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Die Lyrik des Satirikers

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Einst war es Klopstocks Sprache, die, aus dem Erlebnis des Pietismus stammend, eine neue Entwicklung der deutschen Dichtung eröffnete. Diesem seraphischen Schwebeton gesellte sich alsbald die wilde Jagd der Bürgerschen Sprache — mit Klopstock und Bürger waren zum erstenmal die Ausmaße unserer Lyrik abgesteckt. Jene klassische Blüte der deutschen Dichtung währte etwa achtzig Jahre, die wir das Jahrhundert Goethes nennen. Die andere Blüte unserer Dichtung begann um 1880, und wieder sind es zwei, die zu einem neuen Ziele durchbrechen --Nietzsche und Liliencron. Es folgen Stephan George, Rilke, Else Lasker-Schüler und, als gewaltiger Ausklang, Karl Kraus.

Die meisten kennen Karl Kraus nur als genialen satirischen Prosaisten. Aber es ist wohl kein Zufall, daß die Mehrzahl der einstigen großen Satiriker, wie Aristophanes, Petronius. Juvenal und später Swift, zugleich lyrische Dichter gewesen sind. Gerade der Satiriker, der das sensibelste Ohr zum Abhören der Gemeinheit hat, hält dieses auch den Einflüsterungen der Muse offen.

Ob Karl Kraus in seiner Knabenzeit Gedichte gemacht hat, wissen wir nicht, es steht aber zu vermuten. Schon sein erstes Aphorismenbuch „Sprüche und Widersprüche“ enthält einige Gedichte, darunter das großartige „So wird das Wunderbild der Venu fertig...“ Dann, kurz vor dem ersten Weltkriege, kommt es in der Fackel immer öfter zu gewissermaßen „lyrischen Eruptionen“. Etwas sieht äußerlich wie eine Prosaglosse aus („Beim Anblick einer sonderbaren Parte“) und erweist sich dann, mit nur geringen Veränderungen, als ein rhythmisches Gedicht. Oder, ein Prosaaufsatz steigert sich gegen Ende zu shakespearlschen Jamben, die aber noch fortlaufend als Prosa gedruckt werden. Und man spürt, daß der ganze Felsenboden seiner Prosa auf flüssiger Glut schwimmt.

Der geistige Chor des ersten Weltkrieges, welcher äußerlich um nichts, innerlich aber aus Machtstolz ausbrach, ließ dann bei Kraus die Gedichte wie Tränen fließen. Es ist, als hätte es sich lange aufgestaut: der erste Gedichtband, „Worte in Versen“, erschien 1916; weitere folgten 1917, 1918, 1919, 1920, 1922, 1923, 1925 und endlich Band IX 1930. Dazu kamen noch die „Zeitstrophen“ 1931 und seine Nachdichtung der Shakespeare-Sonette

Das alles ist mit Inspiration geschrieben, doch nicht aus Inspiration, sondern diese kam m i t dem Gedichtschreiben. Kraus hat nie auf Inspiration gewartet, sondern die Inspiration wartete auf ihn.

„Gebt ihr euch einmal für Poeten, so kommandiert die Poesie“, heißt es bei Goethe. — Es hat Wortgenies gegeben, die zeitlebens eine eifersüchtigfeindliche Stellung zur Lyrik einnahmen, wie zum Beispiel Leo Tolstoi: der wollte es nicht begreifen, daß lyrische Dichtung auf einer höheren Ebene stehe als Prosa. Diese höhere Ebene der Lyrik wird bei niemand so sichtbar wie gerade bei Kraus; man sieht, besonders zu Beginn seines Dichtens, wie ihm der höhere Ton förmlich abgerungen wird. Denn die rhythmische und reimhafte Bindung der Lyrik ist eine liturgische Bindung.

Eigentlich enthält jedes Gedicht Gedanke, Gefühl und Gesehenes — nur daß der Gedanke hierarchisch über dem Gefühl und das Gefühl über dem Gesehenen steht: doch immer so, daß das Höhere das andere, einschließend, „aufhebt“, das heißt bewahrt und verklärt. — Man hat Kraus' Lyrik anfangs für epigonisch erklärt, und er selbst hat die spöttische Bezeichnung „Epigone“ als Ehrenname für sich aufgegriffen:

Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.

Ihr aber seid die kundigen Thebaner. Man hielt sie deshalb für epigonisch, weil seine Lyrik, gedichtet in einer Zeit, wo das Neue sich im Auflösen der moralischen und ästhetischen Bindungen gefiel, gerade in diesen Bindungen der Grammatik, Metrik und des Reimes ihre Lust, ihre Erfüllung fand. Wie es sich für den letzten großen Dichter einer lyrischen Blütezeit ziemt, ist Kraus treuer Bewahrer des überkommenen klassischen Erbes. „Erstaunlich, wie manches an Goethe gemahnt“, heißt es in einem seiner epigrammatischen Gedichte.

Karl Kraus' Lyrik ist zwar durch die Höhe der Lage, nicht aber in ihrem Wesen von seiner Prosa unterschieden, welche für ihn ebensosehr Kunst und Dichtung war. Denn es liegt in der Eigentümlichkeit seines Worterlebens begründet, daß die Unterscheidungen zwischen Gedankenlyrik, Gefühlslyrik und Naturlyrik vor diesen Versen ihren Sinn verlieren, weil sich für Kraus Gedanke, Gefühl und Natur im Wort treffen — das Wort ist die primäre Wirklichkeit, und in seiner Sphäre sind die irdisch vorhandenen Dinge, denen sie Namen gibt, wie „Wald“, „Geliebte“ und „Tod“, schon vorhanden und beschlossen. „Du lebst im Wort und stirbst an einer Silbe“, heißt es im „Traumstück“. Man sieht, daß dieses tiefe Verhältnis zum Wort zugleich auch das christliche Verhältnis ist, denn für den Christen ist das Wort das Symbol jenes ewigen Wortes, ohne welches „nichts gemacht ist, was gemacht ist“:

„Denn wißt, das Wort, das am Anfang war, das sind meine biblischen Siebensachen“, heißt es in dem Gedicht „Aufforderung“.

Jedes organische Gedanken- und Lebenswerk ist aus einem Samenkorn emporgeschossen; man kann mit Recht von dem Kantischen, von dem Kierkegaardschen Gedanken sprechen, und so ist auch das vielfältige Werk von Karl Kraus einheitlich und in jeder seiner Verästelungen mit der Wurzel agnoszierbar. Die Wurzel des Krausschen Gedankens ist das tiefe Bewußtsein von der in Schöpfung und Welt beschlossenen Antithetik. Darum ist auch seine Sprache antithetisch. In dei Sphäre schöpferischer Dinge ist die Antithese fruchtbar. Geist und Sinnlichkeit, Mann und Weib, Gedanke und Sprache rufen einander hervor und wachsen aneinander empor. Sie kommen von einem Ursprung und haben dasselbe Ziel. „Ursprung ist das Ziel“, sagt Kraus in einem Gedicht. Diese Dinge gehören seinem Glauben, denn er ist kein Wahrheitssucher, sondern ein Lügensucher. Die Lüge aber entdeckt er bei jeglicher Vermengung schöpferischer und unschöpferischer Dinge in unserer Zeitwelt. So entsteht eine neue Antithetik, wobei die künstlerische Tat hier nicht in der Vereinigung, sondern in der striktesten Trennung des Gegensätzlichen besteht. Hier führt der erstrebte Weg nicht von der Trennung zur Vereinigung, sondern von der Vermischung zur Trennung. In der Sphäre des Gedanklichen heißt diese Antithese bei Kraus: Wesen — Schein — Sein — Können, Schöpfung — Welt, Ewigkeit — Zeit. Er geht der Geschlechtsjustiz zu Leibe und brandmarkt sie als eine Vermischung von Sittlichkeit und Kriminalität; er bekämpft den modernen Krieg und entlarvt ihn als eine Vermischung von Kommerz und Heldentum; er bekämpft dessen Kriegstechnik als eine Vermischung von Wissenschaft und Mord; er bekämpft den Feuilletonismus als eine Vermischung von Literatur und Presse, von Ausdruck und Information; er greift jegliches Kunstgewerbe an als eine Vermischung von Zweck und Ornament. So wird ihm alles zur Antithese, und deren oberste, die Antithese der Antithesen, ist ihm sein schicksalhafter Gegensatz zu dieser Welt. Dieses alles ist sein Gedanke, sein Thema und also auch das Thema seiner Dichtung.

„Worte in Versen“ nennt er seine Lyrikbände; Worte können auch in Prosa stehen, doch in Versen sind sie, dieselben, offenbar zugleich andere geworden — ebenso wie Füße im Tanz andere sind als Füße im Schritt: nicht mehr bloß der Fortbewegung dienend. Die Gefühlslage dieser Worte in Versen reicht von Epigramm und Couplet bis zur Hymne. Die Technik des Rhythmus und Reimes erreicht in ihnen eine neue Vergeistigung, hat doch Kraus für den Reim das wunderbare Wort gefunden: „Er ist das Ufer, wo sie landen, sind zwei Gedanken einverstanden.“ Erstaunlich sind auch die metaphysischen Ausblicke, durch die, wie durch Wolkenlücken, ein Licht fällt, zum Beispiel: „War dies die Absicht, als du Tod und Leben zu seligem Unterschied erfunden hast?“ Und wie zauberisch arielhaft sind z. B. die Zeilen:

„Und der Wind befiehlt, damit leichtbeschwingt alles in der Luft heute mir gelingt.“

Wunderbar auch, wie sich in manchen Gedichten, z. B. in „Nächtliche Stunde“, die volksliedhafte Einfachheit mit gedanklicher Lucidität verbindet.

Es ist mir kaum ein Gedichtwerk der Weltliteratur bekannt, in dem sich das ganze Leben, in Kirche und Markt, in Liebe und Haß, in Andacht und Zorn, in Lachen und Mitleid, in Träne und Spott, so vollkommen, in einer so vollkommen schönen Sprache ausspricht. Mit dieser Ausgabe der „Worte in Versen“, welche die neun Gedichtsbände zu einem kostbaren Buche vereinigt, hat sich der Kösel-Verlag ein neues Verdienst um Karl Kraus, der nun als großer Lyriker dasteht, erworben. Es gibt Bücher, welche ihrem Reichtum nach die Fähigkeit haben, einzige Bücher zu sein, d. h. mit denen ein Mensch jahrelang als seinem einzigen Freunde Umgang haben kann, ohne doch seiner müde zu werden. Solche Bücher sind etwa der Don Quichotte oder der Faust oder Boewells Life of Johnson. Ich halte diese „Worte in Versen“, deren Einzelbände ich seit Jahren kenne, für solch ein einziges Buch.

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