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Die Lenzing-Saga

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DER ARBEITER RECHTS DRÜBEN am Fenster kommt auf meine Frage zu mir an das offene Fenster links in der Fahrtrichtung des Zuges von Attnang-Puchheim. Kurz nachdem dieser Vöcklabruck verlassen hat, taucht über dem bewaldeten Hügelrücken der Riesenfinger eines Schornsteins auf, aus dem der frische Westwind eine zarte graue Fahne nach Osten zieht. „Ja, dieser Schlot gehört zum Lenzinger Werk“, sagt der Mann. „Hundertsechsundfünfzig Meter ist der Schlot hoch, der höchste in Europa, soviel ich weiß.“ Eine Weile hört man nur das Rasseln der Räder. Immer mehr Gebäude und Hallen, um einen turmähnlichen Bau geschart, tauchen auf. „Sind Sie aus Lenzing?“ frage ich nach einer Weile den Mann, und, als er kurz bejaht: „Was ist dort Besonderes zu sehen; doch nur eine Fabrik?“ Der Arbeiter streift mich mit einem kurzen Blick und macht eine Handbewegung, während die Bremsen kreischen. „Eine Fabrik? Natürlich, eine Fabrik. Aber es ist ebenso wert, sie anzuschauen, wie da hinten den Attersee.“

DIESER MANN WUSSTE NICHT, daß nicht die berühmte Seenlandschaft, sondern gerade das Lenzinger Werk mein Ziel war. Er zeigte mir nach der Unterführung der Geleise noch die kaum zu verfehlende Richtung. Einen buschgesäumten Weg entlang und vorbei an vielen gedeckten, hübsch gebauten, von zwei Seiten frei zugänglichen Abstellplätzen für Kraftwagen kommt man zum Fabriktor. Das übliche Zeremoniell: Torwächter an den herabgelassenen Schranken der Fahrbahn; Anmeldeblocks im Pförtnerhaus, das im Innern fast einem kleinen Büro ähnelt. Genau wird die Zeit eingetragen, zu der man das Werkgelände betritt, der Name der Person, die man zu sprechen wünscht, der eigene Name, woher die Fahrt... aber es geht hier jedenfalls schneller als in so manchem Amt.

Ein Telephonhörer wird abgehoben, und nach drei Minuten sitze ich dem Generaldirektor der Zellwolle Lenzing AG., Dr. Franz Landerts-hammer, gegenüber. Er nimmt einen auf Karton aufgezogenen Plan zur Hand, auf dem die einzelnen Objekte mit unterschiedlichen Farben eingezeichnet sind, erläutert für den ersten Überblick die Verteilung der Produktion und versäumt nicht, gelegentlich einige humoristische Bemerkungen zu machen, wenn die Rede auf ein Thema kommt, das unmittelbar oder mittelbar mit der allgemeinen und der wirtschaftlichen Geschichte verbunden ist. Man wird draußen im Leben immer, wenn von markanten Persönlichkeiten — ob aus Bereichen der Kunst, der Politik oder der Wirtschaft — die Rede ist, gefragt, wie sich denn solche Persönlichkeiten geben. Man glaubt unter anderem, sie seien auf ihr Werk stolz. Man weiß sie hinter gepolsterten Türen, behütet von einem Stab von Sekretären und Sekretärinnen, umgeben von Diktaphonen und Telephonen, gewissermaßen über den Wolken thronend oder wenigstens wie auf einer Kommandobrücke. Da muß man die Neugier, was die Eindrücke in Lenzing betrifft, enttäuschen. Es war alles sehr sachlich und einfach. Der Mann rechts neben mir erzählte erlebte Geschichte im Plauderton.

LENZING IST EINE SAGA. Es ist noch gar nicht ein Menschenalter her, da war der Ort ein kleines Bauerndorf für ein paar Dutzend Familien. Heute wohnen auf einer Fläche von 10,66 Quadratkilometern in 536 Häusern — mag sein, daß es in der nächsten Woche schon ein paar mehr sind — 5412 Menschen. Ein Ort also in der Größe von Bad Aussee oder Landeck, bevölkerungsmäßig bedeutender als Retz oder Eggenburg, die Städte sind. Eine Stadt für sich könnte das Lenzinger Werk sein, das gegenwärtig 3100 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Rund tausend Wohnungen sind für diese Betriebsangehörigen vom Werk errichtet worden, so daß man sagen kann, jeder dritte Betriebsangehörige wohnt in einer neuen Wohnung. Wenn man es mir nicht vorher gesagt hätte, diese Bauten hätte ich eher für den Versuch einer neuen, interessant aufgelockerten Siedlungsform gehalten, die ganz und gar nichts von der alten Ära der Arbeiterwohnhäuser an sich hat. Freundlich und licht stehen sie im Lichte des umwölkten Junivormittags da.

GEGEN ENDE DES VORIGEN KRIEGES war das Lenzing-Werk zur Sprengung bestimmt, nachdem jede Produktion wegen der die Verbindungswege treffenden Luftangriffe und wegen mangelnden Personals und erschwerter Rohstofflage eingestellt war. Nach Kriegsschluß sah es nicht weniger trüb aus. Das Aktienkapital war verloren, der Maschinenpark völlig zerrüttet. Die hier bestimmenden Amerikaner hatten wenig Interesse für die Anlage. „Was wollt ihr mit diesem Riesenwerk in eurem kleinen Staatsgebiet, das in Zonen aufgeteilt ist, wo niemand weiß, was das Schicksal dieses Werkes einmal sein wird; und wenn es überhaupt je weiterbestehen wird, wohin soll es eigentlich liefern? Wir schicken euch Baumwolle, am besten ist es, man demontiert diese unorganisch gewachsene Anlage ab...“ und so weiter. Pikant genug, da später in der entscheidenden Sitzung des Allierten Rates die Russen gegen eine Demontage waren. Vielleicht, weil unter anderem für das in ihrer Zone lagernde Buchenholz hier eine Verarbeitungsmöglichkeit bestand; vielleicht auch, so deutete mir eine Persönlichkeit, die Einblick in die derzeitgen Exportmöglichkeiten besitzt, augenzwinkernd an, weil die Russen wußten, daß hier eine Produktionskapazität bestand; die für den Osten von nicht geringer Bedeutung werden konnte (und es inzwischen wirklich geworden ist). Die Sanierung des Werkes zog sich lange hin; es kam zu einer Zusammenlegung des Aktienkapitals und einer Aufstockung, und man hat zunächst nach dem Rat, auf den Staatsvertrag zu warten, Österreich ermächtigt, den Betrieb weiterzuführen. Ein dorniger Weg begann, nicht ohne Engpässe, etwa 1958, als die ganze Welt auf diesem Produktionsgebiet zu Kürzungen bis zu 30 Prozent griff und Lenzing allein unbeschränkt weiter erzeugen konnte. Mit ganzen vier Tonnen Produktionswaren täglich hat das Werk nach dem Krieg den Betrieb aufgenommen. Heute beträgt die Erzeugung, wie ich beim Rundgang durch die weitläufigen Anlagen hörte, täglich hundertfünfzig Tonnen. Von der Jahreserzeugung von 54.000 Tonnen gehen 32.000 in den Export, an dem 22 Länder teilhaben. Der Wert dieses Exports liegt bei 750 Millionen Schilling. Für heuer erwartet man einen Jahresumsatz von 900 Millionen. Jährlich werden ungefähr achtzig Millionen für Investitionen und fünfzig für Reparaturen aufgewendet. „Warum so hohe Reparaturkosten?“ frage ich gleich, und die Antwort verweist auf den hohen Verschleiß eines chemisch bestimmten Werkes.

DURCH DIE ZENTRALWERKSTÄTTE bin ich bald darnach gekommen und meinte, sie sehe wie eine Maschinenfabrik aus. „Das stimmt im Grunde“, gibt der mich führende Dr. Keiper zu. „Diese Werkstätte hat den Charakter einer mittleren Maschinenfabrik, und zwar, wie Sie an den Werkzeugmaschinen sehen, einer modernst ausgerüsteten, in der Sie allein eine Stunde lang interessante Studien betreiben könnten. Der Umsatz dieser Werkstätte beziffert sich auf rund sechzig Millionen Schilling.“ Neben dieser Zentralwerkstätte gibt es Versuchslaboratorien, eine Versuchsspinnerei und Versuchsweberei. In drei großen Rückgewinnungsanlagen spart man Erzeugungskosten mit dem Erfolg ein, daß die Gestehungspreise — im Gegensatz zu anderen Erzeugnissen und Leistungen — in Lenzing stetig gesenkt werden konnten. Von dem eingesetzten Schwefelkohlenstoff beispielsweise werden vierzig Prozent zurückgewonnen, Eindampfer ersparen jährlich eineinhalb Millionen Schilling, hundert Tonnen Ruß fängt die Entrußungsanlage für anderweitige industrielle Verwertung ab.

WIR GEHEN DURCH DAS GROSSE KRAFTWERK. Ich sehe die Kesselfeuer lodern. Wir kommen aus dieser heißen Zone in kühlere Zonen, schauen der Zellwolleerzeugung zu, nehmen eine Spinndüse mit ihren 6060 winzigen Öffnungen in die Hand (an einer Maschine befinden sich 214 solche Düsen, und acht bis zehn Maschinen laufen soeben). Dann wandern wir weiter in die Zellglasabteilung — hier wird das Austrophan erzeugt (die Klarsichtpackungen des modernen Verkaufs sind erst durch diese landläufig als Zellophan bezeichnete Hülle möglich geworden). Dort, am Anfang der achtzig Meter langen Erzeugungsstrecke, ist das Austrophan noch etwas gelblich, wird in der Mitte der Walzstrecke sichtlich klar und schimmert am Ende wie Glas. In den Verarbeitungsabteilungen bemerke ich die Rollen der für die Packungen der Tabakregie bestimmten Klarsichtsäckchen, und die roten Verschluß-Streifen laufen wie Seidenfäden halbsternförmig ohne Unterlaß ab. Draußen vor der Halle begegne ich nach dem Überschreiten der vielen Bahngeleise den zum Mittagessen in die werkseigenen Restaurationsräume gehenden Arbeitern. „Eine genaue Einteilung ist für das Servieren nötig“, höre ich. So ohne Hast habe ich übrigens noch selten ein Werksrestaurant arbeiten sehen, und doch klappt alles wie am Schnürchen. *

LENZING WÄCHST WEITER. Eben ist man dabei, eine neue Kirche mit einem interessanten Turm zu bauen. Das Volksbildungswerk bietet In- und Auslandreisen, die Bücherei ist sorgfältig ausgewählt - mit Welthorizont, das kann man als einstiger Bibliothekar ruhig sagen —, der Werkkindergarten könnte in jedem Bezirk von Wien mit Ehren bestehen, die gerühmte Musikkapelle habe ich leider nicht hören können. Wenn man von der Höhe des Ortes abschiednehmend über das Werkgelände blickt, fällt noch etwas auf. es ist nicht unwichtig: das Verständnis, eine industrielle Anlage in die Landschaft einzugliedern. In Lenzing lenzt es in dieser Hinsicht, wo es anderwärts herbstelt.

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