ursprünglichkeit bangen. Gewiß besteht eine tiefe, tragische Spannung zwischen Tat und Erkenntnis und ein übermäßiger, falschverstandener Historismus kann zu einer Gefahr für die Eigenständigkeit aller Lebensäußerungen werden. Auf der anderen Seite aber kann man nicht bewußt naiv sein wollen. Die abendländische Kultur war von ihren christlichen und spätantiken Ursprüngen an immer schon außerordentlich geschichts-bewußt. Seit etwa zwei Jahrhunderten aber, seit der „Entstehung des Historismus“, hat sie ein Stadium der Selbsterkenntnis . und des geschichtlichen Selbstbewußtseins erreicht, von dem aus kein Weg mehr in den paradiesischen Zustand kindlicher Unwissenheit zurückführt. Krampfhaftes Vergessenwollen ist im Leben der Völker so sinnlos, wie in dem des einzelnen. Das Vergeben liegt in. unserer freien Entscheidung, das

Vergessen wird uns nur als Gnade des Himmels verliehen. Ein Volk ohne Geschichtsbewußtsein aber wäre wie ein Mensch, der seine Erinnerungsfähigkeit verloren, hat.

. Es soll nicht geleugnet werden, daß Geschichtsprofessoren nicht immer glückliche Politiker gewesen sind. Ebenso unbestreitbar aber ist, daß der verantwortlich Handelnde einer genauen Kenntnis der ja stets auch in die Gegenwart fortwirkenden geschichtlichen Kräfte nicht entraten kann. Ein rein intuitives Handeln, dem nicht die aus der geschichtlichen Erfahrung schöpfende kritische Vernunft regelnd zur Seite steht, führt letztlich zur Katastrophe.

Die erfolgreichen jungen Riesen, Amerika und Rußland, die dem geschichtsmüden Europäer manchmal als Ideal historisch unbelasteter Jugendlichkeit erscheinen, haben gerade in jüngster Zeit, zugleich mit der endgültigen Hinwendung zur Weltpolitik, der Pflege des Geschichtsbewußtseins und der historischen Tradition einen hervorragenden Platz in ihrem nationalen Leben und Denken eingeräumt. Nur Unkenntnis oder Überheblichkeit kann hier von „ge-schichtslosen Völkern“ sprechen.

Zu den Predigern der naturbelassenen Unbefangenheit gesellen sich die Träumer der „Tabula rasa“, die unentwegten Neuerer und zukunftsfrohen Erbauer neuer, besserer Welten. Sie wollen endlich den Ballast historischer Reminiszenzen über Bord werfen, die alten, durch Jahrhunderte zähe fortgeschleppten europäischen Familienstreitigkeiten begraben. Sie weisen darauf hin, daß eine neue, von Grund auf veränderte Welt ein neues Denken verlange und daß daher alle historische Erfahrung wertlos geworden sei. Aber steht nicht immer die jeweilige Gegenwart vor völlig neuen Aufgaben, so wie im Leben des einzelnen keine Situation ganz der früheren gleicht? Wohl erlebt unser Zeitalter eine Verflechtung des gesamten Weltgeschehens in bisher unbekanntem Ausmaß. Unsere Erde ist klein, ist der Schauplatz eines einzigen großen, wenn auch sehr verwickelten weltgeschichtlichen Dramas geworden. Da, wie mit Recht in Umkehrung des zitierten Römerwortes gesagt wurde, das Leben auch stets ein Lehrmeister der Geschichte ist, da die Erlebnisse der Gegenwart auch auf das Bild der Vergangenheit zurückwirken — weshalb jede Zeit dje Geschichte immer wieder neu schreibtA^nuß —, wird der neuen, einen und unteilbaren Welt wohl auch ein neues, die Kontinente umspannendes Geschichtsbild entsprechen und man kann vermuten, daß ein Zeitalter der großräumigen Weltmächte auch eine großräumige Weltgeschichtsschreibung hervorbringen wird. Ansätze dazu sind seit längerer Zeit zu erkennen.

Das bedeutet nun aber keineswegs eine Abwertung der europäischen Geschichte, aus der ja auch die entscheidenden Weltmächte einen großen Teil ihrer Überlieferung ableiten. Es gibt heute kaum einen Punkt der bewohnten Erde, für den die Geschichte Europas nicht auch ein Bestandteil der eigenen Geschichte wäre. In der Verfolgung einzelner Wellen und Kraftlinien über Zeiten und Räume hinweg kann vielleicht jene Zukunftsaufgabe der Geschichtswissenschaft liegen, die der Lage und den Anforderungen unserer Zeit entspricht. Man wird die auf dm engeren europäischen Schauplatz durch eine fortschreitende Verfeinerung der Methode und die Vertiefung in Einzelfragen gewonnenen Erkenntnisse bei dieser notwendigen Ausweitung des Gesichtskreises bewahren und auf andere Gebiete beispielhaft übertragen müssen. Denn auch im Bereich der Geschichtswissenschaft selbst gilt wie in dem des geschichtlichen Lebens allgemein der Satz, daß jede neue Generation auf den Schultern ihrer Eltern steht.

Man hat vor allem im vorigen Jahrhundert unter dem Eindruck der Fort-' schritte in den Naturwissenschaften immer wieder versucht, auch für die Geschichte allgemeingültige „Naturgesetze“ aufzustellen, die sogar eine Vorausberechnung des Geschehens ermöglichen sollten. So geistreich diese Versuche oft waren und so wertvolle Erkenntnisse sie gleichsam als Nebenfrüchte manchmal zeitigten, so wissen wir doch heute, daß dies grundsätzlich ein aussichtsloses Beginnen war. Widerstrebt doch die von einer Unzahl unberechenbarer Faktoren in jeweils neuer Kombination bestimmte, von den mit Willensfreiheit begabten Menschen gestaltete Geschichte beharrlich jeder Einzwängung in ein starres Kausalitätsgesetz von Ursache und Wirkung — das übrigens ja inzwischen In den Naturwissenschaften selbst problematisch geworden ist.

Seit etwa der Jahrhundertwende ist die vor allem von Dilthey, Windelband und Rickert auch theoretisch begründete Erkenntnis von der Unwiederholbarkeit, daher Unberechenbarkeit jeder geschichtlichen Situation zum Allgemeingut der historisch denkenden Menschen aller Kulturnationen geworden. Das langsame Durchsickern dieser Erkenntnis in breitere Schichten mag zunächst die eingangs skizzierte Geschichtsmüdigkeit noch gefördert haben. Poch nur, wenn wir diese Besonderheit der historischen Erkenntnis bis zum Ende durchdenken, werden wir, statt in die abgedroschene Klage von der Nutzlosigkeit der geschichtlichen Erfahrung einzustimmen, darüber Klarheit erlangen, welcher Art Lehren wir überhauptaus der Vergangenheit zlehsn können. Ej ist nicht die Schuld des Lehrers, wenn der Lernende sich Ergebnisse erhofft, die im Lehrplan gar nicht enthalten sein können.

Wenn wir den Versuch aufgeben, die Geschichte als eine handliche Rezeptsammlung fürs praktische Leben zu verwerten, werden wir auch nicht zu den Enttäuschten gehören. Denn wir werden andererseits aus der lebendigen Anschauung der in der Vergangenheit wirksamen Kräfte erst zum Verständnis für ihr Wirken in der Gegenwart gelangen. Wenn wir wissen, daß die Einsicht in die historische Entwicklung uns nicht der Verantwortung für unsere in jedem Augenblick neu geforderte Entscheidung enthebt, wird uns das geschichtliche Wissen nicht zu einem Hemmschuh des Handelns, sondern zur Hilfe bei der richtigen Entscheidung werden. Wenn wir uns stets die von Ranke einst tief erfaßte Wahr-heit vor Augen halten, daß jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ führt, daß jede Zeit ihren eigenen einmaligen Wert, ihr eigenes inneres Gesetz hat, dann wird uns unser Geschichtsbewußtsein nicht daran hindern, den Erfordernissen einer neuen Zeit als Kinder dieser Zeit mit neuen tapferen Gedanken zu begegnen. Wenn wir uns so bemühen, das lebendige Wirken geschichtlicher Kräfte zu erfassen, dann werden wir aus der Vergangenheit auch die richtigen Lehren ziehen, die uns als wertvollstes Geschenk innere Ruhe und Sicherheit im wirren Lauf der Tagesereignisse bescheren. Wir werden so, wie Jakob Burckharcjf sagte, an der1 Geschichte nicht klug werde für den Einzelfall, sondern weise für das Ganze. Alpha

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