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Die Lust zu leben

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Auf den Dächern der Stadt herrscht emsiges Treiben: die vielen privaten Fernsehantennen werden abgebaut und je Haus durch eine Gemeinschaftsantenne ersetzt. In einer neuen Verordnung, die auch nicht ein Wort über den unerwünschten Empfang des Westprogramms enthielt, zeigte sich die Stadtverwaltung besorgt um „die Altbausubstanz der Häuser“. Ihr drohte angeblich Gefahr durch die Privatantennen, deren „Halterung Schäden an den Dächern“ verursache. Der Schaden war politischer Natur, denn diese Antennen waren nach westlichen Sendern ausgerichtet. Die neuen Gemeinschaftsantennen kennen diese Richtung nicht, aber wer den Westen mit seinem Programm sehen will, hat sich längst mit einer Zimmerantenne versorgt. Außerdem gibt es auch eine „Nachbarschaftshilfe“: da lebt im Hause eine Familie, die sehr ungünstig wohnt. Eine Familie im obersten Stockwerk bringt eine Zimmerantenne innen am Fenster an und führt eine Zuleitung zu der Familie nach unten. Handel und Politik sind nicht koordiniert. Die Zimmerantennen produzierende Industrie unterliegt der Produktionsplanung und muß verkaufen. In Magdeburg hat sie verkauft und den Plan bei weitem vorfristig übererfüllt.

Die Politik macht nicht mehr wie noch vor einem Jahrzehnt einen harten Strich durch die Bevölkerung. Familien mit SED-Mitgliedern verkehren heute mit solchen, die betont parteilos sind. Die Jugend setzt sich über ideologische Differenzen hinweg, flirtet miteinander und heiratet — für beide Seiten — „politisch unmöglich“. Was nicht hindert, daß sich die Großeltern aus beiden Lagern verzückt an der Wiege einfinden. Der Opa mit dem SED- Abzeichen toleriert die Babyausstattung aus dem westlichen Paket. Und der bürgerliche Großvater hat nichts dagegen, daß der Parteiopa dem jungen Vater mittels Beziehungen einen besseren Posten verschafft.

Etablierter Sozialismus

Längst hat die Schwungkraft der Partei nachgelassen, hat sich durch jedermann geläufige Phrasen isoliert. Die Jugend gibt den Ton an. Sie arbeitet hart und Will vorwärts kommen. Ein Reservoir von Lippensprüchen hat sie ständig parat. Ihre Kenntnis und Anwendung sind ein taktisches Mittel. Die harte politische Auseinandersetzung von früher ist nicht mehr existent. Sie findet in den Zeitungen statt, die man nur der lokalen Information halber liest. Sogar der Kirchenkampf ist verflacht. 1958 gab es in Magdeburg die meisten Kirchenaustritte. 1967 nicht einmal mehr fünf Prozent davon. Dagegen ist die Scheidungsquote hoch. 16 Scheidungen kommen in der Stadt auf je 10.000 Paare. In der Bundesrepublik liegt die Quote bei 9,5:10.000. Die Partei kümmert sich hingegen mehr um die Ehevorbereitungen'. In einer Pressekampagne wurde der Charakter von Heiratsannoncen „sozialisiert“. Materielle Andeutungen wie „Autobesitzer“ oder bürgerliche Formulierungen wie „aus gutem Hause“ hat man ausgemerzt. Die Jugend ist nicht beeindruckt. Liebe Wird groß geschrieben. Von dem in der FDJ-Jugendzeitschrift beschworenen Puritanismus ist nichts zu merken. Verschiedentlich stolpert man über sich in der Öffentlichkeit ungeniert küssende Pärchen. Eine Welle von Lebensfreude überollt die Partei. Das Generationsgesetz macht vor der SED nicht halt.

Vereinsamtes Alter

Differenzen mit den Kommunisten erledigt die Jugend in einer von Ihr geschaffenen sportlichen Atmosphäre. Voller Tricks und mit der Anwendung politischer Zitate zum richtigen Zeitpunkt. Die Partei wird zunehmend in einen luftleeren Raum gedrängt. Zwar hat sie die Herrschaft, aber das Leben der Jugend hat sich eigene Bahnen gesucht. Die Protestbewegung der Jugend in aller Welt geht in Mitteldeutschland einen bewundernswerten Weg: sie negiert das Regime durch überschäumendes Leben; die einzige Möglichkeit, den Folgen einer offenen Provokation zu entgehen.

Anders zeigt sich die Lage der älteren Menschen. Sind sie noch arbeitsfähig oder im Familienverband, so werden sie von der Jugend beeinflußt. Isoliert lebende Rentnerehepaare und alleinstehende Personen führen ein menschenunwürdiges Leben. Sie sind unfähig, sich die in den Rentnerklubs gebotenen Vorteile durch Lippenbekenntnisse zu verschaffen. Es ist eine trostlose Einsamkeit um diese Menschen. Zu ihren seelischen und politischen Kümmernissen kommen auch noch materielle. Es hat keinen großen Wert für sie, daß die Mindestrenten von 120 Mark ab 1. Juli auf

150 Mark erhöht werden. Dem stehen auch Preiserhöhungen gegenüber. Die Flucht von Angehörigen. Kindern und Freunden nach Westen hat diese Menschen vollends hoffnungslos gemacht. Sie trauern versäumten Gelegenheiten nach. Der jährliche Besuch im Westen ist oft keine Freude mehr. Manchmal wird auf diese Möglichkeit schon verzichtet. Nur die Kirche kümmert sich um diesen großen Menschenkreis. Der Geruch von Armut und Sorge paßt auch nicht mehr in die mitteldeutsche Landschaft.

Nur eines ist in dieser Beziehung anders als in der Bundesrepublik: In der Öffentlichkeit begegnet die

Jugend dem Alter mit einem sichtbaren Respekt. Am Leben kann aber nur noch der arbeitsfähig gebliebene Rentner teilnehmen. Er allerdings hat auf Grund seiner Erfahrung sogar Macht im Betrieb zu erwarten. Sein Rat vermag in einer Fabrik einen Beschluß der Betriebsparteigruppe umzustoßen.

Aus diesem Grund ist auch die Zahl der noch mit 70 Jahren arbeitenden Menschen hoch, zumal die alten Praktiker hoch bezahlt werden. Bei Prämienzahlungen werden sie grundsätzlich bevorzugt. Die Zeche zahlt heute in Mitteldeutschland der nicht mehr arbeitsfähige alte Mensch, wenn er ohne Familie oder Freundeskreis ist. Nur in Ausnahmefällen ist der Lebensabend von Verbitterung frei. Doch das ist gewiß kein spezielles Problem der Sowjetzone — nur, daß es dort mehr Menschen härter trifft

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