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Die letzten Dinge: Vision in Wien

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In zwei Kaffeehäusern am Luegerplatz sind im Winter 1957/58 Dokumente entstanden, die zu den erstaunlichsten und ergreifendsten Zeugnissen christlicher und denkerischer Existenz unserer Epoche gehören. Reinhold Schneiders „Winter in Wien“ ist das mächtigste Werk des Dichters. Eine unvollendete Phantasie, Fragment, Essay, Notiz, wie die Essays des Michel de Montaigne und die Pensee's des Blaise Pascal, womit bereits ihr Standort in der Mitte zwischen diesen beiden Dokumenten der Weltliteratur angedeutet wird: zärtliche Ergriffenheit im Angesicht der Welt und der Weltdinge vereint sich hier mit dem tödlichen Erschrecken des Christen vor der Undurchdringlichkeit des Kosmos und der Geschichte. Viele Freunde und manche Gegner Reinhold Schneiders, die ihn, wie einige Literaten der heutigen Bundesrepublik Deutschland gerne als „christlichen Trak-tatisten“ oder eben als romantischen Poeten klassifizieren und justifizieren wollten, werden durch dieses Dokument eingeladen, sein Gesamtwerk, sein Lebenswerk mit neuen Augen zu lesen. Hier nämlich, im Angesicht des Todes, des Hengstes Maestoso Alea (der, auf einer Postkarte, stets beim Schreiben vor dem Denker lag), hat, im Wiener Cafe, in Ironie, letzter Distanz und Verbundenheit in großen Schmerzen.und in einer jenseitig anmutenden Heiterkeit Reinhold Schneider sich „ausgesprochen“. Dieser überaus keusche und reine Denker, dem Verehren, Anerkennen des Guten noch in brüchigster Gestalt des Menschen, des Nächsten, Bedürfnis des Geistes und Herzens war, spricht hier „offen“ sich aus, so daß der Leser den Atem anhält. Nirgends im christlichen Raum unserer Epoche des 19. und 20. Jahrhunderts sind in reiner Ergriffenheit und in der großen Form der Hochsprache Bedenken von dieser Wucht und Bedeutung über das Christentum geäußert worden.

Darf man hoffen, daß die christlichen Theologen aller Observanzen und Konfessionen diese Aeuße-rungen, diese Selbstentäußerungen und Bekenntnisse ernst nehmen werden? Dutzende von Traktaten müßten aus dem Handel gezogen, müßten von der eilfertigen Feder dem Schweigen übergeben werden, nach Lesung, nach Annahme der Bedenken dieses Schmerzensmannes. Ein Christentum, das es wagen sollte, über diese Bedenken eilfertig und leichtfertig zu hüpfen, schlösse sich selbst aus von der großen globalen Anstrengung der Menschheit heute, sich selbst zu begreifen in einem abgründigen Kosmos und einer Geschichte, die überall voll Grauen und Entsetzen ist.

Viele, Freunde und Gegner, kennen die Wucht, den elementaren Ernst des christlichen Denkers Reinhold Schneiders bisher nur aus seinem unerschrockenen Standhalten im Angesicht des großen Paradoxon „Krieg und Frieden“; eben den Mann, der den Pour le Merite, Friedensklasse, und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, weil er sich weigerte, sich den eilfertigen Schlüssen von „Pazifisten“ und Kriegsideologen anzuschließen, letzt, an Hand des „Winters in Wien“, wird der größere Zusammenhang sichtbar, in dem Reinhold Schneiders Bedenken des Friedens steht: der Kosmos, wenn man das Universum noch mit diesem platonisch-antiken Namen nennen darf, nach Reinhold Schneider, offenbart sich ihm ebenso wie die Geschichte des Menschen als eine vom Menschen schlechthin nicht zu bewältigende, nicht verstehbare Wirklichkeit. Das läßt sich so, auf unserem Papier, leichthin andeuten, sagt aber kaum etwas aus über die Ergriffenheit des Dichters und Denkers Reinhold Schneider. Es gibt nämlich schlechthin nichts, in der Wirklichkeit der „Natur“ (was ist sie?) und der Geschichte des Menschen, das ihn nicht ergreift. Schneider, der in den letzten Jahren seines Lebens die Lektüre naturwissenschaftlicher Bücher und den Umgang mit Naturforschern, Aerzten usw. allen anderen Publikümern vorzog, hält immer wieder den Atem an: was geschieht da, in der „Natur“? In dieser „Kathedrale der Sinnlosigkeit“: Haie werfen sich über die Walrosse, von der Seite her, Riesenquallen kämpfen mit den Walen; der Frosch wird, aufrecht stehend wie ein Mensch, von dem ihn umschnürenden Egel ausgesaugt, Untergang der Sauriere und der Mammute; der schönste Vogel hascht im Fluge den schönsten Schmetterling; er pflückt die Schwingen ab und läßt sie dahinwehen und verschlingt den zarten Leib...; die Gottesanbeterin verzehrt Kopf und Vorderleib ihres Gatten, derweil dessen Unterleib sie noch begattet; eine Ameise der Mittelmeerländer dringt nach dem Hochzeitsflug in die Brutkammer einer anderen Art ein, erklettert den Rücken der legitimen Königin, sägt ihr langsam mit den Kiefern den Kopf ab und tritt nun ihre Herrschaft an; winzige, augenlose Diebsameisen beißen sich in ungeheuren Mengen in den Körpern des Wirtsvolkes fest; die Larven der Ibisfliege ernähren sich regelmäßig von den toten Körpern ihrer Mütter; Leben tötet, mordet Leben — überall in der Natur, und in einer Grausamkeit und Brutalität — die nur noch von einem Wesen erreicht wird: vom Menschen, in seiner Geschichte.

Wobei die ganze uns heute faßbare „Weltgeschichte“ zu einem winzigen Brand aus Blut und Feuer schmilzt, angesichts der 400.000 Jahre der Faustbeilkultur — und angesichts eines Universums, in dem „tausend Millionen Milchstraßen“. Milliarden Sterne und- Lichtjahre Rollen spielen, die wir nicht kennen.

Angesichts der „rotierenden Hölle“ des Lebens, der Wirklichkeit der Natur, des Menschen und seiner Geschichte interessiert sich Reinhold Schneider nicht mehr für die „eigene Schreiberei“ (S. 266). Das „Antlitz des Vaters? Das ist ganz unfaßbar“. Immer wieder kehrt dieses Motiv, als Leitmotiv, in diesen Dokumenten wieder. Sicher aber ist: Leid, Schmerz, Freude der Welt. Mit einer unbeschreiblichen Zärtlichkeit neigt sich Reinhold Schneider der Welt zu. Als aufmerksamster Zeitungsleser (täglich liest er die englische, französische, holländische und skandinavische Presse) wird er gepackt durch das Leid kleiner Mädchen, ergriffen durch alle jene „Unfälle“, die tagtäglich die Zeitungen berichten und die jedermann überliest, übersieht.

Christsein in dieser Welt? Wie muß das Ja beschaffen sein, das diese Weltwirklichkeit trägt, erträgt? „Nur einem heftigen Willen zum Diesseits entkeimt (nach der Lebenskrise) der Glaube an das Jenseits; wer nicht will, der glaubt eben nicht.“ „Wollte man also missionieren, so müßte man den Willen zum Diesseits stärken, die Angst taugt zu nichts. Aber wo sind die Argumente?“'

Angesichts der Kanzel Meister Pilgrams im Stephansdom entwickelt Reinhold Schneider seine Vision einer Kirche, die dieser Wirklichkeit gewachsen sein könnte: „ ... Papst Gregor an der Kanzel des Stephansdoms, der die Hostie zweifelnd in Händen hält, und Hieronymus, der tote Kardinal, trafen mich ins Herz. Sie sind beherbergt im heiligen Raum. Es müssen Tod und Zweifel in der Kirche sein. Vor ihren Mauern bedeuten sie wenig, sind sie überall. Aber hier! Welche Konzeption der Kirche, die Raum für solche Schmerzen, solche Haltungen hatl Die Dämonen müssen außen tragen und speien; sie sind Gegengewicht. Frage und Zweifel sind innen, im religiösen Bezug. Große Einsamkeit, große Freiheit, die Ihr zur Heimkehr ruft, seid gegrüßt!“ (S. 114.)

„Meine eigene religiöse Verfassung: der Orchidee ist es zu dunkel auf dem Boden des Urwaldes; sie erklettert die Stämme und erreicht die Kronen, hier lebt sie aus dünnen Humusschichten in Gemeinschaft mit einem Pilz, der die erreichbaren Nährstoffe assimiliert und überträgt und die Besamung ermöglicht; er ernährt die Orchidee und saugt sie aus und wird endlich von ihr verdaut. Der Zweifel ernährt den Glauben; der Glaube den Zweifel.“ (S. 242.) Was tut not in einer Lage, in der „die biologische Situation des Menschen ebenso verzweifelt ist wie die kosmische“ (S. 196)? Antwort: radikale, extreme Existenzen.

„Man nimmt an, daß die Gene in der Art der Wirkstoffe in wechselndem Einsatz am Aufbau des Körpers, am Fortgang des Lebens arbeiten, fluktuierend gewissermaßen (also nicht etwa als Träger abgekapselter Eigenschaften). Nun schätzt man ein Gen auf fünfzig Millikrom, auf fünfzig ein Tausendstel eines tausendstel Millimeters; die Wirkstoffe wie etwa ein Sekret des Nebennierenmarks. Adrenalin oder die Hormone der Nebennierenrinde, all die in sensibelstem Widerspiel steuernden, regulierenden Kräfte, deren Bedeutung und Wirkweise wohl noch viele Fragen stellen, sind dem gesamten Organismus gegenüber eine, kaum mehr feststellbare Geringfügigkeit. Aber ohne sie kann er nicht gesund bleiben, kann er nicht leben. Sollte es sich mit den Völkern anders verhalten? Kranken sie am Ausbleiben, am Versagen der Wirkstoffe, der Spurenelemente? Und was wäre zu tun? Zwei, drei Existenzen sind nichts in einem aus achtzig Millionen (oder dem Vielfachen) aufgebauten Volkskörper. Vielleicht aber können sie durch äußerste Intensivierung zu Wirkstoffen werden: zu jenen seltenen, kaum oder gar nicht bekannten personalen Leistungen, die in den Blutstrom eingehen, die inneren Prozesse ermöglichen, beschleunigen, hemmen, ohne sich selbst zu verändern. Existenzen also wie Metalle. Ein einziger, der die Wahrhaftigkeit bis zum äußersten intensiviert, oder das Tragische an sich, die Kunst, den Glauben, die Liebe, kurz, extreme Existenzen tun not. Wer den Fehler macht, sie zu isolieren, sieht sie im Unrecht. Ein Wirkstoff, der ohne Gegenspieler bliebe, schädigt. Aber das Extrem findet immer seinen Gegner, wie der Ruhm seinen Feind, ein Werk die Jugend, die es verwirft und zerstört. Das Extrem kann in sich nicht vollkommen sein. Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind.“ (S. 138.)

Reinhold Schneider ist ein chemisch reines Element dieser Art. Nicht zu beantworten ist nur die Frage: ist der Körper seines Volkes und der Leib der Christenheit stark genug, ihn aufzunehmen, „zu verdauen“? Ihn in den Blutkreislauf und inneren Atem einzulassen?

Damit rühren wir, in Wien, an ein anderes. Kein deutscher Dichter, Denker, Intellektueller hat, seit den Tagen Leibnizens und Goethes, Oesterreich so ernst genommen wie Reinhold Schneider (es sei denn, in seiner Hofmannsthal-Rede, sein Freund Theodor Heuss). Wien wurde nach dem letzten Krieg weltbekannt, in einer ebenso einseitigen, vulgären wie genialen Art, durch Graham Greenes „Dritten Mann“.

Der Untergrund Wiens im „Dritten Mann“ erweist sich, in der Wien-Vision Reinhold Schneiders — in der vieles ungesagt bleibt, aber im Schweigen zwischen den Worten dröhnend an unser Ohr pocht — als das oberste, oberflächigste Stockwerk des großen unterirdischen Kanalsystems — der unterirdischen Ströme, die im Phänomen Wien und Phänomen Oesterreich zusammenstoßen.

In diesem Sinne kommt Reinhold Schneiders „Winter in Wien“ eine außerordentliche politische und metapolitische Bedeutung zu. Die deutschen Intellektuellen werden in Hinkunft nicht mehr, wie meist bisher, mit einigen Redensarten über Oesterreich hinwegkommen können, wenn sie sich selbst und ihre eigene Arbeit redlich leisten wollen. So mit einem freundlichen Ueberschweigen, und jener nicht ungefährlichen Bonhomie, die österreichische Dichter und Persönlichkeiten, die einem in den eigenen Kram, das eigene Geschäft passen, kurzerhand als „deutsche Dichter“ usw. vereinnahmt, ist es ja nicht getan.

Ob man in Oesterreich die Mahnungen, Bitten, Beschwörungen des Reinhold Schneider, an unsere Adresse gerichtet, vernehmen wird? Diese Bitte, doch nicht ganz in Geschichtslosigkeit, Besinnungslosigkeit, Provinzialität des Herzens und Geistes zu versanden? In einem Selbsthaß, einer Gleichgültigkeit gegen die eigene Vergangenheit und Zukunft, die erschrecken lassen? Wer wagt auch hier eine Antwort zu versuchen? — Unseren Politikern und Verantwortlichen sei ins Stammbuch ein Wort geschrieben, das dieser deutsche Seher und Sterbende am 5. März 1958 auf der letzten Seite seines Wiener Tagebuchs einträgt: „Später, im Hause des Herrn A. v. S., de* Bruders des einstigen Bundeskanzlers, tauchen im Gespräche die Schrecken der zwölf Jahre auf, von denen kein Einsichtiger behaupten kann, daß ihre Wiederholung unmöglich ist.“

Es wird keinen Einsichtigen geben, der nach Lesung, nach Annahme der bitteren Wahrheiten dieses erstaunlichen Dokuments, eines der wenigen reinen Erzeugnisse der Literatur unserer Zeit, nicht, fast auf jeder Seite, Notizen vorfinden wird, die in sein Stammbuch passen. Worte des Deutschen Reinhold Schneider, der ist, was Grillparzer von sich selbst bekennt: „ein Dichter der letzten Dinge“.

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